| # taz.de -- Islands fast vergessene Buchten: Die Westfjorde sind ein Mythos | |
| > Die Idee von Einsamkeit, vom einfachen Leben in extremer Umgebung prägt | |
| > bis heute das Selbstbild der Isländer. Aber leben möchte so fast niemand | |
| > mehr. | |
| Bild: Der Wasserfall Dynjandi (der Dröhnende) im Naturschutzgebiet in den West… | |
| Irgendwo in den Westfjorden löst sich das Straßengewirr, und es bleibt ein | |
| einziger Weg. Die Autoscheinwerfer erhellen Geröll und braune Grasbüschel, | |
| Felskanten durchstoßen die Schneedecke am steil abfallenden Hang. Die | |
| Eiskruste knirscht unter den Reifen. Am Rand der überfrorenen | |
| Schotterstraße blitzen Schafsaugen, die katzenartig das Licht reflektieren. | |
| Es geht bergab. In der Ferne ragen mächtige Felswände empor, kantig und | |
| rabenschwarz vor dem nachtblauen Himmel. | |
| In diesem Moment erinnert man sich an den Satz von Halldór Laxness: Die | |
| Menschen verließen die Fjorde im Westen, schrieb der isländische | |
| Literaturnobelpreisträger 1952, „weil es ihnen vor der gewaltigen | |
| Landschaft jener Gegenden graust“. Und es fühlt sich so an, als würden die | |
| Gipfel hinabblicken auf die Ödnis im Tal und den kleinen Scheinwerferkegel, | |
| der sich immer tiefer in die Dunkelheit bewegt. | |
| Wie kann man in diesen Fjorden leben? Die Frage stellen sich auch viele | |
| Isländer. Schon seit Laxness Zeiten ziehen die Menschen weg. Während sich | |
| die Einwohnerzahl Islands seit den Fünfzigern verdoppelte, halbierte sie | |
| sich in den Westfjorden. „Wer wohnt hier freiwillig? Wovon kann man hier | |
| leben? Wie ist es überhaupt möglich, hier zu leben!?“, schreibt Stadtmensch | |
| und Schriftsteller Huldar Breidfjörd in seinem Roman „Liebe Isländer“, der | |
| im Buchmesse-Jahr auch in Deutschland erschien. | |
| Er lässt seinen Protagonisten die gleiche Straße fahren, hinein in den | |
| Ísafjardardjúp. Er muss ähnlich gefühlt haben, als die Berge auf ihn | |
| herabblickten und er der Talstraße eine Stimme gab: „Wer glaubst du zu | |
| sein, Reykjavík-Bürschchen. Glaubst du, du kommst an mir vorbei!?“ | |
| Ganz tief im Djúp, kurz bevor sich die Bergflanke steil in Richtung einer | |
| hellen Gletscherzunge emporschwingt, glimmt ein einzelnes, gelbes Licht. Es | |
| ist das Haus von Tordur Halldórsson, ein flacher, eckiger Bungalow mit | |
| großer Fensterfront. In der Diele stehen zwei Reihen Schuhe. Seine Frau | |
| bringt gerade die beiden Kinder zur Schule, in das 400-Seelen-Dorf Hólmavík | |
| auf der anderen Seite des Bergpasses Steingrímsfjardarheidi. Sie arbeitet | |
| dort als Erzieherin. | |
| Wer die Westfjorde kennenlernen will, muss die Menschen kennenlernen – das | |
| war der Rat von Huldars Freunden in Reykjavík. Und Tordur kennt hier jeden: | |
| Er ist der Postmann im Ísafjardardjúp. Montags, mittwochs und freitags | |
| fährt er 280 Kilometer, um die Post für 15 Höfe auszuliefern. Ist das | |
| Wetter gut, nimmt er den kleinen Skoda. Wenn es schneit und stürmt, steigt | |
| er auf den Toyota-Jeep um. Er ist aber auch schon mit dem Schneemobil zur | |
| Poststation im 60 Kilometer entfernten Reykjanes gefahren, um die Briefe | |
| einzusammeln. „Die Leute verlassen sich auf mich“, sagt Tordur. | |
| Heute ist ein Tag für den Jeep: Minus fünf Grad, die Straße ist überfroren. | |
| Tordur streicht mit dem Finger über den Tablet-Computer auf dem | |
| Küchentisch. Die Webcams der Straßenwacht zeigen schwarze Fahrspuren im | |
| Schnee, zwischen den gelben Begrenzungspfählen. Das System registriert auch | |
| die Vorbeifahrten auf der Straße nach Hólmavík. Vier seit Mitternacht. „Das | |
| wart ihr, meine Frau, mein Nachbar und vielleicht noch ein Lastwagen“, sagt | |
| Tordur und grinst. | |
| Bergauf beschleunigt Tordur den schweren Geländewagen, und man ist dankbar | |
| – nur raus aus diesem düsteren Tal. Im Osten hellt der Himmel langsam auf. | |
| Wolken verschleiern die schneeweißen Bergspitzen in der Ferne, die | |
| nördlichsten Flanken des Ísafjardardjúp. Wo die Nordwinde aufprallen, sind | |
| die Felsen überfroren, eine Bergwindung weiter ist der Schnee schon | |
| geschmolzen. An einer Gebirgsflanke winden sich dampfende Flüsschen herab, | |
| dort sprießt grün in der steinigen Ödnis. Das ist das andere Gesicht der | |
| Westfjorde, das seit je Künstler und Schriftsteller hier hinauslockt. Die | |
| beinahe unberührte Natur. Ein menschenloser Fjord. | |
| ## Die Fähren sind verschwunden | |
| Ein Betonblock ragt aus dem Wasser, der Rest einer Anlegestelle. Früher | |
| verbanden Fähren die Höfe in der Region. „Damals lebten noch 200 Menschen | |
| allein auf unserer Seite des Fjords. Heute sind es noch 20“, sagt Tordur. | |
| Sein Großvater kaufte 1916 den Hof namens Laugaland, was so viel heißt wie | |
| „Land der heißen Quellen“. Tordurs Mutter Ása lebt noch im alten Farmhaus, | |
| das eines der ersten Steinhäuser in der Gegend war. Bis die verspätete | |
| Industrialisierung Island in den Fünfzigern erreichte, standen vielerorts | |
| noch die Tiere im Keller, um den Bewohnern Wärme zu spenden. „Im Winter | |
| haben die Bauern mit Schafskot geheizt und gegessen, was sich fermentieren | |
| ließ“, erzählt Tordur. | |
| ## Landwirtschaft ohne Zukunft | |
| Die Duldsamkeit und knorrige Entschlossenheit der Menschen auf dem Land – | |
| sie ist auch durch ihre Beschreibung in den Romanen von Nationaldichter | |
| Laxness zum Mythos geworden. Nur dass es kaum noch Bauern in den | |
| Westfjorden gibt. „Hier leben noch ein paar Dutzend Menschen. Und die | |
| meisten sind älter als ich“, sagt Tordur. Er ist 53. Tordur selbst hegt | |
| noch 140 Schafe. „Eigentlich mehr ein Lebensstil als profitable | |
| Landwirtschaft.“ Das seine Kinder mal übernehmen werden, glaubt er nicht. | |
| „Die Landwirtschaft hat hier als Erwerbsmodell kaum eine Zukunft.“ Er | |
| glaubt an einen anderen Weg: Tourismus. | |
| Nach einer halben Stunde Fahrt hält er vor dem Hotel Reykjanes. Zwei lang | |
| gezogene, graue Riegel, zwei Stockwerke hoch, davor ein dampfender | |
| Swimmingpool. Das Gebäude war früher mal eine Schule, jetzt starten von | |
| hier aus die Nordlichttouren für Touristengruppen. Auf dem Parkplatz stehen | |
| ein wuchtiger Benzintank, eine Zapfsäule und ein flacher Metallcontainer | |
| mit einer verglasten Eingangstür – die Poststation. Ein Versorgungslaster | |
| aus Reykjavík hält hier dreimal in der Woche und lässt die Sendungen da. | |
| Tordur packt ein Dutzend Briefe in die blaue Postbox, einen | |
| Landwirtschaftskatalog, ein Päckchen mit Amazon-Logo und einen großen Sack | |
| Hundefutter. | |
| ## Hier hängen geblieben | |
| Aus dem Hotel kommt ihm Jón entgegen, der Besitzer. Er hat breite | |
| Schultern, trägt Adidas-Shirt und Dreitagebart. Seine Hände sind rau. „Jón | |
| ist einer der komischen Typen, die tatsächlich hierhergezogen sind“, sagt | |
| Tordur mit matter Ironie in der Stimme. Jón hat die alte Schule renoviert | |
| und den Swimmingpool ausgebaut. Eigentlich sollte es nur ein Sommerjob | |
| werden, wie er sagt, „aber ich bin hier hängen geblieben.“ | |
| Vor sieben Jahren gab er seine Arbeit in Reykjavík auf und zog in die | |
| Westfjorde. Von Islands einziger Großstadt ins Nirgendwo. Bedrückt ihn das | |
| nicht manchmal? Jón zieht die Augenbrauen hoch. „Was genau?“ Die Berge? Die | |
| Einsamkeit? Jón zuckt mit den Schultern, schaut zu Tordur hinüber. „Die | |
| Leute denken, du bist allein. Aber du triffst hier vielleicht mehr Menschen | |
| als in Reykjavík.“ | |
| Natürlich ist Reykjavík mit rund 200.000 Einwohnern längst nicht so anonym | |
| wie die Metropolen dieser Welt. Dennoch verbindet sich für viele Isländer | |
| die Sinnsuche fast zwangsläufig mit der Stadtflucht. Zumindest in Gedanken. | |
| „Ich hatte die Nase voll davon, in Cafés zu sitzen und Latte macchiato zu | |
| trinken und koffeingetunte Pläne zu schmieden, die doch nie Realität | |
| wurden“, schreibt Schriftsteller Huldar Breidfjörd. Er hat inzwischen ein | |
| Sommerhaus in den Westfjorden. | |
| ## Im Schnee stecken geblieben | |
| Im Winter bleibt er lieber in Reykjavík. Ist vielleicht auch besser so. Vor | |
| ein paar Wochen hat Tordur ein Pärchen auf der Steingrímsfjardarheidi | |
| aufgelesen, das mit dem Wagen im Schnee stecken geblieben war. „Im Fiat | |
| über einen Gebirgspass“, sagt Tordur: „Du musst wach sein und weiter | |
| vorausdenken, wenn du auf dem Land lebst.“ | |
| Aber ist das nicht ein Paradox: Tourismus in einer Region, die von der | |
| Einsamkeit lebt? Den Einwand wischt Tordur beiseite. „Wir müssen kluge, | |
| nachhaltige Lösungen finden“, sagt er. Er selbst hat schon mal eine | |
| Pferdetour über den Gletscher geführt. Wandern, Kajaktouren, „kein | |
| Massentourismus“, sagt er. Alle würden sich wünschen, dass die Westfjorde | |
| ein einsamer, mystischer Ort bleiben. | |
| Als er wieder auf die Straße abbiegt, deutet er auf einen kleinen Verschlag | |
| am Rand des Hotelriegels. Aus dem Dach ragt ein breiter Schornstein: der | |
| Generator für die Höfe des Fjords. Falls im Winter der Strom ausfällt. „Auf | |
| dem Pass stehen ja immer noch Oberleitungen, obwohl die regelmäßig unter | |
| dem Schnee zusammenklappen“, sagt Tordur. Mobiles Internet kann man in den | |
| Fjorden vergessen. Selbst das Mobilfunknetz ist in einigen Regionen so | |
| schwach, dass Anrufe nicht durchkommen und SMS die Empfänger mit mehreren | |
| Stunden Verspätung erreichen. | |
| Seit der Finanzkrise wird die Talstraße nur noch an sechs Tagen in der | |
| Woche geräumt. Schon im Herbst ist sie an Samstagen oft geschlossen. Das | |
| spart nicht mal wirklich Geld, wie ein Sprecher des Wegedienstes freimütig | |
| einräumt – „wir müssen dann ja am nächsten Tag doppelt so viel Schnee | |
| wegschaffen. Aber Sie wissen schon, die Finanzkrise. Es hörte sich wohl gut | |
| an, um zu zeigen, wie straff Island spart.“ Und wenn es draußen zu | |
| stürmisch ist, bleibt die Straße auch dicht. | |
| ## Müllabfuhr erst in drei Wochen | |
| „Die lachen uns doch aus in Reykjavík“, sagt Tordur – und er meint damit | |
| nicht die Schriftsteller und Künstler, sondern die Politiker, die über | |
| Stromtrassen und Wegedienst entscheiden. Die, so empfinden es die Menschen | |
| hier, mit dem Finger auf die starrsinnigen Bauern in den Westfjorden | |
| zeigen. „Das ist der Grund, warum hier nichts vorangeht“, sagt Tordur. | |
| Niemand kümmere sich so recht um die Probleme in der Region. „Die Leute | |
| hören ,Westfjorde' und denken an Landleben und schöne Natur.“ Aber nicht | |
| daran, dass die Müllabfuhr manchmal nur alle drei Wochen kommt. | |
| „280 Kilometer für eine Handvoll Briefe!“, poltert Tordur. Warum er das | |
| macht? Warum er fährt, auch wenn er den Jeep nehmen muss, der so viel Sprit | |
| verbraucht, dass er fast nichts mehr verdient? „Es bedeutet, dass man | |
| selbst an diesem Ort im Internet bestellen kann. Dass jemand nach den alten | |
| Farmern sieht und auch mal eine Besorgung erledigt“, sagt er energisch. | |
| „Ich mache das, weil ich an das Leben in den Westfjorden glaube. Aber wir | |
| sind schon fast vergessen.“ | |
| Dann ist es lange still im Jeep. Draußen ziehen die Fjorde vorbei. Der | |
| Himmel ein aufgewühltes Wolkenmeer. Eine weiße Kapelle mit rotem Dach. | |
| Tordur springt nur kurz raus, um Briefe abzuliefern. Den | |
| Landwirtschaftskatalog für den Bauern. Hundefutter für die alleinstehende | |
| Dame, die mit 83 Jahren noch ihren Hof bewirtschaftet. | |
| ## 150 Schafe | |
| Ein alter Mann mit zersaustem grauem Haar und einem buschigen Vollbart | |
| bittet ihn auf einen Kaffee herein. „Sigurjón“, sagt er zur Begrüßung und | |
| reicht die knorrige Hand. Sigurjón sei inzwischen ein bisschen vergesslich, | |
| sagt Tordur. Eine Frau hilft ihm im Haushalt und kümmert sich um die Tiere. | |
| „150 Schafe“, sagt Sigurjón und nickt langsam. Auf manche Fragen antwortet | |
| er nur mit einem Lächeln oder einem Augenzwinkern. Wie er mit der | |
| Einsamkeit umgeht? Lächeln. Ob ihn die Landschaft, die Berge manchmal | |
| bedrücken? Augenzwinkern. Ob er nicht denkt, dass er vielleicht in der | |
| Stadt besser aufgehoben wäre? Lächeln. Kopfschütteln. | |
| Auf dem Rückweg brechen zarte Sonnenstrahlen durch die grauen Wolken. | |
| Tordur deutet nach oben: Ein Seeadler kreist über dem Wasser. Es ist nicht | |
| schwer, sich diesen Ort ohne Menschen vorzustellen. | |
| „Ich dachte es macht mir nichts aus, dass die Menschen wegziehen. Aber das | |
| stimmt nicht“, sagt Tordur. Ob er selbst manchmal darüber nachdenkt | |
| wegzugehen? „Ja, irgendwann verlasse ich die Westfjorde“, sagt er. Und dann | |
| ist da wieder dieses schelmische Grinsen. „Aber nur in einer Holzkiste und | |
| mit den Füßen zuerst.“ | |
| 26 Apr 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Urs Spindler | |
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