# taz.de -- Oranienplatz-Flüchtlinge in Berlin: Der unsichtbare Widerstand | |
> Offiziell dürften sie nicht mehr da sein, doch viele | |
> Oranienplatz-Flüchtlinge leben weiter in der Stadt und schlagen sich | |
> irgendwie durch. | |
Bild: Das Zeltlager am Oranienplatz im September 2013. | |
BERLIN taz | Irgendwo in Kreuzberg, am Rande eines Friedhofs, steht ein | |
altes, graues Haus. Abends, wenn es dunkelt, wird das schmiedeeiserne Tor | |
geschlossen, nur wer einen Schlüssel hat, kommt hinein. Für die Bewohner | |
des Hauses ist das umständlich, wenn Besuch kommt, aber es ist gut für ihre | |
Sicherheit. Sie haben Angst vor Neonaziangriffen und vor der Polizei. Im | |
November wurde einer von ihnen in der Stadt festgenommen und nach Italien | |
abgeschoben. Viele Berliner bis hinauf zum Innensenator sagen, sie sollten | |
gar nicht hier sein. Sie sind Flüchtlinge vom Oranienplatz. | |
Drinnen im kärglich möblierten Gemeinschaftsraum im Erdgeschoss schaltet | |
Ibrahim Moussa den Fernseher aus und setzt sich neben Abdallah an den | |
Tisch. „Wie wir unsere Zukunft sehen?“ Ratlos schweift sein Blick durch den | |
Raum, bleibt neben der Küchentür hängen, an den Polaroids von den Bewohnern | |
und ihren Helfern. Der magere 27-Jährige zuckt mit den Schulten. „Ich hoffe | |
immer noch auf Papiere, aber ich glaube nicht daran.“ Abdallah, der wie | |
Ibrahim aus dem Tschad kommt, lächelt schüchtern. „Ich bin Optimist, ich | |
mag Deutschland.“ Auch Mohamed Ali will die Hoffnung nicht aufgeben. Der | |
29-jährige Sudanese wippt nervös mit seinem Stuhl: „Es muss einfach | |
klappen, wo sollen wir hin? In Italien habe ich auf der Straße gelebt!“ | |
576 Oranienplatz-Flüchtlinge hatten im Rahmen des Abkommens mit dem Senat | |
vom März 2014 ein Bleiberecht für Berlin beantragt. Die Verfahren sind | |
abgeschlossen, nur drei Männer haben eine Aufenthaltserlaubnis bekommen. | |
Die anderen müssten theoretisch die Stadt verlassen, zurück in das | |
Bundesland, in dem ihr Asylverfahren läuft, oder in das EU-Land, über das | |
sie nach Europa gekommen sind. Doch viele ehemalige Platzbesetzer leben | |
weiter hier – wie viele genau, weiß niemand. | |
85 von ihnen werden seit Herbst von der Evangelischen Kirche versorgt, | |
verteilt auf sieben Gemeinden und elf Standorte. Ibrahim, Abdallah und | |
Mohamed waren schon in Spandau und Treptow-Köpenick in kirchlicher Obhut, | |
seit Anfang Dezember leben sie mit zehn anderen Männern in dem Haus auf dem | |
Friedhof. | |
Andere haben es weniger gut getroffen. 19 Flüchtlinge leben seit Dezember | |
auf der „Horst Günter“, die irgendwo im Grünen an der Spree festgemacht h… | |
– wo genau, soll auch hier aus Sicherheitsgründen unerwähnt bleiben. | |
Normalerweise wird das schwarze 20-Meter-Schiff von der Evangelischen | |
Kirche als Jugendgästehaus benutzt – für einen längeren Aufenthalt ist es | |
kaum geeignet. Zu kalt, zu eng, zu abgelegen sei das Schiff, klagen die | |
Flüchtlinge. „Eigentlich können wir uns nicht beschweren“, weiß Mouhamed | |
Tanko, ein 30-jähriger Philosophiestudent aus Niger. „Aber wir brauchen | |
einen anderen Platz.“ Das Problem: den gibt es zurzeit nicht. | |
Es ist zwei Uhr mittags, eben ist Tanko vom Sprachkurs zurückgekehrt und | |
brutzelt sich in der Kombüse etwas. Nebenan im Aufenthaltsraum krabbelt ein | |
Mann verschlafen aus einem Doppelstockbett. „Die Leute sind depressiv“, | |
sagt Tanko, „manche trinken und kiffen zu viel.“ Es sei schwer, angesichts | |
der ungewissen Zukunft nicht zu verzweifeln. „Manche von uns leben schon | |
zehn Jahre so: in Heimen, abhängig von anderen, ohne arbeiten zu dürfen.“ | |
Der zierliche Mann rührt heftig in seiner Reispfanne. „Aber wir müssen | |
stark sein. Wenn wir schwach werden, hat die Regierung gewonnen!“ | |
Stark sein heißt für Tanko, alles, was ihm in seinen vier Jahren als | |
Flüchtling widerfahren ist, positiv zu deuten als „Schule des Lebens“: „… | |
bin natürlich nicht glücklich, bin enttäuscht von Europa, von Deutschland – | |
aber ich lerne viel.“ Deshalb setze er alles daran, weiter Deutsch lernen | |
zu können, auch wenn er nicht wisse, wo er übermorgen sein wird: „Ohne | |
Sprache geht gar nichts, ohne sie verstehen wir die deutsche Kultur und die | |
Leute nie.“ | |
Auch in dem grauen Haus versuchen die Männer, Alltagsroutinen zu | |
entwickeln, um der Hoffnungslosigkeit zeitweise zu entkommen. Vormittags | |
machen die meisten einen Deutschkurs, mittags kochen sie, nachmittags | |
spielen sie Fußball, kickern im benachbarten Jugendclub oder besuchen | |
Freunde. „Ich versuche, ein bisschen fröhlich zu sein“, sagt Ibrahim | |
Moussa. „Aber mein Herz trauert.“ | |
Den Flüchtlingen Mut zu machen, ohne falsche Hoffnungen zu wecken: das ist | |
vielleicht die wichtigste Aufgabe von Marita Leßny. Die siebenfache Mutter | |
ist Mitglied der Passionsgemeinde und kommt fast jeden Tag in das | |
Friedhofshaus. „Wir können ihnen ja keine Papiere geben. Aber es ist | |
wichtig, präsent zu sein als Mensch. Die Jungs wurden schon so oft hängen | |
gelassen“, sagt die 61-Jährige. Und so sitzt sie oft einfach nur am Tisch | |
und quatscht mit ihren Schützlingen. | |
## „Zoo? Was ist das?“ | |
Oder sie versucht, ihre „Jungs“ für eine der vielen Aktivitäten zu | |
begeistern, die die Freiwilligen auf die Beine stellen: An diesem Sonntag | |
steht ein afrikanisches Essen in der Martha-Gemeinde an, am Sonntag darauf | |
ein gemeinsamer Zoobesuch, die Karten hat ein Nachbar gespendet. „Zoo?“, | |
fragt Ibrahim, „was ist das?“ Leßny erklärt, dass es dort Elefanten und | |
Löwen gebe. „Mit Elefanten habe ich gelebt“, sagt der Mann aus dem Tschad … | |
und winkt ab. Leßny lässt nicht locker: „Aber zum Erste-Hilfe-Kurs am | |
Donnerstag kommst du doch?“ | |
Auch mit der Organisation des Alltags haben die Helfer gut zu tun: Sie | |
begleiten die Flüchtlinge zum Arzt, gehen mit ihnen einkaufen, organisieren | |
Spenden. Für Letzteres aktualisiert Leßny fast täglich die Bedarfsliste der | |
Gruppe auf der Website des Kirchenkreises | |
([1][www.kkbs.de/fluechtlingshilfe]). Gesucht sind derzeit Stehlampen, | |
Zahnbürsten und Bilderlexika, aber auch Grundnahrungsmittel wie Nudeln, | |
Couscous, Milch oder Öl. Zwar bekommt jeder Flüchtling 5 Euro pro Tag von | |
der Kirche plus ein BVG-Monatsticket, „aber das ist natürlich wenig, zumal | |
viele rauchen“, so Lesny. | |
Zum Glück für die Flüchtlinge und die Kassen der Gemeinden ist die | |
Spendenbereitschaft groß: Von den rund 80.000 Euro, die die Winterhilfe für | |
85 Flüchtlinge schätzungsweise kosten wird, seien durch die Kampagne „Paten | |
für Flüchtlinge“ bereits 60.000 zusammengekommen, sagt Christiane | |
Bertelsmann, Pressebeauftragte des Kirchenkreises Stadtmitte. Auch Leßny | |
berichtet von großer Hilfsbereitschaft unter den Nachbarn. Eine Frau bringe | |
jeden Sonntag einen großen Topf Suppe, vier andere böten Deutschnachhilfe | |
an. | |
Ein Leben in der Warteschleife und dabei immer auf Hilfe angewiesen: ewig | |
kann das nicht so weitergehen, sagt Peter Storck. Der Pfarrer sitzt in | |
seinem Büro in der Heilig-Kreuz-Kirche und schüttelt den Kopf: „Bis Ostern | |
schaffen wir das, aber dann muss man mal sehen.“ Storck organisiert die | |
Unterkünfte für die Flüchtlinge – ein mühsames Geschäft: Zahlreiche Grem… | |
müssten jede Zwischennutzung von Gemeindeeigentum absegnen, erklärt er. Und | |
obwohl die Zustimmung groß sei, gebe es auch immer wieder Absagen. | |
„Natürlich haben wir Diskussionen, ob man sich gerade für diese Gruppe so | |
einsetzen muss. Es gibt ja auch Flüchtlinge, die nicht mit dem Gesetz in | |
Konflikt sind.“ | |
## Viele verlieren den Mut | |
Für Storck selbst ist es keine Frage, wo die Kirche in Sachen Oranienplatz | |
steht. „Den Leuten wurde vom Senat mehr versprochen, als gehalten wurde – | |
und am Ende wurden sie auf die Straße gesetzt.“ Als im September deshalb 50 | |
Flüchtlinge die Kreuzberger Thomaskirche besetzten, habe man die Leute | |
schon aus menschlichen Gründen nicht im Stich lassen können. Jetzt hoffe | |
er, dass der Senat doch von einer „humanitären Lösung“ überzeugt werden | |
kann. „Gerade wurden ja wieder Gespräche zwischen Kirche und Senat | |
aufgenommen. Denn Kirche und Diakonie sind auch längerfristig bereit, ihren | |
Beitrag dazu zu leisten, dass Flüchtlinge in Berlin aufgenommen und | |
integriert werden können.“ | |
Druck auf den Senat könnte auch der Oranienplatz bald wieder ausüben. | |
Zusammen mit Unterstützern versuchen einige ehemalige Besetzer, den Platz | |
wiederzubeleben, erzählt Kokou Theophil, der seit 12 Jahren in Deutschland | |
lebt und eine wichtige Figur im Camp war. Tatsächlich wird seit Wochen an | |
dem „Haus der 28 Türen“ gewerkelt, das seit vorigem Sommer am Ort des | |
ehemaligen Zeltlagers steht – man hat das Dach ausgebessert, demolierte | |
Türen repariert. „Sobald es wärmer wird, sollen dort wieder Treffen | |
stattfinden“, sagt Theophil. | |
Dennoch verlieren viele den Mut, erzählt er. Der Togoer kennt allein drei | |
Leute, die zurück nach Magdeburg „ins Lager“ gegangen seien, andere seien | |
„irgendwohin verschwunden“. Er selbst kann seit seinem Rauswurf aus dem | |
Heim abwechselnd bei Freunden unterschlüpfen. Aber viele andere, sagt | |
Theophil, „schlafen mal hier, mal dort“. | |
Letzter Rettungsanker für alle Wohnungslosen ist seit Oktober die | |
„Schlafplatzorga“ von AktivistInnen der Refugee-Bewegung. Wer ein Bett für | |
die Nacht braucht, geht am Abend zwischen 18 und 20 Uhr zum Oranienplatz, | |
wo ein Aktivist die Liste der privaten Schlafplatzangebote abtelefoniert. | |
Ein bis sechs Refugees pro Tag nehmen diese Hilfe in Anspruch, schätzt | |
Nelly vom Orga-Team. Insgesamt habe man in den letzten Monaten wohl | |
mindestens 120 Menschen eine Unterkunft vermitteln können – oft allerdings | |
nur für ein paar Nächte. Auch reichten die Angebote nicht immer aus, | |
aktuell stünden nur rund 25 Adressen auf der Liste, „weshalb wir im Notfall | |
auf die Notunterkünfte der Kältehilfe zurückgreifen“. | |
Ohne diese tatkräftige Hilfe – sei es von den Kirchen, sei es von | |
politischen Unterstützern – hätten die Flüchtlinge vom O-Platz den Winter | |
wohl nicht überstanden. Und die Solidarität macht Hoffnung: „Die Bewegung | |
ist nicht am Ende“, glaubt Theophil. Ein Argument dafür sieht er jeden Tag | |
auf Berlins Straßen: „Es kommen ja immer neue Flüchtlinge.“ | |
18 Feb 2015 | |
## LINKS | |
[1] http://www.kkbs.de/fluechtlingshilfe | |
## AUTOREN | |
Susanne Memarnia | |
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