| # taz.de -- Die Wahrheit: Der Herr der Dampfrösser | |
| > Das Wahrheit-Porträt: Zu Besuch bei Claus Weselsky, dem charismatischen | |
| > Chef der dauerstreikenden Gewerkschaft der Lokführer. | |
| Bild: Der sächsische Zangenkopf Claus Weselsky. | |
| Sein Spitzname ist "Chaos-Claus" (Bild), und sein Vorgänger Manfred Schell | |
| nennt ihn abwechselnd "einen Mao" oder "einen Assad" (Die Welt). Er soll | |
| schlimme Macken haben und zum Beispiel CDU-Mitglied sein oder am liebsten | |
| Wagner-Arien hören. Aber wer ist dieser Claus Weselsky wirklich? Was für | |
| ein Mensch verbirgt sich hinter dem adretten Schnurrbärtchen? Und was | |
| treibt den sächsischen Zangenkopf insgeheim an? Gehen wir auf Erkundung ins | |
| Führerhaus eines Gewerkschafters, treffen wir den bekanntesten Lokführer | |
| Deutschlands privat. | |
| Das graue Reihenhaus am Ende der Stichstraße im Leipziger Arbeiterviertel | |
| Leutzsch liegt an diesem nebligen Montagmorgen wie verlassen da. Wären da | |
| nicht die zwei Bullterrier im Vorgarten, die uns misstrauisch beäugen, aber | |
| nicht anschlagen, weil der Hausherr persönlich sie in Schach hält. Im | |
| Morgenmantel. | |
| "Très chic", gratulieren wir dem sichtlich Geschmeichelten zur Wahl seiner | |
| Garderobe. "Ja, nicht wahr. Ein Geschenk von Sean Connery." - "Sie kennen | |
| Sean Connery?", fragen wir verblüfft. Doch Weselsky hat die Reaktion | |
| offenbar vorhergesehen, salopp antwortet er: "Aus meiner Zeit in England. | |
| Ich habe immer zu ihm gehalten, auch wenn es mit seiner Karriere nicht so | |
| lief. Aber kommen sie doch rein", bittet er uns ins Haus. Bevor wir uns das | |
| gutbürgerliche Ambiente näher besehen können, bugsiert uns der Herr der | |
| Dampfrösser zu einer Treppe, die in den Keller hinabführt. | |
| Manche würden es Katakomben nennen. Unter den wuchtigen Kreuzen des | |
| Steingewölbes erstreckt sich ein Labyrinth von Sälen und Hallen. "Lassen | |
| Sie uns hier hineingehen", weist Weselsky den Weg in einen schimmernden | |
| Raum. Wo andere einen Partykeller haben, hat der Leipziger Lebemann sich | |
| eine exakte Nachbildung des verschollenen Bernsteinzimmers einbauen lassen. | |
| Staunend lassen wir uns auf Stühlen nieder, die so weich und gemütlich | |
| sind, dass man in ihnen schier versinkt: "Aus dem Nachlass der Familie | |
| Onassis. Die Polster sind aus echtem Walvorhautleder. Der alte Ari hatte | |
| eine Schwäche für exquisite Stoffe", erklärt Weselsky, der unserem Besuch | |
| in seinem privaten Reich nur zugestimmt hatte, wenn wir nicht über den | |
| Streik der Lokführer redeten. Über "laufende Arbeitskämpfe" könne er leider | |
| keine Auskunft geben, hatte er uns beschieden. Aber hier gibt es genug | |
| anderes zu besprechen. Wie seine Hände zum Beispiel. | |
| ## Finger wie ein Herzchirurg | |
| Für einen gelernten Schienenfahrzeugschlosser hat er verblüffend zarte und | |
| zierliche Finger. "Ja, ich sollte in meiner Jugend Herzchirurg werden, | |
| Kinderherzchirurg. Aber dann entwickelte sich meine Leidenschaft für die | |
| Eisenbahn." Wie um seine Worten zu untermalen, nimmt Weselsky nun eine um | |
| seine Beine schnurrende weiße Katze auf den Schoß und streicht versonnen | |
| durch ihre langen Fellhaare. "Wussten Sie, dass ich in vielen Filmen | |
| mitgespielt habe?" | |
| Der Arbeiterführer überrascht uns immer aufs Neue. "David Lean. ,Reise nach | |
| Indien'", erzählt Weselsky. "Kennen Sie die Zugszenen? Das war ich!" - "Sie | |
| haben den Zug in diesem Monumentalschinken gefahren?!" - "Nicht nur in dem | |
| Film. Das war damals, als ich Assistent von Stephen Hawking in Cambridge | |
| war." - "Sie waren in Cambridge?! Bei Hawking?!" Für einen Augenblick sind | |
| wir sprachlos. "Ja, ich habe Stephen viel zu verdanken." | |
| Wir müssen erst einmal durchschnaufen und die Ansagen sortieren. Doch Zeit | |
| bleibt dafür kaum, denn mit der Lässigkeit eines britischen Landadligen | |
| berichtet Weselsky weiter von seinem abenteuerlichen Werdegang. Wie er, der | |
| aus Pirna in der sächsischen Schweiz stammt, als früh Hochbegabter mit | |
| zwölf Jahren sein Abitur machte und dann nach Cambridge ging, um dort | |
| Mathematik zu studieren. | |
| "Aber sie waren doch Anfang der siebziger Jahre DDR-Bürger?", halten wir | |
| ihm entgegen. Weselsky winkt gelangweilt ab: "Ich bekam auf Vermittlung von | |
| Manfred von Ardenne, der mir übrigens drei seiner wissenschaftlichen | |
| Patente verdankt, ein Dauervisum der DDR für die Ein- und Ausreise. Und so | |
| lernte ich in Cambridge den großen Regisseur David Lean kennen. Er war ein | |
| enger Freund meines Chefs Stephen Hawking. Fast wäre ich Astrophysiker | |
| geworden. Doch ich fuhr zu der Zeit schon neben dem Studium die Museumsbahn | |
| Colne Valley Railway in Castle Hedingham. Und da bin ich für den Film | |
| entdeckt worden. Mein erster Spielfilm war: ,Lawrence of Arabia'." | |
| Aus dem grünen Schatten des Bernsteinzimmers tauchen plötzlich drei leicht | |
| bekleidete Damen auf - eine Blonde, eine Brünette und eine Rothaarige: | |
| "Kommst du bald, Claus?" Wie in Trance lässt Weselsky seine feingliedrigen | |
| Finger am Arm einer seiner Gespielinnen herabgleiten. "Ich brauch noch | |
| einen Moment, Darling. Geht schon mal vor." Glucksend verschwinden die | |
| Schönen in einem kaum zu erahnenden Wellnessbereich. | |
| ## Schnauzer akurat gestutzt | |
| "Haben Sie sie erkannt: drei Engel für Clausi", schmunzelt der oberste | |
| Lokomotivführer und erhebt sich dann, um uns in einen Nachbarsaal zu | |
| führen. An den Wänden hängen unzählige Filmplakate, die eins verbindet: | |
| durch die Kinoklassiker sind Züge gerollt. "Tschera unna wollta ill West", | |
| sächselt Weselsky mit vorgeschobenem Unterkiefer und deutet auf das Poster | |
| des berühmten Western "Spiel mir das Lied vom Tod". | |
| "Ich liebe Spaghettiwestern. Und habe einige Züge in ihnen gefahren. | |
| Zugüberfälle waren meine Spezialität, als ich von Cambridge nach Hollywood | |
| ging." - "Sie waren auch in Hollywood?" - "Aber sicher! Sergio Leone hatte | |
| mich Paul Newman und Robert Redford empfohlen. ,Butch Cassidy und Sundance | |
| Kid'. Die berühmten Zugräuber. Und ich war im Führerhaus." | |
| Langsam steigen erste Zweifel in uns auf: "Aber das war doch in den | |
| sechziger Jahren - und überhaupt: ,Lawrence of Arabia', der Film ist von | |
| 1962. Dann müssten sie ja damals drei Jahre alt gewesen sein." - "Ich war | |
| immer Frühentwickler", kontert Weselsky, ohne mit der Wimper zu zucken. | |
| Misstrauisch sehen wir den Fürsten des Schienenstrangs an, der liebevoll | |
| über seinen akkurat gestutzten Schnauzer streicht. "Glauben Sie nicht | |
| alles, was in den Archiven steht, schon gar nicht mein Geburtsdatum. | |
| Wussten Sie übrigens, dass ich Peter Ustinov seinerzeit gezeigt habe, wie | |
| man sich einen Schnurrbart wachsen lässt? Das war bei den Dreharbeiten für | |
| ,Mord im Orientexpress'. Ein fabelhafter Zug." | |
| Wieso er, der Mann von Welt, denn dann in die sächsische Provinz | |
| zurückgekehrt sei, um sich zum Lokführer für Diesel- und E-Lokomotiven | |
| ausbilden zu lassen, fragen wir ihn. "Ach, wissen Sie, meine Leidenschaft | |
| für die Bahn kannte keine Grenzen. Ich hätte sicher weiter gemeinsam mit | |
| Stephen Hawking an der Physik der Schwarzen Löcher forschen können, aber | |
| der Ruß, das Rangieren, das Stampfen der Maschine haben mich nie | |
| losgelassen", redet sich Weselsky jetzt ein wenig in Rage, um dann doch | |
| noch einen Bogen zum Streik seiner mächtigen Gewerkschaft zu schlagen: "Und | |
| wer meiner Lok in die Quere kommt, den nehme ich persönlich auf den Tender! | |
| Und sei es die Deutsche Bahn!" | |
| Wie aus weiter Ferne dringt da der Gesang der drei Sirenen an sein Ohr und | |
| lässt ihn in eine Art Dämmerzustand fallen: "Ich muss gehen, war schön Sie | |
| zu sehen. Ein andermal kommen Sie mit nach ganz hinten", zeigt er fahrig | |
| ins Ungefähre. "Ich führ Ihnen dann auch mal vor, wo der Schatz der Sierra | |
| Madre liegt. John Huston hat ihn damals zwischen Humphrey Bogart und mir | |
| aufgeteilt …" Sprichts und entschwindet im Nebel des Saunadunsts wie eine | |
| Lokomotive in den Wolken ihres weißen Dampfs. | |
| 24 Oct 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Michael Ringel | |
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