# taz.de -- 100. Jahrestag Genozid an Armeniern: Sie zogen es vor, nichts zu tun | |
> Der Genozid an den Armeniern ab 1915 wurde von den Deutschen mitgetragen. | |
> Die Bundesregierung vermeidet das Wort „Völkermord“ bis heute. | |
Bild: Dem Genozid entkommen: Ein Foto von 1915 zeigt armenische Flüchtlinge in… | |
Am 7. Juli 1915 schrieb der damalige deutsche Botschafter in | |
Konstantinopel, Hans Freiherr von Wangenheim, in einem Telegramm an den | |
deutschen Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg folgenden Satz: „Die | |
Umstände und die Art, wie die Umsiedlung [der Armenier im Osmanischen | |
Reich, Anmerk. des Autors] durchgeführt wird, zeigen, dass die Regierung | |
tatsächlich den Zweck verfolgt, die armenische Rasse im türkischen Reich zu | |
vernichten.“ | |
Damals gab es den Begriff „Völkermord“ noch nicht. Aber genau das ist | |
gemeint. Spätestens zu dem Zeitpunkt, gut zwei Monate nach Beginn der | |
Umsiedlungen der armenischen Zivilbevölkerung, hätte Wangenheim, hätte | |
Deutschland eingreifen müssen. Doch warum eigentlich Deutschland? | |
Weil damals, im Frühsommer 1915, nur Deutschland die Macht gehabt hätte, | |
das Morden zu beenden. Freiherr von Wangenheim war damals nicht irgendein | |
unbeteiligter Beobachter, der als Botschafter einer fremden Macht seine | |
Regierung zu Hause informiert. Wangenheim war der Vertreter derjenigen | |
Macht, die während des Ersten Weltkriegs eng mit dem Osmanischen Reich | |
verbündet war. Das Deutsche Kaiserreich war für das kollabierende | |
Osmanische Reich so etwas wie der „große Bruder“, ohne den militärisch ka… | |
etwas möglich war. | |
Das Kaiserreich stellte die Militärexperten für das osmanische Heer und die | |
Marine, lieferte die Waffen und die Munition, und das deutsche Oberkommando | |
hatte entscheidenden Einfluss darauf, welche Operationen der türkische | |
Verbündete unternehmen sollte. Schon lange vor dem Ersten Weltkrieg hatten | |
deutsche, also in aller Regel preußische Offiziere, die als Militärberater | |
an den Bosporus geschickt worden waren, versucht, das osmanische Militär zu | |
modernisieren und kriegsfähig zu machen. | |
## Deutsch-Osmanischer Beistandspakt | |
Die deutsche Orientpolitik zielte seit dem Amtsantritt von Wilhelm II. 1888 | |
darauf ab, das sieche Osmanische Reich am Leben zu erhalten und es | |
gleichzeitig militärisch und ökonomisch zu dominieren, um es als Basis für | |
eine Expansion gegen die Briten nutzen zu können. Aus diesem Grund wurde | |
mit enormem Aufwand die Bagdadbahn gebaut, die eine durchgehende | |
Schienenverbindung von Berlin bis Bagdad ermöglichen sollte, auf der | |
Truppen schnell bewegt werden könnten. | |
Am 1. August 1914 schlossen das Deutsche und das Osmanische Reich einen | |
gegenseitigen Beistandspakt gegen Russland ab, der für Deutschland zunächst | |
aber nicht wichtig war, weil der Sieg über Frankreich Priorität gegenüber | |
dem Krieg im Osten hatte. Erst als der Vormarsch an der Marne scheiterte, | |
im September 1914, und sich somit abzeichnete, dass das Reich mit einem | |
langjährigen Zweifrontenkrieg konfrontiert sein würde, wurde das Osmanische | |
Reich interessanter. | |
Mit der Türkei als Bündnispartner konnte man den Seeweg durch die | |
Dardanellen blockieren und damit den wichtigsten Verbindungsweg zwischen | |
Russland und seinen westlichen Verbündeten schließen. Aus dem osmanisch | |
kontrollierten Palästina heraus wollte man den Suezkanal angreifen, über | |
den die Briten ihren elementaren Nachschub aus Indien heranschafften. Damit | |
sollten britische Truppen in Ägypten gebunden werden. Mit einem Angriff im | |
Kaukasus wollte die oberste Heeresleitung erreichen, dass Russland keine | |
Truppen von dort an die Westfront verlegen konnte. | |
Das war die Ausgangssituation, als die „armenische Frage“ auch für | |
Deutschland relevant wurde. Bis dahin hatte die Deutschen, anders als | |
Russen, Briten, Franzosen und Amerikaner, sich um diese christliche | |
Minderheit im Osmanischen Reich kaum gekümmert. Armenier lebten damals fast | |
überall im anatolischen Kernland des Osmanischen Reichs, ihr historisches | |
Siedlungsgebiet waren aber die nordöstlichen Provinzen entlang der | |
russischen Grenze. | |
## Von Armenieraufstand besessen | |
Bereits im Dezember 1914, das Osmanische Reich war erst einen Monat zuvor | |
in den Krieg eingetreten, sorgte sich der wichtigste deutsche Offizier im | |
osmanischen Heer, Generalstabschef Fritz Bronsart von Schellendorf, wegen | |
Sabotageakten armenischer Freischärler im Bereich der türkischen | |
Kaukasusarmee, die an der russischen Grenze stationiert war. | |
Bronsart von Schellendorf und andere deutschen Offiziere entwickelten zügig | |
eine regelrechte Armenier-Obsession. Aus gelegentlichen Sabotageaktionen | |
einzelner Armenier, die auf den Sieg Russlands hofften, imaginierten die | |
deutschen Offiziere einen allgemeinen Aufstand der armenischen Bevölkerung | |
und eine Kollaboration mit dem Feind. Deshalb drängte Bronsart auf die | |
Deportation der armenischen Bevölkerung. Auch Botschafter Wangenheim wurde | |
überzeugt, dass umfassende Deportationen aus militärisch Gründen notwendig | |
seien. | |
Die Vertreibung von über einer Million Menschen mag nach damaligem | |
Verständnis von Kriegsführung eine Maßnahme gewesen sein, die sich noch im | |
Rahmen der allgemein anerkannten Regeln bewegte. Doch die Deutschen mussten | |
schnell feststellen, dass es den türkischen Machthabern nicht darum ging, | |
eine als Risiko eingestufte Bevölkerung lediglich umzusiedeln. | |
Die Machthaber in der türkischen Regierung ergriffen die Gelegenheit, um | |
sich ein für alle Mal der Armenier zu entledigen, die sie insgesamt als | |
Gefährdung für den Bestand ihres Reichs betrachteten. Bislang hatte die | |
armenische Minderheit stets auf Unterstützung aus England und Russland | |
setzen können, weshalb die Osmanen die Existenz der Armenier als | |
Einfallstor für die Einmischung ausländischer Mächte in ihre inneren | |
Angelegenheiten ansahen. Jetzt bot der Krieg die Gelegenheit, die | |
„armenische Frage“ durch einen Genozid zu lösen. | |
## Verbündete bleiben | |
Die deutschen Verantwortlichen mussten jetzt eine Entscheidung treffen. | |
Wollten sie hinnehmen, dass unter ihrem politischen und militärischen | |
Schutz ein Völkermord vollzogen wurde, oder würden sie ihre Macht und ihren | |
Einfluss gegenüber ihrem Verbündeten nutzen, um den Völkermord zu | |
verhindern? | |
Wangenheim zog es vor, nichts weiter zu tun. Einige wichtige deutsche | |
Offiziere begrüßten den Massenmord sogar, weil sie glaubten, die Türkei | |
würde dadurch zu einem stärkeren Verbündeten. Als im November 1915 Paul | |
Graf Wolff Metternich die Nachfolge des plötzlich verstorbenen Wangenheim | |
in Konstantinopel antrat, stellte sich die Frage ganz explizit. | |
Anders als Wangenheim wollte Metternich die Vernichtung der Armenier | |
stoppen und forderte deshalb Reichskanzler Bethmann Hollweg dazu auf, auch | |
gegen den Widerstand der deutschen Militärs der türkischen Regierung mit | |
Sanktionen zu drohen, wenn sie das Morden nicht beenden würde. Unter dem | |
Beifall der Militärs und im vollen Bewusstsein dessen, was es für die | |
Armenier bedeutete, lehnte Hollweg eine wirksame deutsche Intervention | |
jedoch kategorisch ab. Je länger der Krieg noch dauern würde, so sein | |
Argument, umso mehr würde man die Türken brauchen, „auch wenn darüber | |
Armenier zugrunde gehen“. | |
## Eine lasche Entschuldigung | |
Graf Wolff Metternich wurde aus Konstantinopel abberufen. Das Morden ging | |
weiter. Bis Ende 1916 hatte man über eine Million Armenier erschlagen oder | |
in der Wüste Nordsyriens verhungern lassen. | |
Am 24. April jährt sich das Gedenken an den Beginn des Völkermords zum 100. | |
Mal. Bis heute vermeidet es die Bundesregierung, von einem Völkermord zu | |
sprechen, und unterstützt so die Weigerung der türkischen Regierung, das | |
Verbrechen an den Armeniern anzuerkennen. Zwar hat sich der deutsche | |
Bundestag vor zehn Jahren in einer gemeinsamen Erklärung aller Fraktionen | |
für die „unrühmliche Rolle“ entschuldigt, die das Deutsche Reich damals | |
gespielt hat, eine echte Mitschuld will man aber nicht anerkennen. | |
Deshalb wird Deutschland zur zentralen Gedenkfeier im armenischen Jerewan | |
auch nicht mit einer hochrangigen Delegation vertreten sein. Während aus | |
Frankreich Präsident Hollande persönlich anreisen will, wird Kanzlerin | |
Merkel ihrem französischen Kollegen untreu und bleibt lieber zu Hause. Das | |
hundertjährige Gedenken des Völkermords wird also ohne Deutschland | |
stattfinden. Ein Skandal. | |
28 Feb 2015 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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