# taz.de -- Kommentar Kopftuchurteil BVerfG: Was unter dem Tuch gedacht wird | |
> Das Verfassungsgericht bürgert den Islam ein Stück mehr ein. Streiten | |
> sollten wir über Fundamentalismus, nicht über ein Kleidungsstück. | |
Bild: Dass Religion nicht nur segensreich sein kann, wurde bislang gern ignorie… | |
Auf dem Weg, den Islam einzubürgern, ist die Bundesrepublik einen winzigen | |
Schritt weitergekommen. Das Verfassungsgericht hat einen Zustand eklatanter | |
Ungleichbehandlung beendet: Man darf Musliminnen nicht allein deshalb | |
diskriminieren, weil sie anders aussehen als der Rest. Eine Hintertür | |
bleibt allerdings offen: Gibt es Streit über das Kopftuch, kann es in einem | |
ganzen Schulbezirk verboten werden. | |
Trotzdem: Ein Schritt ist gemacht. Das Verfassungsgericht hat damit auch | |
klargestellt, dass Religion in der Schule stattfinden darf – und zwar auch | |
eine, die nicht schon seit Anno Pief in den Schulgesetzen verankert ist. | |
Damit setzt es den spezifisch deutschen Umgang mit der Trennung von Staat | |
und Religion fort und erweitert ihn auf nichtchristliche Religionen. | |
Man muss sich dabei vergegenwärtigen, dass es hierzulande nie eine richtige | |
Trennung von Staat und Kirche gab: Neben Kirchensteuern und staatlich | |
finanzierten TheologInnenlehrstühlen sind gerade die Schulen oft keineswegs | |
neutral. Schulgottesdienste, Religionsunterricht – sogar die | |
Bildungsgesetze haben oft einen christlichen Drall. | |
So steht in der Bayerischen Landesverfassung, dass in staatlichen | |
Volksschulen „nach den Grundsätzen der christlichen Bekenntnisse“ erzogen | |
werden soll. Dort hängt noch oft ein Kruzifix an der Wand. Das muss nur | |
dann abgehängt werden, wenn die Schulleitung findet, dass Eltern oder | |
SchülerInnen schwerwiegende Gründe gegen das Kreuz vorbringen. Auch in | |
Baden-Württemberg wird „im Geist christlicher Nächstenliebe“ erzogen, so | |
will es das Schulgesetz. Eine „hinkende Trennung“ von Staat und Religion – | |
so nennen das JuristInnen. | |
## Vertrauen erschüttert | |
Dass Religion nicht nur segensreich sein kann, wurde bislang gern | |
ignoriert; nicht einmal die Missbrauchsskandale haben das grundsätzliche | |
Vertrauen in die Vorzüge christlicher Beregnung in den Schulen erschüttert. | |
Nun aber, wo sich mit dem Islam eine für viele Deutsche problematische | |
Religion einzubürgern beginnt, steht die gesamte hinkende Trennung infrage. | |
Es gibt im deutschen Islam mehr VertreterInnen einer fundamentalistischen | |
und damit auch frauenfeindlichen Auslegung als im deutschen Christentum. | |
Was nun? | |
Zwei Modelle stehen zur Wahl: Das Modell Frankreich und das Modell England. | |
Frankreich hat mit dem Trennungsgesetz von 1905 Staat und Religion | |
getrennt: Keine Kirchensteuern, kein Religionsunterricht, keine | |
Weihnachtsfeiern und auch keine Kopftücher – nicht einmal Schülerinnen | |
dürfen das Tuch tragen. England geht den entgegengesetzten Weg: Es hat eine | |
Staatskirche und erkennt alle Religionen gleichermaßen an. Kopftücher sind | |
dort kein Problem. | |
Und Deutschland? Die Kirchen sind hier zu stark, als dass eine vollständige | |
Trennung von Staat und Religion durchsetzbar wäre. Es bleibt nur der zweite | |
Weg: den Islam einzubürgern. Ihm eine Sonderbehandlung angedeihen zu | |
lassen, wie es so viele Bundesländer mit ihren Kopftuchgesetzen versuchten, | |
ist nicht möglich. | |
## Fundamentalisten im Einbürgerungsprozess aussieben | |
Man muss vielmehr die Fundamentalisten schon im Einbürgerungsprozess | |
aussieben und einen europäischen Islam erfinden. Das ist Arbeit, gibt | |
Konflikte. So ist der eher konservative Koordinierungsrat der Muslime | |
unglücklich über den liberalen Theologen Mouhanad Khorchide, der in Münster | |
Imame ausbilden soll. | |
Aber solche Aushandlungen brauchen wir. Die etwas breitere Akzeptanz des | |
Kopftuchs, die sich nun anbahnt, ist ein weiterer Schritt in diese | |
Richtung. Es ist gut, dass die Mehrheitsgesellschaft sich die Mühe machen | |
muss, zu schauen, was unter dem Tuch gedacht wird. | |
Das ist endlich eine Haltung, die nicht mehr xenophob ist – und nebenbei | |
auch mit der Diskriminierung von Frauen Schluss macht. Denn nur Frauen | |
leiden unter dem Kopftuchverbot. Für fundamentalistische Bartträger war es | |
nie vorgesehen. | |
13 Mar 2015 | |
## AUTOREN | |
Heide Oestreich | |
## TAGS | |
Kopftuch | |
Islam | |
Schule | |
Bundesverfassungsgericht | |
Religionsfreiheit | |
Kopftuchverbot | |
Muslime | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Bundesverfassungsgericht | |
Religionsfreiheit | |
Kopftuch | |
Bundesverfassungsgericht | |
Religionsfreiheit | |
Muslime | |
Bremen | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Diskriminierung von Musliminnen: Der Rock war... zu lang | |
Einer muslimischen Schülerin wurde in Nordfrankreich der Zugang zum | |
Unterricht verwehrt. Ihr langer Rock sei ein religiöses Zeichen. | |
Muslima über das Kopftuch-Tragen: „Nur eine Verpackung, mehr nicht“ | |
Das Tuch gehört für viele muslimische Frauen zur Identität. Ein Gespräch | |
über Opferrollen, gute Ausländerinnen und die Emanzipation durch das | |
Verschleiern. | |
Juristischer Streit um den Hijab: Das Kopftuch, das ich meine | |
Die Frau, die für ihr Kopftuch bis nach Karlsruhe zog, hat eine Biografie | |
verfasst. Fereshta Ludin beschreibt eine Geschichte von Missverständnissen. | |
Religionssymbole an Schulen: Das Kopftuch ist frei | |
Das Bundesverfassungsgericht spricht sich gegen pauschale Kopftuchverbote | |
an Schulen aus. Zehn Fragen und Antworten zum Urteil. | |
Muslime zum Kopftuch-Verbot: Endlich Lehrerin sein dürfen | |
Viele Muslime freuen sich über die Aufhebung des Kopftuch-Urteils. Nun | |
hoffen sie auf eine Signalwirkung – auch für andere Berufsgruppen. | |
Reaktionen auf Kopftuchurteil: „Das war überfällig“ | |
Stärkung der Religionsfreiheit, ein richtiger Schritt: Die Reaktionen auf | |
die Entscheidung, Kopftücher nicht pauschal zu verbieten, sind fast überall | |
positiv. | |
Kommentar Neues Kopftuchurteil: Pegida wird jubeln | |
Das Verfassungsgericht erteilt der Ungleichbehandlung der Religionen in der | |
Schule eine Absage. Endlich. Aber es hat Türen für einen Kulturkampf | |
geöffnet. | |
Entscheidung Bundesverfassungsgericht: Kein pauschales Kopftuchverbot | |
Die Karlsruher Richter revidieren ihre Rechtsprechung: Künftig soll eine | |
„konkrete Gefahr“ als Grundlage für ein Kopftuchverbot bei Lehrerinnen | |
gelten. | |
Zoff ums Kopftuch: Kein Ende im Kopftuchstreit | |
Lehrerinnen sollen überall in der Schule Kopftuch tragen dürfen, meinen | |
Muslime in Niedersachsen – und fordern ein Machtwort des Regierungschefs. |