# taz.de -- Pop, Punk und Politik in Island: Die Möglichkeit einer Insel | |
> In Island laufen die Fäden von Gegenkultur und Politik zusammen. Die | |
> Do-it-yourself-Mentalität des Punk wird nun wichtig für die Gesellschaft. | |
Bild: Ein mit der Landesflagge bewehrter Isländer beim Protestieren vorm Parla… | |
REYKJAVIK taz | Der Boden unter den Füßen ist rutschig, glatt und gefroren. | |
Ein später Dezemberabend, der Flughafen-Shuttlebus schmeißt mich im Zentrum | |
von Reykjavík raus. Die isländische Hauptstadt liegt unter einer 30 | |
Zentimeter dicken Schneedecke. | |
Ein strenger Ostwind umweht die „Rauchbucht“, wie man den ältesten | |
besiedelten Ort des Eilands übersetzt nennen würde. Es ist arschkalt. | |
Immerhin hat uns die Stewardess der einheimischen Fluggesellschaft die | |
warmen Worte mit auf den Weg gegeben: „Welcome to our beautiful country!“ | |
Den Bewohnern dieses wunderschönen Landes bleiben in dieser Jahreszeit nur | |
wenige Stunden Tageslicht: Am nächsten Morgen geht die Sonne erst um elf | |
Uhr auf, vier Stunden später beginnt es schon wieder zu dämmern. Der Schnee | |
sorgt für Helligkeit, auch für Schönheit; der zugefrorene See Tjörnin liegt | |
inmitten von Reykjavík wie ein gemaltes Winteridyll vor dem Rathaus. Die | |
Flocken fegen kurz darauf die Küste entlang in Richtung des Konzerthauses | |
Harpa. Das im Jahr 2011 erbaute Gebäude, ein grünbläulich schimmernder | |
Glasbau, in dem Pop und Klassik gespielt werden, ist der neue Stolz der | |
Stadt. | |
Reykjavík liegt an den unterkühlten Wintertagen alles andere als | |
ausgestorben da. Die Bars auf der Flaniermeile, dem Laugavegur, sind gut | |
gefüllt, die Scheiben sind beschlagen; jeder dritte Laden scheint ein Café | |
oder eine Kneipe zu sein. Aus manchen schallt laute Musik. | |
Touristengrüppchen sammeln sich an den Straßenecken. | |
Dieses Land, mit ihm die Hauptstadt, in deren Großraum zwei Drittel aller | |
Isländer leben (gut 200.000 Menschen), lag vor gut sechs Jahren noch am | |
Boden. Dabei hatte sich Island doch gerade erst neu erfunden! Von Jahrzehnt | |
zu Jahrzehnt war es hipper geworden, auch und vor allem in Sachen | |
Populärkultur: Dank Künstlerinnen und Künstlern wie den Sugarcubes, Björk | |
und Sigur Rós war Island zu einem Hotspot des Pop geworden. | |
## Aus der Asche springen | |
Dann aber kam das Jahr 2008. Mit ihm kamen die Bankenpleiten und das | |
verbrannte Geld, die Zwangsverstaatlichung der Geldinstitute. Im Verhältnis | |
zur Bevölkerungszahl gilt der ökonomische Crash als der größte, den je eine | |
Nation hinnehmen musste. Und nur wenige Jahre später erlebt man ein | |
selbstbewusstes, ein optimistisches Land. Woran liegt das? | |
„Es gibt den populären Mythos einer Nation, in der nach einer Bankenkrise | |
plötzlich die kreativen Industrien aus der Asche sprangen, die bösen Männer | |
hinter Gitter brachten und das Land mir nichts, dir nichts retteten“, sagt | |
Sigtryggur „Siggi“ Baldursson, der einst mit Björk zusammen bei den | |
Sugarcubes spielte und heute Chef der Agentur Iceland Music Export (IMX) | |
ist, die den isländischen Pop im Ausland promotet. | |
„Das ist natürlich so nicht wahr“, sagt der 52-Jährige. In der Krise hät… | |
die Kreativen einfach weiter das gemacht, was sie immer gemacht hätten. Nur | |
wurden sie plötzlich interessant für das Land: „Sie erschufen ja quasi | |
Dinge und Produkte aus dem Nichts!“, sagt Baldursson. | |
Er ist mit seiner schwarzen Hornbrille, den Stiefeln und der bunten | |
Stoffmütze der Typ netter, gealterter Indie-Onkel, den ich in einem Café | |
treffe. Er nippt an einem Leitungswasser und lacht verschmitzt, wenn er | |
über die Professionalisierung des isländischen Musikbetriebs spricht, für | |
die er ein gutes Beispiel ist. „Wir waren vorher doch auch nur ein Haufen | |
Künstlertypen, die rumhingen.“ Eigentlich sagt er: „Farting around.“ | |
## 40 Musikfestivals im Jahr | |
Die einstigen Rumhänger stellen inzwischen einen wichtigen | |
Wirtschaftsfaktor dar und sind – neben den Vulkanen und dem Polarlicht – | |
Grund dafür, dass der Tourismus zuletzt um mehr als 16 Prozent jährlich | |
zunahm. Denn die Besucher kommen auch wegen zahlreicher Festivals ins Land | |
– das im Herbst stattfindende Iceland Airwaves ist das renommierteste | |
davon. Auch das ursprünglich spanische Sónar Festival und das All Tomorrows | |
Parties haben heute Ableger in Island. Insgesamt zählt das Land, das gerade | |
mal 323.000 Einwohner hat, etwa 40 Musikfestivals im Jahr. | |
Dass die Kreativen auch direkt zum Aufschwung beitragen, zeigt eine | |
Untersuchung aus dem Jahr 2011. Knapp 10.000 Menschen arbeiteten zu dem | |
Zeitpunkt im Kultursektor, gleichzeitig zählte man in diesem Bereich etwa | |
7.000 Unternehmen, Selbstständige oder Start-ups. 12,5 Prozent der | |
Steuereinnahmen des Vorjahres entstammten Umsätzen aus dem kreativen | |
Sektor. Heute dürften diese Werte allesamt höher liegen. | |
Ex-Sugarcube Baldursson erzählt, im vergangenen Jahr hätten isländische | |
Bands 1.460 Auftritte im Ausland gespielt, im nun abgelaufenen Jahr fast | |
ebenso viele. „Man braucht Zahlen und Statistiken“, das habe er gelernt. | |
Schließlich wolle man Einfluss auf die Kulturpolitik nehmen. „Die | |
politische Macht der Kreativen hier wächst“, glaubt deshalb Baldursson. | |
„Langsam verstehen die Politiker, dass die Künstler dem Land direkt und | |
indirekt viel Geld und Ansehen bringen.“ | |
Das ist kein Wunder, denn die alten Punks und Indie-Typen gingen zum Teil | |
selbst in die Politik. In Reykjavík kam mit der „Besten Partei“ (Besti | |
Flokkurrin) 2010 eine Kraft an die Macht, die mit „Die Partei“ in | |
Deutschland vergleichbar ist. Die Wahlversprechen? Kostenlose Handtücher | |
für alle in Schwimmbädern zum Beispiel. | |
Jón Gnarr, Islands bekanntester Komiker, wurde Bürgermeister der Stadt und | |
blieb es bis 2014. In der Ägide des „Clowns“, wie ihn etablierte Politiker | |
zunächst zu schmähen suchten, ging es bergauf. Er brachte die direkte | |
digitale Demokratie auf den Weg, sanierte die örtliche Energieversorgung | |
und das Straßenverkehrssystem und wollte aus Reykjavík einen Hort des | |
Friedens und der Freundlichkeit machen. Am Ende wollten die Bürger, dass er | |
bleibt. Nur er wollte nicht mehr. | |
## Punk im Marsch durch die Institutionen | |
Der Sohn des Exbürgermeisters sitzt mir nun in der Lobby eines der ältesten | |
Hotels der Stadt gegenüber. Er heißt: Frosti. „Ja, es ist mein Wetter im | |
Moment“, sagt er und lacht. Frosti Gnarr, 28 Jahre alt, ist Drummer der | |
nächsten aufstrebenden Bands des Landes, Fufanu. Er erklärt, wie die Fäden | |
von Gegenkultur und Politik in Island zusammenliefen. „Punk hat große | |
Auswirkungen auf die isländische Gesellschaft gehabt, die | |
Do-it-yourself-Mentalität ist wichtig in unserer Kultur.“ Punk im Marsch | |
durch die Institutionen also? Durchaus: Er sei stolz gewesen, als die | |
Ideale und die Mentalität des progressiven Flügels der Subkultur in der | |
Politik angekommen waren. | |
Punk und auch der Surrealismus, so sagt er wie fast alle hier, hätten das | |
Denken der Menschen in Island verändert. Nur dank dieser Wurzeln konnte | |
wohl eine einigermaßen gesunde Kulturindustrie erwachsen; bei kaum einem | |
Musiker hat man das Gefühl, die kommerzielle Verwertbarkeit beeinflusse die | |
kreative Arbeit inhaltlich. Einen spezifisch isländischen Sound gebe es | |
heute nicht mehr, glaubt der Schlagzeuger, der mit Fufanu Musik macht, die | |
zwischen Postpunk und Dark Wave anzusiedeln ist. „Was auch immer passiert | |
ist vielmehr ein Mix aus allen Genres.“ | |
Gnarr selbst spielt in drei Bands, er hat sich das Musikmachen – klar – | |
selbst draufgeschafft. Er schiebt sich ein Plättchen Snus, jene in | |
Skandinavien beliebten Tabakbeutelchen, hinter die Lippe, und lehnt sich | |
zurück. „Viele Menschen fühlen sich hier einfach sehr frei, Kunst zu | |
schaffen und Dinge zu kreieren.“ Als Sohn Frosti samt Band kürzlich als | |
Support von Damon Albarn in London spielte, postete Vater Jón auf Facebook: | |
„I’m so proud of him. Stay frosty!“ | |
Die Szene in Island ist so klein, dass jeder irgendwie mit jedem zu tun | |
hat. Mit Ásmundur „Ási“ Jónsson, dem Gründer des Labels Smekkleysa (Bad | |
Taste Records) und Plattenladeninhabers, treffe ich mich in einem Café auf | |
der Hauptstraße. Neben uns am Tisch sitzt zufällig Emiliana Torrini mit | |
Sohn und Nichte. Torrini ist die Frau, deren Song „Jungle Drum“ 2009 die | |
europäischen Radiostationen rauf und runter lief. Die Musikerin albert mit | |
ihrem Sohn rum. „Emiliana, spielst du eigentlich auch bald auf dem | |
Eurosonic?“, fragt Labelbetreiber Jonsson sie. Torrini verneint. Island ist | |
Mitte Januar Gastland beim niederländischen Showcase-Festival (siehe | |
Kasten). | |
## Urknall des neueren Pop | |
Jónssons Label könnte man als Urknall des neueren isländischen Pop | |
bezeichnen. Smekkleysa hat die ersten Aufnahmen der Sugarcubes 1986 | |
veröffentlicht. Der Labelbetreiber ist indes nicht ganz sicher, ob die | |
Politik die Relevanz der zeitgenössischen Musik für Island schon begriffen | |
hat. „Ich habe Schwierigkeiten zu akzeptieren, wie erfolgreich Island als | |
Musiknation inzwischen ist und wie hart das Leben hier vor Ort in der | |
Kreativbranche noch ist“, sagt er. Auch ein wenig Angst vor einem | |
politischen Backlash hört man aus so mancher Aussage heraus. | |
In Island regieren derzeit wieder die Selbstständigkeits- und die | |
Fortschrittspartei in einer Koalition (die unter anderem den EU-Beitritt | |
vorerst ad acta gelegt hat) – die gleiche Konstellation begleitete das Land | |
in den Bankencrash. IMX-Chef Baldursson sagt: „Von mir aus hätte die | |
Revolution gerne nachhaltiger sein dürfen.“ | |
Was das isländische Pop-Biz betrifft, macht er sich hingegen keine Sorgen. | |
Man versucht derzeit vor allem, das Geld im Land zu halten: Die Managements | |
der beiden jüngsten Erfolgsacts Of Monsters And Men und Ásgeir hätten nun | |
in Island ihren Sitz. Ein kleiner, aber wichtiger Schritt, wie er sagt. | |
Und, nicht zuletzt: „Wir haben eine starke Community hier in Island. Das | |
Vertrauen in diese kleine, aber feine Szene habe ich.“ | |
11 Jan 2015 | |
## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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