| # taz.de -- Völkermord in der Türkei: Gedenken an getötete Armenier | |
| > 98 Jahre nach dem Genozid finden in der Türkei erstmals zahlreiche | |
| > Veranstaltungen statt, auf denen auch Nachkommen der Opfer sprechen. | |
| Bild: Gedenken auf dem Taksim-Platz in Istanbul mit den Fotos der Toten. | |
| ISTANBUL taz | „Es ist nicht weniger als eine Revolution.“ Die Begeisterung | |
| ist Ara Sarafian anzusehen. Es scheint, als könne er noch gar nicht | |
| glauben, dass er tatsächlich mitten in Istanbul auf einem Friedhof steht | |
| und eine Rede hält. „Ich konnte frei sprechen, ich konnte sagen, was ich | |
| wollte.“ | |
| Ara Sarafian ist Armenier. Er lebt in London und ist am 98. Jahrestag des | |
| armenischen Völkermordes zum Gedenken in die Türkei gekommen. „Noch vor | |
| wenigen Jahren“, sagt er, „hätte ich niemals zu diesem Anlass in die Türk… | |
| kommen und hier über den Völkermord sprechen können. Im Gegenteil, | |
| eigentlich habe ich immer gedacht, dass das zu meinen Lebzeiten nicht mehr | |
| möglich sein wird.“ | |
| Zusammen mit Ara Sarafian sind rund 20 weitere Nachfahren armenischer Opfer | |
| des Völkermordes von 1915 in diesem Jahr erstmals in die Türkei gekommen, | |
| um an Gedenkfeiern teilzunehmen. Allein in Istanbul fanden am Mittwoch vier | |
| Veranstaltungen statt. Am Vormittag ist Aran Sarafian mit türkischen | |
| Mitgliedern des Menschenrechtsvereins IHD auf den Friedhof im Stadtteil | |
| Zincirlikuyu gekommen, um an einen Mann zu erinnern, der, wie er sagt, | |
| seine Familie und viele andere Armenier gerettet hat. | |
| ## Die meisten starben auf den Todesmärschen | |
| Etwa 50 Leute haben sich um das Grab von Fayik Ali Ozansoy versammelt. | |
| Fayik Ali Bey war 1915/1916 osmanischer Gouverneur der Provinz Küthaya im | |
| Westen der Türkei. „Er hat sich nicht nur nicht an den Deportationen der | |
| Armenier beteiligt, er hat die Armenier in seiner Region aktiv geschützt. | |
| Meine Familie verdankt ihm ihr Überleben“, berichtet Ara Sarafian. | |
| Doch Fayik Ali Bey war eine Ausnahme. Rund 1,5 Millionen Armenier wurden | |
| während des Ersten Weltkrieges in allen Landesteilen vertrieben, teils | |
| gleich ermordet oder in manchmal wochenlangen Fußmärschen bis in die damals | |
| zum Osmanischen Reich gehörende syrische Wüste deportiert. Die meisten | |
| Armenier starben auf diesen Todesmärschen, die anderen verhungerten in der | |
| Wüste. Nur wenigen gelang es, in den Libanon, nach Palästina oder in den | |
| russisch kontrollierten Teil Armeniens zu fliehen. | |
| ## Die Regierung redet von "Übergriffen" | |
| Der offizielle Grund für die Deportationen war die türkische Befürchtung, | |
| die Armenier könnten mit dem Kriegsgegner Russland kollaborieren, weil der | |
| Zar ihnen Unterstützung und Autonomie versprochen hatte. | |
| Seit dem Krieg weigert sich deshalb die Türkei als Nachfolgestaat des | |
| Osmanischen Reiches, die Deportationen als Völkermord anzuerkennen, und | |
| gibt lediglich zu, dass es im Rahmen der „Umsiedlungsmaßnahmen“ zu | |
| Übergriffen gekommen sei. | |
| Doch diese „Leugnung des Völkermordes“, der die Nachkommen der Opfer bis | |
| heute schmerzt, „geht auch in der Türkei ihrem Ende entgegen“, ist Ara | |
| Sarafian überzeugt. „Sonst wären die Veranstaltungen, wie wir sie heute | |
| hier erleben, nicht möglich“. | |
| ## Die kurdische Partei BDP spricht von Genozid | |
| Vieles spricht tatsächlich dafür, dass Sarafians größter Wunsch in | |
| Erfüllung gehen könnte. Die Gedenkveranstaltung auf dem zentralen | |
| Istanbuler Taksim-Platz am Abend des 24. April ist anders als in den | |
| Vorjahren eine richtige Großveranstaltung geworden. Trafen sich früher 50 | |
| bis 100 Leute eher unauffällig, um still des Völkermordes zu gedenken, | |
| waren es jetzt über 1.000 Teilnehmer, die in einer offiziellen | |
| Veranstaltung der Opfer gedachten. Auch in Izmir, Adana, Mersin und in | |
| Diyarbakir fanden Versammlungen statt. | |
| Im türkischen Parlament war die kurdische BDP am Mittwoch die erste Partei, | |
| die jemals in einer öffentlichen Erklärung von einem Genozid sprach, eine | |
| Formulierung, die die offizielle Türkei seit Jahrzehnten erbittert | |
| bekämpft. | |
| Ara Sarafian hofft, dass es mit der Leugnungspolitik schon in zwei Jahren, | |
| wenn weltweit zum 100. Jahrestag des Völkermordes gedacht werden wird, auch | |
| in der Türkei vorbei ist. „Ich bin für den Dialog“, sagt er. „Ich werde | |
| nächstes Jahr wiederkommen und vielleicht wird in zwei Jahren auch die | |
| Regierung mit uns reden“. | |
| 26 Apr 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Jürgen Gottschlich | |
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