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# taz.de -- Umkämpfte Gebiete in der Ukraine: Ein absurdes Theater
> In den Regionen Donezk und Luhansk geht der Krieg weiter. Sie sind
> nunmehr geteilt. Ein Reisebericht von beiden Seiten der Front.
Bild: Zerstörtes Haus in Semenivka, in der Region um Donezk.
Kaum ein Krisengebiet ist so unübersichtlich wie der Osten der Ukraine. Die
Regionen Donezk und Luhansk sind geteilt. Die Separatisten haben auf dem
Gebiet sogenannte Volksrepubliken errichtet. Wie geht es den Menschen auf
beiden Seiten der Front? Der Bürgerrechtler Wolfgang Templin war Anfang
Dezember auf einer Beobachtermission unterwegs. Er schildert seine
Eindrücke und Erkenntnisse in einem Reisebericht, den die taz dokumentiert.
Wer in die umkämpften Kriegsgebiete im äußersten Osten der Ukraine reisen
will, kann sich keinen besseren Begleiter wünschen als Oleg Orlow. Anfang
Dezember machen wir uns mit ihm von Charkow aus auf den Weg. Orlow ist
unter den Experten von Memorial, dem Moskauer Menschenrechtszentrum, der
mit der meisten Erfahrung. Seit dem ersten Tschetschenienkrieg, der 1994
begann, ist er im Kaukasus unterwegs, die Ukraine kennt er von zahlreichen
Aufenthalten. Mit Jewheni Sacharow, dem Leiter der Charkower Human Rights
Protection Group, verbindet ihn eine langjährige Freundschaft.
Seit vergangenem Frühjahr existiert eine kleine Beobachtermission von
Nichtregierungsorganisationen aus der Ukraine, Deutschland und Russland, um
die Menschenrechtslage im Osten der Ukraine einzuschätzen. Die Mission wird
von der Charkower Gruppe vorbereitet und getragen. Der „Europäische
Austausch“, eine kleine Berliner Organisation, hatte meine Frau Christiane
und mich kurzfristig angefragt, daran teilzunehmen. Im November hatte uns
eine Reise in die Region Luhansk geführt.
Jetzt sind wir in der Region Donezk unterwegs, wo die schwersten Kämpfe
getobt hatten und wo, wie im Luhansker Gebiet, der von Russland in Gang
gesetzte Krieg weiter anhält. Nahezu jeden Tag meldet die ukrainische Seite
neue zivile und militärische Opfer.
Beide Regionen sind durch das Minsker Waffenstillstandsabkommen seit Anfang
September geteilt. Seitdem spielt sich dort ein grausames und zugleich
absurdes Theater ab. Keine einzige Vereinbarung des Abkommens wird von den
Separatisten oder ihren russischen Hintermännern eingehalten.
## Bewegungen an der Grenze
Über die russische Grenze strömt weiter militärisches Personal und schwere
Waffentechnik in die von den Separatisten besetzten Gebiete. Der
logistische und finanzielle Nachschub hält die Volksrepublik genannten
Kunstprodukte in Luhansk und Donezk am Leben. Neben Angehörigen russischer
Spezialeinheiten, die das Rückgrat der Separatisten ausmachen und von
Einheimischen ergänzt werden, wimmelt es vor tschetschenischen Söldnern,
die Ramsan Kadyrow, Moskaus Mann in Grosny, geschickt hat. Sind sie nicht
im Kampf mit den ukrainischen Truppen, terrorisieren sie auch die
Zivilbevölkerung und verschaffen sich mit Plünderungen ein Zubrot zum Sold.
Artillerieattacken auf die ukrainische Seite treffen militärische
Einrichtungen, aber auch Wohnhäuser. Auch vom Rückzug schwerer Waffen aus
der sogenannten Pufferzone kann keine Rede sein. Unsere Netzrecherchen,
Gespräche in Charkow und direkt auf der Reise liefern uns zahlreiche
Informationen dazu.
In Debalzewo und Popasne, die unweit von Donezk auf der ukrainischen Seite
unmittelbar an der Front liegen, sind wir dann vor Ort mit den Folgen
solchen Beschusses konfrontiert. Die Raketen sollten wahrscheinlich ein
ukrainisches Militärlager treffen, landeten aber in einer Schule und in
einem Kindergarten. Zum Glück war es Sonnabend, als sie einschlugen, und
niemand hielt sich dort auf. Allerdings starb ein älterer Mann aus der
Nachbarschaft bei dem Beschuss.
Wenige Tage später trafen Salven aus Grad- und Smertsch-Raketen mitten in
der Nacht eine Siedlung mit kleineren Häusern. Wir sprechen mit Einwohnern,
die völlig verstört vor den Trümmern ihrer Häuser stehen, von Nachbarn
umringt. Klar ist nur, dass der Beschuss von „drüben“, der anderen Seite,
kam. Wen sollen die Bewohner, die in bitterer Kälte vor zerborstenen
Fassaden stehen, nun verwünschen oder verfluchen? Neben den Terroristen und
Soldaten leben auf der anderen Seite ja auch jede Menge Zivilisten, von
denen sie viele kennen. Ganze Familien sind durch den nichterklärten Krieg
auseinandergerissen. Wer ist wessen Feind?
## Pseudostaat der Separatisten
Ohne dass die militärischen Provokationen aufhörten, gibt es seit November
einen von Moskau gesteuerten Strategiewechsel in den Hochburgen der
Separatisten. Ein Teil der aus Russland stammenden Führung der Separatisten
ist in den Hintergrund gerückt, darunter Leute mit langjähriger
FSB-Erfahrung wie Igor Girkin alias Strelkow (Schütze). An ihre Stelle sind
nun möglichst präsentable Personen aus den Reihen der einheimischen
Separatisten getreten.
Damit wie mit den Scheinwahlen Anfang November wird ein Zustand von
Pseudostaatlichkeit zementiert, der in der Konsequenz nur den Krieg am
Leben erhalten kann. Doch in der „Volksrepublik Luhansk“ konkurrieren
verschiedene Clanchefs untereinander, es herrschen weiter blankes Chaos und
offener Terror. Dort bahnt sich eine humanitäre Katastrophe an.
Im besser organisierten Donezker Teil des Separatistengebietes ist man
dagegen bemüht, den Anschein von Normalität herzustellen. Es existieren
Ministerien, in den Verwaltungen gibt es Ansprechpartner, eine
Informationsministerin suggeriert ausländischen Journalisten, sie könnten
unbehelligt arbeiten, solange sie keine „feindliche Propaganda“ betrieben.
Informationen über den südlichen Teil der Separatistengebiete haben wir von
befreundeten Korrespondenten und aus anderen Recherchen. Auf der Reise
ergänzen wir sie durch Berichte von Einwohnern von der ukrainisch
kontrollierten Seite, die Kontakte nach drüben haben und den weiter
existierenden Bus- und Zugverkehr nutzen.
## Ein Mammutprogramm
Es ist ein Mammutprogramm, das wir in wenigen Tagen absolvieren. Die
ukrainische Seite ist mit allen Kräften bemüht, die Normalität tatsächlich
herzustellen, die die Separatisten vorzuspielen versuchen. In den
Gesprächen in Kramatorsk, Artjomowsk, Konstaninowka und anderen kleineren
Orten geht es um die Versorgung und Unterbringung der Flüchtlinge, den
Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur, die Arbeit der Verwaltungen und
das zivile Leben unter den Bedingungen des fortdauernden Kriegszustandes.
Es wurde ein neuer Zivilgouverneur eingesetzt, der mit den evakuierten
Teilen der Verwaltung jetzt in Kramatorsk sitzt. Er versucht, den
proukrainischen Teil der Zivilbevölkerung zu sammeln und um Loyalität zu
werben. Am Beispiel der Flüchtlinge zeigt sich, wie entscheidend die
Unterstützung durch Freiwilligeninitiativen ist, die sich seit dem vorigen
Frühjahr in großer Zahl gebildet haben. In Charkow wie in anderen Zentren
existieren auf Bahnhöfen und an Busstationen Anlaufpunkte, sie vermitteln
einen ersten Kontakt zu Quartieren, Sozialdiensten und zur Verwaltung.
Trotz aller Bemühungen kann von wirklicher Normalisierung nicht die Rede
sein. In manchen Städten sind nahezu alle Betriebe geschlossen und die
Menschen arbeitslos. Die Beseitigung der Kriegsschäden zieht sich hin. Die
Versorgung mit Heizung und Licht erfolgt oft nur eingeschränkt. Die
Entscheidung der Kiewer Regierung, Rentenzahlungen und Sozialleistungen für
die Bewohner der besetzten Gebiete auszusetzen, trifft auf Kritik, weil das
die Opfer in Haftung nimmt.
Wie das Leben während der Besetzung durch die Separatisten ablief und was
sich seitdem verändert hat, berichten uns zahlreiche Gesprächspartner. Wir
treffen mit Redakteuren von Lokalzeitungen, mit Menschenrechtsaktivisten
und Angestellten zusammen. Als Patrioten, die biografisch auf das Engste
mit dem Donbass verbunden sind, waren sie im Frühjahr zum Teil in akuter
Lebensgefahr, mussten untertauchen und versuchten dennoch weiterzuarbeiten.
Kollaborateure verrieten sie an die Separatisten, während Bürgermeister,
die sich notgedrungen mit den neuen Herren arrangierten, umgekehrt das
Schlimmste für sie zu verhindern suchten.
## Die Sicht der Patrioten
Was sollte man nach dem Rückzug der Separatisten mit
Verwaltungsangestellten machen, die sich ohne Not voll angedient hatten,
mit Milizionären, die ihr Heil in der Flucht suchten und vorher noch die
Waffenlager an die Separatisten übergaben? Welcher Beteuerung, doch
eigentlich für den ukrainischen Staat zu sein, konnte man trauen?
Einige Ältere unter unseren Gesprächspartnern gehörten noch zur
demokratischen Opposition der siebziger und achtziger Jahre, die auch in
der Ostukraine ihre Helden und Märtyrer hatte. An der Redaktionswand der
von Andrej Romanenko herausgegebenen Kramatorsker Nachrichten sehe ich
Bilder von Wasyl Stus, dem Poeten und Oppositionellen aus Donezk, der mit
seinen Gefährten 1986 im sowjetischen Straflager umkam. Es gibt die
Geschichte und die Legenden des industriellen Donbass, und zugleich hat die
Großregion tausend verschiedene Gesichter.
Die zweieinhalb Jahrzehnte einer unabhängigen Ukraine haben der Region
nicht nur die Herrschaft von Mafiabanden und Oligarchen gebracht, nicht nur
eine im sowjetischen Lebensstil eingefrorene Bevölkerung geprägt, die sich
von den Separatisten überrumpeln und einfangen ließ. In dieser Zeit lebten
hier auch immer Menschen wie Andrej oder Volodymyr Berezin in
Konstaninowka, die an die Zukunft einer demokratischen und unteilbaren
Ukraine glaubten und sich dafür einsetzten. Volodymir, der eine kleine
örtliche Zeitung herausgibt und eine der ältesten ökologischen Initiativen
im Donbass begründete, macht uns wie viele andere deutlich, was für den
ukrainischen Staat im Donbass auf dem Spiel steht.
Die ukrainische Seite kann nicht hinter die Verhandlungspositionen von
Minsk zurück. Sie hat den beiden Regionen eine weitgehende Autonomie
zugesprochen, den Separatistengebieten einen zeitlich befristeten
Sonderstatus zugebilligt und den dazu bereiten Separatisten den Weg in eine
friedliche Reintegration geöffnet.
Eine Preisgabe der Regionen durch Kiew, wie manchmal vorgeschlagen, würde
kein Problem lösen und nur die Strategie Russlands aufgehen lassen. Die
friedliche Beilegung des Konfliktes und das Gelingen des Wiederaufbaus
werden mitentscheidend sein, ob der europäische Weg der Ukraine Realität
wird oder erneut nur ein Traum bleibt.
3 Jan 2015
## AUTOREN
Wolfgang Templin
## TAGS
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Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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