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# taz.de -- 100 Jahre Gründung der Türkei: Der alte Geist, er lebt noch
> 1923 gründeten Atatürk und seine Getreuen eine laizistische Republik.
> Selbst Erdoğan, der ein islamisches Reich will, kann dieses Erbe nicht
> begraben.
Bild: Die Porträts Atatürks und İnönüs wachen über die noch junge Republi…
Heybeliada/Istanbul taz | Das Haus ist stattlich, fällt aber in der Reihe
mit den Nachbarhäusern nicht weiter auf. Eine Villa neben vielen anderen
eben. Und doch ist das Haus auf der Prinzeninsel Heybeliada vor Istanbul
etwas ganz Besonderes. Hier haben İsmet İnönü und seine Familie nach der
Gründung der Türkischen Republik ihre Sommer verbracht, İnönü soll sehr
gerne hier gelebt haben.
Das Haus ist heute ein Museum und gibt einen guten Eindruck davon, wie die
İnönüs, nach der Familie Atatürks immerhin die zweitbedeutendste der
Republik, sich ein gutes Leben vorstellten. Der prägende Eindruck ist:
ziemlich schlicht. Die İnönü-Villa strahlt das Ambiente einer
gutbürgerlichen Familie aus, die mit ihren vier Kindern hier einigermaßen
Platz fand. Nichts Extravagantes, keinen Luxus, das Haus eines
republikanischen Bürgers.
İsmet İnönü war im Osmanischen Reich ein revolutionärer General, der sich
nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg zunächst gegen den Sultan stellte, um
dann wenig später mit dem anderen, weit berühmteren General Kemal Atatürk –
die Namen Atatürk und İnönü trugen die beiden dabei erst ab 1934 – den
Kampf gegen die Besatzungsmächte Großbritannien, Frankreich und Italien
aufzunehmen.
Ähnlich wie kurz zuvor in Versailles mit Deutschland hatten die
Siegermächte 1920 auch mit dem Osmanischen Reich einen Diktatfrieden
geschlossen. Dadurch sollte das ehemalige Großreich vollständig zerschlagen
werden, für die zukünftige Türkei wäre nur noch ein Rumpfstaat in
Zentralanatolien übriggeblieben. Die Briten sicherten sich neben Istanbul
vor allem Mesopotamien, Ägypten und Palästina, die Franzosen den Libanon
und Großsyrien, die Italiener die türkische Mittelmeerküste.
## Gründungsmythos „Befreiungskrieg“
Griechenland, das erst kurz vor Toresschluss der alliierten Kriegskoalition
beitrat, sollte einen Teil der Ägäisküste rund um das heutige Izmir
bekommen. Stattdessen starteten die Griechen eine Invasion in
Westanatolien, weil ihre Politiker glaubten, die Niederlage des Osmanischen
Reiches für ihren Traum von Großgriechenland ausnutzen zu können.
Der erfolgreiche Kampf gegen die Besatzungsmächte, vor allem gegen die
griechischen Invasoren, ist der Gründungsmythos der türkischen Republik.
Zahllose Gedenktage, die an entscheidende Wendepunkte im „Befreiungskrieg“
erinnern, ziehen sich durch den türkischen Kalender. In diesem Krieg wurde
İsmet İnönü neben Kemal Atatürk zum entscheidenden Akteur. Seine Siege im
Januar und März 1921 bei der Stadt İnönü – daher sein Name – schufen die
Grundlage für die erfolgreiche Rückeroberung der von den Griechen besetzten
Gebiete.
Doch İnönü war nicht nur Militärmann. Eine Ausstellung in Istanbul zeigt
ihn derzeit als Diplomaten bei den erneuten Friedensverhandlungen in
Lausanne, die nach der griechischen Niederlage im Herbst 1922 begannen und
am 9. Juli 1923 mit einem Friedensvertrag zwischen der Türkei,
Großbritannien, Frankreich, Italien und Griechenland endeten.
Die damals festgelegten Grenzen sind bis heute die Staatsgrenzen der
Türkei. Der im Friedensvertrag von 1920 vorgesehene Staat Armenien und die
autonome Region Kurdistan verschwanden ersatzlos in der Versenkung. Mit
seinem Verhandlungserfolg schuf İsmet İnönü die Voraussetzungen für die
türkische Staatsgründung am 29. Oktober 1923.
## Frankreich als großes Vorbild
Viele der Gründer der neuen Republik, allen voran Mustafa Kemal Atatürk,
waren beseelt von der Vorstellung, ihr Land solle zu den modernen
Großmächten Europas aufschließen. Vor allem das zentralistisch regierte
Frankreich wurde zum großen Vorbild. Da passte es, dass Frankreich einen
radikalen Schnitt zum Katholizismus vollzogen und den Laizismus zur
Staatsräson erklärt hatte.
Genauso sollte in der Türkei das reaktionäre islamische Regime
abgeschüttelt werden, genauso sollte in der zukünftigen Republik der
Laizismus zur Grundlage des Staates werden. Und so wie es in Frankreich
politisch und sprachlich nur Franzosen und keine Korsen, Bretonen oder
Basken geben sollte, sollte es in der neuen Republik keine Kurden, Lasen
oder die aus dem Balkan vertriebenen Bosniaken geben. Jeder sollte stolz
von sich sagen können: Ich bin Türke!, im Sinne von „Bürger der Republik
Türkei“.
Folglich wurde in den ersten Jahren der Republik zunächst der Sultan
verjagt, dann das Kalifat abgeschafft, die religiösen Orden verboten und
die [1][Moscheen unter Staatsaufsicht gestellt]. Mit der Einführung des
lateinischen Alphabets wurde das Türkische nicht nur von den Einflüssen der
arabischen und persischen Sprache bereinigt, es fand insgesamt ein
radikaler Schnitt gegenüber der eigenen, orientalischen Vergangenheit
statt.
Dieses absolut avantgardistische Programm traf auf eine durch die
vorangegangenen Kriege völlig verarmte, stark dezimierte Bevölkerung, die
aus mehr als 80 Prozent Analphabeten bestand. Menschen, die sich
überwiegend an ihrer Religion und im Falle der Kurden an ihren
Clanstrukturen orientierten.
## Der Völkermord an den Armeniern wurde verdrängt
Da war es nicht verwunderlich, dass es als Erstes im Osten, in den
kurdischen Regionen, zu einem zunächst religiös motivierten Aufstand kam,
der von den Führern der Republik brutal niedergeschlagen wurde.
Militärischer Leiter der Operation war İsmet İnönü. Als Ministerpräsident
führte er aus, was der Visionär und neu gewählte Präsident Atatürk vorgab.
Der Kampf gegen den „reaktionären Islam“, und gegen die separatistischen
Bestrebungen vor allem der Kurden, wurden zur Grundkonstante der Republik.
Der Völkermord an den Armeniern wurde verdrängt, der armenische Besitz war
längst verteilt.
Um die Bevölkerung für sich zu gewinnen, startete die Republik eine große
Bildungsoffensive und eine Bodenreform, die die Bauern aus den Klauen der
Großgrundbesitzer befreien sollte. Der Aufbau einer eigenen Industrie wurde
von Staats wegen betrieben und nicht nur Privatinitiativen überlassen.
Neben diesen positiven Anreizen stand weiterhin die Repression. Kritik
wurde kaum geduldet, größere Erhebungen militärisch niedergeschlagen. Doch
trotz der großen Widerstände und der widrigen Voraussetzungen, unter denen
die Republik gestartet war, wurde bis 1938, als Atatürk starb, eine stabile
Grundlage für den neuen Staat geschaffen.
Nach dem Tod des Gründervaters erfand seine Republikanische Volkspartei,
die CHP, den Kemalismus als Politik in der Nachfolge Atatürks. İsmet İnönü,
sein treuester Gefolgsmann, wurde neuer Parteichef und neuer
Staatspräsident. İnönü war auch derjenige, der Ende der 1940er-Jahre den
Einparteienstaat beendete und die Türkei in eine Demokratie führte. Er
musste schließlich auch akzeptieren, dass seine CHP die ersten freien
Wahlen 1950 verlor und zur Opposition wurde.
Neuer Regierungschef wurde Adnan Menderes von der Demokratischen Partei.
Mit Menderes kam erstmals seit der Staatsgründung eine konservative,
religiöse und wirtschaftlich rechtsgerichtete Regierung an die Macht. Das
brachte den bis dahin unterdrückten Konflikt zwischen laizistischer
Republik und konservativem Islam wieder an die Oberfläche – er bestimmt bis
heute die politische Auseinandersetzung im Land.
## Der Kemalismus schwächelt
In den folgenden 50 Jahren putschte das Militär dreimal, 1960, 1971 und
1980. Zunächst gegen konservativ-islamische Regierungen, 1980 vor allem
gegen eine starke Linke. Weil das Militär damals, auch unter dem Einfluss
der USA, den Kommunismus als die größte Bedrohung empfand, öffnete man dem
Islam wieder die Tore. Die Jugend sollte lieber in die Moschee gehen, als
sich in einer sozialistischen Bewegung zu engagieren. Die Folge davon war,
dass die islamische Wohlfahrtspartei bis Mitte der Neunzigerjahre soweit
erstarkte, dass mit [2][Necmettin Erbakan] erstmals ein bekennender
Islamist 1996 eine Regierung bilden konnte.
Zum letzten Mal rafften sich die Militärs damals auf, um die Islamisten
noch einmal von der Macht zu verdrängen, wenn auch ohne einen direkten
Putsch. Doch die Folgeregierung, die letzte von der CHP angeführte
Koalition, war extrem schwach und führte das Land in eine schwere
Wirtschaftskrise. Bei den nächsten Wahlen im Jahr 2002 errang eine neue
Partei, eine Abspaltung von Erbakans Wohlfahrtspartei, einen Erdrutschsieg:
die AKP. Ihr Vorsitzender war und ist der frühere Istanbuler
Oberbürgermeister Recep Tayyip Erdoğan.
Dessen ideologisches Programm ist es, an die vermeintlich glorreichen
Zeiten des Osmanischen Reiches anzuknüpfen. Er sieht sich als Gegenentwurf
zu Atatürk und will aus der laizistischen Republik wieder ein islamisches
Reich machen. Doch auch nach 20 Jahren an der Macht ist er mit einem
hartnäckigen Widerstand konfrontiert von Menschen, die sich ihren
Lebensstil nicht von den Mullahs diktieren lassen wollen.
[3][Vor allem in den Städten] hat sich dank der Republik ein mündiges
Bürgertum entwickelt, das sich dem Staat Erdoğans hartnäckig widersetzt.
Selbst [4][nach dem letzten „Wahlsieg“ Erdoğans] im Mai ist dieser
Widerstandsgeist lebendig. Und so ist auch der Besucherandrang im
Ferienhaus von İsmet İnönü im 100. Jahr der Republik enorm.
29 Oct 2023
## LINKS
[1] /Umwidmung-der-Hagia-Sophia/!5694696
[2] /Mudschahid-Erbakan/!5125788
[3] /Nach-Erdoans-Wahlsieg/!5937102
[4] /Tuerkische-Praesidentschaftswahl/!5934906
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
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