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# taz.de -- Die Wahrheit: Vom Winde verwehte Wattebällchen
> Neue Marketingkampagne in Biomärkten. Wie der gehobene Lebensmittelhandel
> aus der Serviceoase Deutschland wieder eine Servicewüste macht.
Mit einer winzigen Espressotasse in der erschlafften Hand schlurft der
bärtige junge Mann auf den Personalraum zu. Eigentlich sollte er seit zehn
Minuten an der Kasse sitzen. Doch erst einmal muss er einen Kaffee trinken
- oder zumindest das, was er dafür hält. Denn in der Tasse ist ein
Ersatzgetränk, versetzt mit einem Sedativum, das ihn noch langsamer macht,
als er es von Natur aus schon ist. Schließlich arbeitet er in einem
Biomarkt - und hier ist "flink" ein anderes Wort für "dösig".
Es ist früher Morgen, also 11 Uhr, in einem Berliner Biomarkt. In dem
umgebauten alten Kino aus der Zeit der Neuen Sachlichkeit herrscht alles
andere als geschäftige Atmosphäre. Hektisches Treiben kennt hier niemand.
Wie vom Wind verwehte Wattebällchen bewegen sich die Mitarbeiter von A nach
B und wieder zurück. Spricht man jemanden an, bekommt man allenfalls eine
limitierte Reaktion: "Mayonnaise? Ach, weiß nicht! Fragen Sie mal …",
überlegt die verhinderte Hilfskraft geistesabwesend und geht dann,
überwältigt von der Anstrengung, achselzuckend ab ins Nichts.
Bibel des Biohandels
"Herrlich, herrlich!", jubelt Justus Nock. Der renommierte Personaltrainer
und Marketingcoach aus Bad Kissingen hat den Weltbestseller "Von der
Serviceoase zur Servicewüste" geschrieben und überprüft nun an Ort und
Stelle die Auswirkungen seiner "Bibel des Biohandels", wie der Spiegel den
modernen Konsumklassiker nannte. Darin beschreibt der "Meister der
Entschleunigung" (Handelsblatt), wie die Biobranche "die Langsamkeit als
Alleinstellungsmerkmal" entdeckt und revolutioniert.
Der junge Bartträger mit der Tasse umkurvt derweil ein Brötchen mit dem
gemütlichen Namen "Kartöffelchen". Seit geraumer Zeit liegt es vor dem
Backwarenregal, aber "Bücken" ist hier ein Fremdwort. Und selbst für den
sportlichen Scherz, das Brötchen zur Seite zu kicken, ist der Schlenderer
zu schlapp.
Der Marketingmann Nock strahlt hingegen und erläutert die Szene: Damit die
allgegenwärtige Hektik des Konsumismus nicht bis in den Biomarkt vordringt,
sei es notwendig, ja geradezu Pflicht der Geschäftsleitung, die Mitarbeiter
in den biohandelsüblichen Dämmerzustand zu versetzen - aber
selbstverständlich nur mit einem garantiert biologisch abbaubaren
Betäubungsmittel.
Nocks neuester Kunde heißt LPG - die etwas andere Abkürzung für "Lahmes
Personal Garantiert". Wie jetzt an der Fleischtheke zu beobachten ist.
Unter fünfzehn Minuten Wartezeit kommt man hier nicht weg. Während man sich
die Beine in den Bauch steht, schnitzt der Nickelbrille tragende Metzger in
Zeitlupe den von glücklichen Tieren gewonnenen Aufschnitt zurecht. Trotz
seines martialischen Schlachterhemds wirkt er, als ob er lieber mit den
Kunden über aktuelle politische Ereignisse diskutieren würde, statt sich
mit seinen tierischen Produkten zu beschäftigen. Matt blickt er durch seine
intellektuell angehauchten Gläser, die eher vom Gang in den Kühlraum
vereist sind. Dort verschwindet der Feinmechaniker der Wurst gern
minutenlang, vermutlich um seine Tränen in einem Wehbecherchen aufzufangen,
damit das Salz auf seiner Haut den Geschmack der Leberwurst abrundet.
"Besser gehts nicht!", frohlockt Nock. "Ein Mann nach meinem Geschmack. Der
reinigt seine Messer bestimmt schon um 17 Uhr. Und danach gibts bei ihm
nichts mehr zu holen. Dabei macht der Laden erst um 21 Uhr zu!", freut sich
Nock, dass sein Konzept optimal aufgeht. Aber ist es nicht so, dass
normalerweise im Einzelhandel der Kunde König sei? In Biomärkten dagegen
fühle man sich wie der Abgesandte einer fremden Macht vom Stern
Verbraucher.
"Ja, aber das ist doch der Clou!", ruft Nock euphorisch. "In normalen
Supermärkten sind heutzutage alle höflich und nett, flitzen unter dem
enormen Druck der Verhältnisse umher. Effizienz bedeutet alles", erklärt
Nock. "Und wohin hat das geführt? Das System ist krank. Das Personal, die
Ware, die ganze Welt!", ereifert sich der adrette Enddreißiger, den die New
York Times einmal den "Slowfoot of organiconomics" nannte.
"Dann kamen die Biomärkte, und damit mein Geistesblitz. Können Sie sich
noch an früher erinnern: Wenn man in eine Bäckerei ging und von der
Verkäuferin angeraunzt wurde, die einen gelangweilt und herablassend
bediente und immer das Falsche einpackte. Ständig einen blöden Spruch auf
den Lippen, wenn man kein Kleingeld zur Hand hatte: ,Der Wille ist da, den
Rest regelt das Amtsgericht.' Das hatte noch Charakter! Wir haben es
geliebt." Für einen Moment scheint es, dass der Utopist Nock in Tränen
ausbricht. Doch dann erholt er sich und rappelt weiter.
"In den Biomärkten verkaufen wir heute den Kunden nicht nur neue Produkte,
sondern greifen auf diese althergebrachte Einstellung zurück: Die Tranigen
und Trödeligen, die Muffeligen und Griesgrämigen, die Faulen und
Phlegmatischen drohten von der immer schneller und effizienter rotierenden
Gesellschaft weggedrückt zu werden. Wir aber haben sie alle im Biogewerbe
untergebracht. Und dafür haben wir das fantastische Wort ,Entschleunigung'
erfunden!"
Mission für mehr Missmut
Nocks Begeisterung ist nicht gespielt. "Applaus! Applaus", ruft er lauthals
durch den Laden und schreckt damit ein paar gähnende Verkäufer auf. Der
Mann hat eine Mission. Und die gipfelt in seiner neuer Kampagne: die
"Gammeloffensive Deutschland 2015". So hat er sein bahnbrechend frisches
Konzept für die Biobranche genannt. Das Kernstück und Fundament der
"Gammeloffensive" ist das sogenannte Missmut-Training, in dessen Verlauf
den Teilnehmern vermittelt wird, wie man Kunden mit trägem und schlampigem
Service ans Geschäft binden und Umsätze stetig steigern kann. Im Rahmen der
Kampagne können sich Unternehmen zu Missmutbotschaftern zertifizieren
lassen und offiziell mit dem Siegel "Wir sind dabei! Service mit Missmut!"
werben. Firmen bekommen speziell ausgebildete interne Gammel-Coaches.
Schließlich winkt die Aufnahme in das überregionale Bündnis
"Gammeloffensive Deutschland".
Schlange vor der Kasse
"Apathie ist das i-Tüpfelchen auf der Serviceleistung", schließt Justus
Nock seinen spannenden Vortrag. Der ihm etwas langatmig geraten ist. Aber
er hat Zeit genug, denn er steht in einer endlosen Schlange vor der Kasse.
Selbstverständlich ist nur eine geöffnet, obwohl mittlerweile an der
zweiten der junge Bärtige im grünen Pollunder sitzt - zur Säule erstarrt.
Ob das die Folgen des Betäubungsmittels sind oder nur ein gesunder
Mittagsschlaf, ist nicht auszumachen. Vor ihm funkelt ein imposantes
Schild: "Andere Kasse nutzen. Oder gleich nach Hause abdampfen!"
Der große Entschleuniger Justus Nock strahlt. Dieser vor sich hin dämmernde
Kassierer ist ein Juwel für ihn, der Inbegriff der schönen, neuen
Handelswelt, die hinter schwer herabhängenden Plastikwindfängen beginnt und
sich in einer anderen, dunklen Zeitzone befindet, sodass selbst einem
lebhaften Geist wie dem Autor dieser Zeilen das Gehirn einzuschlummern
droht, obwohl er ursprünglich nur vorhatte, einen kurzen, schnellen Artikel
zum Thema "Trutschige Biomärkte" zu verfas- …
Hier bricht der Text ab. Wie Recherchen der Redaktion ergaben, steht der
Autor immer noch in der Schlange an der Kasse.
7 Feb 2015
## AUTOREN
Michael Ringel
## TAGS
Wahrheit
Marketing
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