| # taz.de -- Von Dinslaken in den Dschihad: Lost in Lohberg | |
| > Gleich mehrere Männer aus einer früheren Zechenkolonie sind in den Krieg | |
| > nach Syrien gereist. Seither steht Dinslaken unter Salafismus-Schock. | |
| Bild: Welche Zukunft? Die Schließung der örtlichen Zeche vor zehn Jahren brac… | |
| LOHBERG taz | Eyüp Yildiz ist wütend. Seine schmalen Finger malträtieren | |
| das Milchdöschen vor seiner Kaffeetasse, während er sich in Rage redet. | |
| Über den Salafistenstrudel, aus dem seine Heimatstadt Dinslaken nicht mehr | |
| herauszufinden scheint. Über die Medien, die durch den Stadtteil Lohberg | |
| trampeln, um das Schreckbild des jugendlichen Dschihadisten in der | |
| niederrheinischen Provinz aufzustöbern. Über die Beschwichtiger in der | |
| Integrationsszene, die mit Mahnwachen und Toleranzbekenntnissen die | |
| Probleme zum Verschwinden bringen wollen, die der salafistische Extremismus | |
| bereitet. | |
| „Ich habe diese Jugendlichen täglich vor mir, ich weiß, wie die ticken. Die | |
| suchen nach Vorbildern, einem Platz in der Gesellschaft“, sagt Yildiz. „Und | |
| die Salafistenbärte nutzen das aus. Die bieten denen die ganz einfachen | |
| Lösungen, Schwarz-Weiß-Denken, brutalstmögliche Radikalität. Islamistisches | |
| Heilsversprechen. Macht süchtig und behindert das Denkvermögen!“ | |
| Trifft man Eyüp Yildiz zum Kaffee, um sich über deutsche Salafismusprobleme | |
| zu unterhalten, landet man schnell bei großen Gesellschaftsfragen. Der | |
| 46-Jährige arbeitet als Sozialberater beim Internationalen Bund, betreut | |
| dort Jugendliche, die im normalen Ausbildungssystem nicht Fuß fassen | |
| konnten. | |
| Vor allem aber ist Yildiz leidenschaftlicher Lohberger und ebenso | |
| leidenschaftlicher Sozialdemokrat. Und seit letztem Jahr stellvertretender | |
| Bürgermeister von Dinslaken, einer 70.000-Einwohner-Stadt am nördlichen | |
| Rand des Ruhrgebiets. In der medialen Öffentlichkeit seit 2014 besser | |
| bekannt als „Hochburg des deutschen Salafismus“. | |
| ## Hort des Extremismus? | |
| Verantwortlich für diesen Titel ist die sogenannte Lohberger Brigade, eine | |
| Salafistenzelle von rund 25 jungen Männern, die sich seit 2011 in der | |
| ehemaligen Zechenkolonie Lohberg, einem Stadtteil Dinslakens, bilden | |
| konnte. Mehrere Mitglieder der Zelle reisten 2013 nach Syrien, um den IS | |
| beim Morden im Namen des Propheten zu unterstützen. Die Propaganda- und | |
| Gewaltbilder, die die Gruppe im Internet veröffentlichte, zählten zu den | |
| ersten, die der Öffentlichkeit bewusst machten, dass der islamistische | |
| Terror auch aus Deutschland kommt. | |
| Seitdem steht Dinslaken unter Salafismus-Schock. Dem Vorwurf, ein Hort des | |
| Extremismus zu sein, begegnen die politisch Verantwortlichen mit einer | |
| Mischung aus Symbolpolitik und Präventionsaktivitäten. Ein Dinslakener | |
| Appell und Demonstrationen gegen Gewalt wurden organisiert, der | |
| christlich-islamische Dialog wurde wiederbelebt. In Lohberg verstärkte man | |
| die Sozialarbeit. Workshops, die der religiösen Identitätsfindung der | |
| Jugend dienen sollen, schießen seither wie Pilze aus dem Boden. | |
| Yildiz stöhnt. „Die Leute hier brauchen nicht mehr Religion oder | |
| Islamunterricht. Die brauchen Bildung. Warum versuchen wir es nicht mal | |
| wieder mit humanistischer Aufklärung? Immerhin leben wir im Jahr 2015.“ | |
| 100 Jahre sorgte die Zeche in Lohberg für Wohlstand, stabile | |
| Arbeitsverhältnisse und Zuwanderung. Im letzten Drittel des 20. | |
| Jahrhunderts war es vor allem die türkische Community, die die Kohle aus | |
| der Erde holte. Heute verzeichnet der 6.000 Einwohner zählende Stadtteil | |
| mit 50 Prozent die höchste Migrantenquote von Dinslaken. Die Schließung der | |
| Zeche vor zehn Jahren brach der Kolonie das ökonomische Rückgrat. | |
| Man sieht Lohberg die prekäre Situation nicht an. Seinen dörflichen Charme | |
| verdankt es der Gartenstadtarchitektur, nach deren Maßgaben es zu Beginn | |
| des 20. Jahrhunderts errichtet wurde. Die Infrastruktur ist bescheiden, | |
| aber es gibt zwei türkische Supermärkte und einen kleinen Edeka, Teestuben, | |
| Friseur, Apotheke. Einen Dönerimbiss am Marktplatz und die Ditib-Moschee um | |
| die Ecke. Die beim Freitagsgebet aus allen Nähten platzt. Man muss nicht | |
| Deutsch sprechen, um in diesem Mikrokosmos zu leben. | |
| ## „Ich bin hier geboren, wo soll ich mich reinintegrieren?“ | |
| Yildiz ist über die Jahre zum inoffiziellen Integrationsbeauftragten der | |
| türkischen Migranten geworden. Begibt man sich mit ihm auf Streifzug durch | |
| den Kiez, so gibt es ein ständiges Hallo und Händeschütteln. Ob bei | |
| Behördenärger, Alltagsrassismus, Schul- oder Jobproblemen – Yildiz, so | |
| heißt es, kümmert sich. Er wuchs in einem liberalen und bildungsbewussten | |
| Elternhaus auf. | |
| Während der Vater auf dem Pütt malochte, machte der Sohn an einem der | |
| städtischen Gymnasien Abitur, studierte Jura und Sozialwissenschaften. 2014 | |
| wurde er zum zweiten Mal vom Lohberger Wahlkreis in den Rat geschickt, | |
| gewählt mit über 50 Prozent der Stimmen. In Dinslaken ist Yildiz der erste | |
| stellvertretende Bürgermeister mit sogenanntem Migrationshintergrund. Ein | |
| Begriff, den er ebenso wenig mag wie den der Integration: „Ich bin doch | |
| hier geboren, wo soll ich mich denn da reinintegrieren?“ | |
| Trotz seiner Wahlerfolge besteht eine Kluft zwischen Yildiz und dem | |
| muslimischen Mainstream Lohbergs. Als Verfechter eines aufgeklärten | |
| Säkularismus ist er hier eher ein Außenseiter. Als die Ditib-Moschee 2006 | |
| den Kölner Islamisten Pierre Vogel zum Vortrag einlud, nahm kaum jemand | |
| daran Anstoß. Und als 2011 die salafistischen Hassprediger auf dem | |
| Marktplatz auftauchten, um Nachwuchs zu ködern, fanden die Islamvertreter | |
| der Gemeinde das zunächst auch nicht bedenklich – besser, die Jungs | |
| konvertieren, als dass sie in die Kriminalität abrutschen, hieß es damals. | |
| „Wir sind da anfangs naiv gewesen“, sagt Integrationsrätin Nesrin Aydin. | |
| Man müsse die Jugend besser über den Islam und seine Ideale aufklären. Und | |
| Nagihan Kocadag, die für den weiblichen Teil der Moscheegemeinde zuständige | |
| Hodscha, ergänzt: „Die Hassprediger haben dem Salafismus als | |
| Glaubenshaltung großen Schaden zugefügt.“ Denn auch die Ethik des | |
| Salafismus erlaube Gewalt höchstens zur Selbstverteidigung. | |
| ## „Ein Autokrat im demokratischen Mäntelchen“ | |
| In engem Verbund mit diesem religiösen „Traditionalismus“ ist die | |
| Begeisterung für den türkischen Präsidenten Erdogan zu sehen, die laut | |
| Yildiz hier Raum gegriffen hat. „Die konservativen Strömungen gewinnen an | |
| Stärke. In Lohberg genauso wie in Duisburg-Marxloh oder im Berliner | |
| Wedding.“ Viele Türken hier schwärmten für Erdogan, den starken Mann vom | |
| Bosporus. „Ein Autokrat im demokratischen Mäntelchen“, sagt Yildiz. | |
| „Arbeitet seit Jahren daran, den Türken seinen Islam aufzuzwingen.“ Dieser | |
| Konservativismus gehöre zum politischen Nährboden, auf dem der | |
| salafistische Extremismus habe gedeihen können. | |
| Was diese Rückbesinnungstendenzen jedoch integrationspolitisch bedeuten, | |
| das müsse sich auch die deutsche Mehrheitsgesellschaft fragen. „Menschen, | |
| die hier in der dritten, vierten Generation leben, sind immer noch nicht | |
| angekommen. Die leben hier, gründen Familien, sterben hier. Aber ihr Herz | |
| schlägt für diesen neoosmanischen Zampano? Da läuft doch was schief.“ | |
| Was da schiefläuft, darüber denkt Yildiz seit Jahren nach. Eine Antwort hat | |
| er dort gefunden, wo 1975 sein eigener Bildungsweg den Anfang nahm, in der | |
| Marien-Grundschule von Lohberg. | |
| Sie ist die einzige Schule, die in Lohberg noch existiert. 90 Prozent der | |
| Schülerinnen und Schüler kommen aus Einwandererfamilien, für viele ist | |
| Deutsch die Zweitsprache. Das Bildungskonzept setzt vor allem auf | |
| Sprachförderung. 2010 prämierte das NRW-Bildungsministerium die Schule | |
| dafür mit dem „Gütesiegel für individuelle Förderung“. | |
| Doch es gibt Zahlen, über die Stadtteilpfleger öffentlich kaum reden: die | |
| Überweisungsquoten aufs Gymnasium. Die bewegen sich im städtischen Schnitt | |
| bei 35 bis 50 Prozent, an der Lohberger Grundschule dagegen stagnieren sie | |
| seit Jahren auf einem Niveau von 3 bis 8 Prozent. | |
| Yildiz war der Erste, der diese Verhältnisse skandalisierte. „Die Lohberger | |
| Kids sind doch nicht zu blöd fürs Gymnasium“, sagt er. „Aber wenn du eine | |
| solche Homogenisierung erreicht hast, dann lässt sich das auch nicht mit | |
| noch so viel Förderung aufbrechen.“ | |
| Er forderte erstmals 2012, die Schule zu schließen und die Kinder an den | |
| anderen Grundschulen in gemischten Klassen unterzubringen. Es gehe um ein | |
| fundamentaleres Problem als Gymnasialempfehlungen – das der gerechten | |
| Teilhabe: „Wir müssen so früh wie möglich, also in den Kindergärten und | |
| Grundschulen, für Heterogenität sorgen. Damit die Kinder zusammenwachsen, | |
| egal ob sie aus Einwandererfamilien kommen, sozial benachteiligt sind oder | |
| zur Mittelschicht gehören.“ | |
| ## Schließt die Schule? | |
| Schulschließung? Integrationsrätin Gülsüm Yigit hält die Idee für eine | |
| Katastrophe. Individuelle Förderung wie an der Lohberger Grundschule sei | |
| wichtig für die Migrantenkinder, die es in der Leistungsgesellschaft | |
| besonders schwer hätten. Auch Holger Mrosek, als Sozial- und | |
| Jugendhilfeplaner der Stadt seit 2000 für viele Sozialarbeitsprojekte im | |
| Stadtteil verantwortlich, kann der Forderung von Yildiz nichts abgewinnen. | |
| „Wir müssen mehr in die Elternarbeit vor Ort investieren. Und den Kindern | |
| noch mal eine extrem spezielle Förderung zukommen lassen.“ | |
| Für Yildiz sind diese Reaktionen Teil des Problems, nicht der Lösung. „Wir | |
| haben zugelassen, dass in Lohberg eine Blase religiöser und sozialer | |
| Abschottung entstanden ist. Und daran wollen die Stadtteilpfleger offenbar | |
| nicht rühren.“ Im Herbst 2014 forderte er erneut die Schulschließung und | |
| erklärte die gegenwärtige Integrationspolitik für gescheitert: „Wir | |
| verwalten unsere gesellschaftlichen Probleme, schaffen Pufferzonen, in | |
| denen wir uns als Sozialarbeiter und Integrationsvereine einrichten und die | |
| Leute fürsorglich bevormunden. Wo bleibt denn da das große Wir-Gefühl, das | |
| unsere Gesellschaft zusammenbinden soll?“ Mit dieser Heuchelei komme er | |
| nicht mehr klar. | |
| Auch das Milchdöschen nicht. Das liegt längst platt gedrückt in der | |
| Kaffeetasse. | |
| 31 Mar 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Eva Berger | |
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