| # taz.de -- Essay Atompolitik der Ukraine: Der Traum vom Nuklearen | |
| > Das Land ist heute noch vom Erbe der Sowjetunion geprägt. Die | |
| > Begeisterung für Atomkraft hat die politischen Umbrüche bruchlos | |
| > überdauert. | |
| Bild: In der Atomanlage in Saporischschja: Ende 2014 wurde hier ein Alarm ausge… | |
| Nach der Annexion der Krim beschränkte sich die russische Armee darauf, die | |
| örtlichen Aufständischen und die aus ganz Russland herbeigeeilten Kämpfer | |
| im Donbass zu unterstützen, ohne einen wirklichen Eroberungskrieg zu | |
| unternehmen. Offenbar ist Russland militärisch so schwach, dass es in den | |
| rebellischen Operettenrepubliken nicht einmal in seinem Sinne Ordnung | |
| schaffen kann. Wenn in der EU und der republikanischen Opposition in | |
| Amerika militärische Härte eingefordert wird, ist das rational vertretbar. | |
| Für Westeuropa verhängnisvoll wären die Folgen eines richtigen Krieges | |
| gleichwohl, denn Russland ist immer noch eine starke Atommacht. | |
| Mit der Auflösung der Sowjetunion 1991 wurde die Ukraine zur nach den USA | |
| und Russland drittgrößten Atommacht der Welt. Nachdem die USA, | |
| Großbritannien und Russland 1994 in Budapest der Ukraine gesicherte Grenzen | |
| zugesagt hatten, übersandte sie Russland bis 2002 nach und nach ihre | |
| Atomwaffen. Gegenstimmen gibt es gerade jetzt: Man hätte die Raketen | |
| behalten und sie nach Osten drehen sollen. Forderungen, die Produktion von | |
| Atomwaffen wiederaufzunehmen, wurden im Westen bislang ignoriert. | |
| Unrealistisch wären sie aber nicht. Denn in der Ukraine wurden | |
| Mittelstrecken- und Langstreckenraketen einschließlich ihrer atomaren | |
| Sprengköpfe industriell gefertigt und in Stellung gebracht. Die | |
| entsprechende Kompetenz gehört zum sowjetischen Erbe der ukrainischen | |
| Wissenschaftler und Techniker. | |
| Im zivilen Bereich ist dieses sowjetische Erbe noch präsenter. Die | |
| Begeisterung für Atomkraftwerke und die Überzeugung, sie seien fast | |
| vollkommen sicher, haben die politischen Umbrüche bruchlos überdauert. Alle | |
| politischen Richtungen der Ukraine unterstützen die Modernisierung und den | |
| Ausbau der Atomanlagen. Der GAU von Tschernobyl im Jahre 1986 löste keine | |
| wahrnehmbaren Gegenströmungen aus. | |
| Heute erscheint er sogar als Vorteil: Die fast menschenleere Sperrzone um | |
| die seit 2002 abgeschalteten Reste der Anlage soll nun für | |
| Wiederaufbereitungsanlagen und die Zwischenlagerung von strahlendem Müll | |
| genutzt werden. Der Konflikt mit Russland hat das Atomprogramm kaum | |
| irritiert oder verzögert. Russland hat mit der Annexion der Krim ohnehin | |
| nur einen kleineren Forschungsreaktor in Sewastopol erworben. Die großen | |
| Anlagen liegen weit außerhalb der Sezessionsgebiete. | |
| ## Die Ukraine, bettelarm | |
| Fast 50 Prozent der ukrainischen Energie kommen heute aus 15 Reaktoren auf | |
| vier Standorten: Riwne, Saporischschja, Chmelnyzkyj und „Südukraine“ bei | |
| Mikolajiw. Der Reaktor 6 in Saporischschja hatte am 28. November einen | |
| offenbar kleineren Störfall, [1][der die Medien erreichte]. Er ist der | |
| größte Reaktor in Europa; der zweitgrößte befindet sich im französischen | |
| Gravelines bei Dünkirchen. Überall sind Reaktoren seit den frühen achtziger | |
| Jahren im Betrieb, teilweise auch neuere; der letzte wurde 2004 in | |
| Chmelnyzkyj angefahren. Viele müssen allerdings nach europäischen Normen | |
| erneuert werden, neue werden gebaut oder sind geplant. | |
| Die bettelarme Ukraine kann das alles aber nicht finanzieren. Die EU steht | |
| mit großzügigen Krediten bereit. Zuständig für die ukrainische | |
| Atomwirtschaft ist seit 2006 die Holding Ukratomprom, die dem | |
| Energieministerium untersteht. Sie bündelt sechs staatliche Unternehmen, | |
| deren wichtigstes Energoatom ist, das seit 1996 rundum für die | |
| Atomkraftwerke zuständig ist – von der Projektierung über den Bau und die | |
| Sicherheit bis hin zur Ausbildung. | |
| Bis 1991 war die ukrainische Atomindustrie vollständig in die sowjetischen | |
| Strukturen integriert. Die Anlagen entsprachen nur in einem Fall dem Bautyp | |
| des Unglücksreaktors von Tschernobyl. Technisch bestand die Sowjetunion | |
| also weiter. Die Brennstoffe und der Atommüll wurden entsprechend | |
| logistischen Planungen hin- und hertransportiert. Dieser sowjetische | |
| Zusammenhang umfasste – in kleinem Maßstab – auch die ehemaligen | |
| Satellitenstaaten, die die grundsätzliche Atombegeisterung beibehielten. | |
| Sie widersprach ja auch nicht den europäischen Strategien – sieht man von | |
| Deutschland und Österreich ab. | |
| ## Loslösen aus sowjetischen Zusammenhängen | |
| Als die Sowjetrepubliken von Verwaltungseinheiten zu Nationalstaaten | |
| mutierten, wurden bislang innerstaatliche Zusammenhänge zu solchen | |
| grenzüberschreitenden Austauschs. Die Ukraine war nicht besser oder | |
| schlechter als Russland, sie war sowjetisches Kerngebiet. Nun exportierte | |
| die Ukraine Uran nach Russland, wo es aufbereitet und zurückexportiert | |
| wurde. Russland verkaufte Anlagen an die Ukraine, die Ukraine andere nach | |
| Russland, zum Beispiel Turbinen. | |
| Mit den Nationalstaaten entstanden nicht nur zollrechtliche, sondern auch | |
| monetäre Fragen. Was vorher nur betriebswirtschaftlich kalkuliert wurde, | |
| erschien nun zusätzlich als Problem internationaler Wirtschaftsbeziehungen. | |
| Und zu deren Erleichterung schienen die Beziehungen zur EU und die zu | |
| Russlands angestrebter „Eurasischer Wirtschaftsunion“ naheliegend, aber | |
| inkompatibel – unabhängig vom scheußlichen Charakter Putins oder der | |
| widerlichen Dekadenz des Westens. | |
| Wie beim Erdgas gab es für Russland keinen Grund mehr, nur subventionierte | |
| Inlandspreise zu fordern. Im Kapitalismus erwirtschaftet man Gewinne. Die | |
| Gegenforderung nach „gerechten Preisen“ ist marktwirtschaftlich keine | |
| denkbare Größe. Damit war es aus westlicher Perspektive klar: Die Ukraine | |
| musste auch atomar aus den sowjetischen Zusammenhängen gelöst werden, ohne | |
| den Ausbau der AKWs zu behindern. | |
| ## Schlüsselbegriff Diversifikation | |
| Bemerkenswert war dabei, wie diskret dieser Gegensatz behandelt wurde. | |
| Selbst nationalistische Politiker interpretierten den GAU von Tschernobyl | |
| nicht als versuchten russischen Genozid an den Ukrainern. Den Anlagen in | |
| der Ukraine wurde auch keine typisch russische Schlamperei oder technische | |
| Inkompetenz vorgeworfen. Das hätte unnötige Sorgen vor weiteren | |
| Katastrophen oder Zweifel an der Atomtechnik wecken können. | |
| Ein Schlüsselbegriff der Auseinandersetzung war und ist Diversifikation: | |
| Ein einzelner Anbieter schafft zu große Abhängigkeiten, ohne Wettbewerb | |
| kein Markt. Daher verlangte die EU, die Länder, die bislang nur auf | |
| russische Technik ausgerichtet waren, sollten auch andere Anbieter in | |
| Betracht ziehen. Russische Firmen sollten nur gewählt werden, wenn | |
| westliche keine entsprechenden Produkte anböten. | |
| Einziger ernsthafter Wettbewerber war dabei die amerikanische Firma | |
| Westinghouse Electric, die seit 2006 zum japanischen Toshiba-Konzern | |
| gehört. Sie ist wie ihre russische Konkurrenz, die Holding Rosatom, rundum | |
| zuständig: darunter für die Projektierung, den Bau, die Sicherheit, den | |
| Rückbau und die Ausbildung. In der EU hängt die Hälfte aller AKWs von | |
| Westinghouse-Technik ab; 54 der 58 französischen AKWs arbeiten mit | |
| Westinghouse-Lizenzen. Die Brennstäbe werden in Schweden und Großbritannien | |
| gefertigt. Für die Durchsetzung der Diversifizierung setzte sich das | |
| Unternehmen vor allem in Brüssel ein. Anders als Bulgarien oder die | |
| Slowakei gehört die Ukraine zwar noch nicht zur EU, aber sie richtet sich, | |
| soweit möglich, schon nach deren Vorgaben. | |
| ## Russland als starker Konkurrent | |
| Bis 2007 produzierte Westinghouse Brennstäbe auch für den russischen | |
| Reaktor WWER-440. Dann konnte es preislich nicht mehr mit dem russischen | |
| Anbieter konkurrieren, weil, wie der plausible Vorwurf lautete, die | |
| russische Seite durch verschleiernde Preisgestaltung eine Dumpingstrategie | |
| verfolge. Also solle die EU in ihrem Herrschaftsbereich für saubere Regeln | |
| sorgen, die Diversität garantierten; bei der Gestaltung der EU-Regeln | |
| können kompetente Firmenvertreter beraten. | |
| Russland indes sorgt sich um mögliche technische Gefahren. So hätten | |
| ukrainische Ingenieure Westinghouse vorgeworfen, dass seine Brennstäbe mit | |
| quadratischer Grundfläche nicht in die Reaktoren russischer Bauart passten, | |
| die für sechseckige Brennstäbe vorgesehen seien. Westinghouse warf den | |
| Ingenieuren technische Inkompetenz vor. | |
| In der globalen Atomwirtschaft ist Russland trotz seiner sonstigen | |
| ökonomischen und militärischen Schwäche ein starker Konkurrent. Auch wenn | |
| seine Vormacht in der Ukraine und der östlichen EU zu bröckeln beginnt, ist | |
| es auf den einschlägigen Märkten dynamischer vertreten als die großen | |
| westlichen Atomnationen – so in der Türkei, dem Iran, in Indien und selbst | |
| in China. Nach Einschätzung des US-Handelsministeriums baut Russland etwa | |
| 37 Prozent der neuen Atomanlagen auf der Welt, China 27, die USA nur 7 und | |
| Frankreich 8 Prozent. Russland selbst will seine eigene Produktion | |
| erheblich steigern – bis 2030 auf 25 Prozent seiner Energieproduktion. Die | |
| Zahl der AKWs soll dafür von 31 auf 59 erhöht werden. | |
| Deutschland spielt wegen seiner Energiewende bei alldem keine Rolle. Den | |
| Widerstand gegen diese Wende aber wird die Ukraine nach ihrem Beitritt zur | |
| EU erheblich verstärken. | |
| 2 Jan 2015 | |
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| Erhard Stölting | |
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