# taz.de -- IS-Prozess in Düsseldorf: „Ich bin direkt ins Radikale gerutscht… | |
> Nils D. beschreibt seinen Werdegang vom Schüler in Dinslaken zum | |
> Gefängniswärter in Syrien. Er liefert Einblicke in die Strukturen des IS. | |
Bild: Von Dinslaken zum IS und weiter hinter Panzerglas. Was für eine Karriere. | |
Düsseldorf taz | Die schwarz vermummte massige Gestalt zielt mit einer | |
Pistole auf den Kopf des Mannes, der mit dem Gesicht zur Wand steht. Seine | |
Hände sind auf dem Rücken gefesselt, den Kopf hat jemand mit einer Jacke | |
verhängt. „Das sind Sie“, sagt Richterin Barbara Havliza. „Ja“, antwor… | |
Nils D. ruhig. | |
Es ist Donnerstagnachmittag, als Havliza das Foto auf die großen Leinwände | |
im Saal 1 des Düsseldorfer Oberlandesgerichts projiziert. Seit Mittwoch | |
steht D. hier wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen | |
Vereinigung vor Gericht. Von Oktober 2013 bis November 2014 soll der | |
25-Jährige aus Dinslaken beim „Islamischen Staat“, der sich damals noch | |
ISIG nannte, in Syrien gewesen sein. | |
So steht es in der Anklageschrift, die Bundesanwältin Cordula Bitter am | |
Mittwochmorgen verliest. D. sei Gefängnisaufseher des IS gewesen, und auch | |
beim „Sturmtrupp“. Dessen Aufgabe: „Spione und Deserteure aufzuspüren, | |
festzunehmen und ins Gefängnis zu bringen, wenn nötig auch mit | |
Waffengewalt.“ An zehn bis fünfzehn solcher Einsätze soll D. beteiligt | |
gewesen sein. | |
Drei Tage soll die Befragung dauern, die die Richterin nun beginnt. D. ist | |
der erste Syrien-Rückkehrer, der vor Gericht umfassend über das Innenleben | |
des IS aussagen will. Weil er sich vom IS distanziert hat, muss er nicht | |
hinter die Trennscheibe aus Panzerglas, er darf gegenüber der Richterbank | |
Platz nehmen. D. ist ein 140-Kilo-Mann mit dunklen, kurzen Haaren und | |
dezenter Metallbrille. Mit den durchtrainierten Posterboys, mit denen der | |
IS Anhänger in den Dschihad lockt, hat er wenig gemein. | |
## Die Lohberger Brigade | |
„Warum haben Sie sich so verhalten?“, fragt die Richterin jetzt mit Blick | |
auf das Foto, das die Ermittler auf D.s Handy gefunden haben. „Ich weiß | |
nicht, was ich dazu sagen soll“, sagt D. Und dann: „Posing vielleicht.“ D… | |
Szene sei weder angeordnet noch alltäglich gewesen. „Ich weiß auch nicht, | |
was mich geritten hat.“ Das frage sie sich generell, wirft Havliza ein. Mit | |
mütterlicher Strenge führt sie den Angeklagten durch sein Leben. | |
Immer wieder tauchen dabei zwei Männer auf: Philip Bergner und Mustafa | |
Kalayci. Bergner, eine ehemaliger Pizzafahrer, der nach Angaben D.s an | |
einer Psychose erkrankt ist, ist D.s Cousin; die beiden wuchsen „fast wie | |
Brüder“ auf. Bergner ging im Frühsommer 2013 gemeinsam mit Kalayci und | |
mindestens fünf weiteren Männern nach Syrien, ein gutes Jahr später | |
sprengte er sich und zwanzig andere im irakischen Mossul in die Luft. | |
Kalayci wurde bekannt, als er mit einem abgeschnittenen Kopf in der Hand in | |
Syrien für ein Foto posierte. Er soll in Kobani getötet worden sein. Beide | |
gehörten zum Kern der sogenannten Lohberger Brigade – jenen 13 jungen | |
Männern, die von Dinslakens Stadtteil Lohberge aus zum IS zogen, Nils D. | |
soll einer der letzten gewesen sein. Einer von ihnen wird in Syrien gute | |
Kontakte zu dem Drahtzieher der Anschläge von Paris, Abdelhamid Abaaoud, | |
haben. | |
## Abhängen auf dem Spielplatz | |
Als Hauptschüler hängt D. nachmittags mit seinen Kumpeln auf dem Spielplatz | |
ab. „Wir haben gekifft und getrunken“, sagt D. mit klarer, ruhiger Stimme. | |
Unter dem Tisch wippen seine Beine auf und ab. Mit fünfzehn zeugt er ein | |
Kind, das Mädchen ist heute zehn, gekümmert hat sich D. nicht um es. Dann | |
zieht sein Vater „völlig überraschend“ zu Hause aus. D. rutscht ab: | |
Drogendelikte, Diebstahl, Körperverletzung. Er schwänzt die Berufsschule, | |
verliert den Ausbildungsplatz. | |
Der Cousin hat inzwischen den Islam entdeckt, ist konvertiert, trägt weite | |
Kleidung und lässt sich einen Bart wachsen. Regelmäßig trifft er sich mit | |
einer Gruppe, die ein salafistischer Prediger im „Institut für Bildung“ im | |
ehemaligen Ledigenheim der Stadt um sich schart. Keiner will gemerkt haben, | |
wie sich hier eine Gruppe junger Männer zunehmend radikalisierte. | |
Philip will mit seinem Cousin über Religion reden, zuerst kann D. nichts | |
damit anfangen. Und beginnt doch, den Koran zu lesen, sich | |
Salafistenprediger wie Pierre Vogel im Internet anzuschauen. „Irgendwann | |
war ich überzeugt, dass der Islam die wahre Religion ist.“ Plötzlich hat | |
sein Leben einen Sinn. D. konvertiert, geht mit Philip zum „Institut für | |
Bildung“, wo auch Mustafa längst Stammgast ist. „Ich bin direkt ins | |
Radikale gerutscht.“ | |
Während D. eine Gefängnisstrafe absitzt, reist der Kern der Gruppe – dessen | |
Umfeld aus bis zu 30 Personen besteht – 2013 nach Syrien aus. Einige Monate | |
später fährt D. ihnen nach. „Mein Ziel waren Philip und die Gruppe“, sagt | |
er. Wären die nicht beim IS, sondern anderswo gelandet, wäre er ihnen auch | |
dorthin gefolgt. | |
In einem kleinen Ort bei Aleppo arbeiten die Lohberger als Bodyguards für | |
den Emir, manchmal gehen sie an die Front. D. zieht bei ihnen ein. Mustafa | |
zeigt D., der sich jetzt Abu Ibrahim nennt, wie man mit der Kalaschnikow | |
schießt, einen anderen aus der Gruppe besucht er im Trainingscamp. Dort | |
sieht er, wie ein angeblicher Spitzel des Assad-Regimes mit zwei Schüssen | |
hingerichtet wird. „Ich war geschockt“, sagt D. An der Strafe gezweifelt | |
aber habe er nicht. Treueeid? IS-Ausweis? Kampf? D. verneint. Er habe sich | |
dem IS nicht unterstellt. Noch nicht. In dieser Zeit habe er „viel | |
rumgehangen“. | |
## Der Treueeid | |
Im Januar wird Philip verletzt, ein Kämpfer der Freien Syrischen Armee | |
schießt ihm ins Gesicht. „Er sah schlimm aus, der Kiefer war weg.“ D. | |
kümmert sich um seinen Cousin, bis dieser ins Krankenhaus abtransportiert | |
wird. Wenn er rausgeht, nimmt D. seine Kalaschnikow mit, er hat jetzt auch | |
eine Pistole und zwei Handgranaten. Als der IS den Ort räumen muss, landen | |
die Lohberger mit 500 bis 1.000 anderen Kämpfern, darunter auch Kinder | |
zwischen zehn und fünfzehn, in einem Militärstützpunkt. In Gruppen schwören | |
sie den Treueeid, dann werden sie für unterschiedliche Aufgaben eingeteilt. | |
Beim Eid habe er die „Klappe gehalten“, sagt D. Und doch: „An diesem Tag | |
wurde ich Mitglied des IS. Ich wurde eingeteilt, ich stand zur Verfügung.“ | |
Den Treueeid schwört er, als im Juni 2014 das Kalifat ausgerufen wird. | |
Ein tschetschenischer Sprengstoffexperte zeigt D., wie man | |
Sprengstoffgürtel baut; wenn D. rausgeht, muss er ihn tragen. Die | |
Anspannung wächst – wegen der Bedrohung von außen, aber auch innerhalb des | |
IS. Ein Emir nach dem nächsten wird abgesetzt, bei der Hinrichtung ihres | |
Chefs muss die Truppe zuschauen. „Die haben am perfekten Polizeistaat | |
gebaut“, sagt D. | |
Er wird mit anderen Lohbergern Gefängniswärter in der syrischen Stadt | |
Manbidsch, dort ist das Foto mit der Pistole entstanden. D. hat jetzt einen | |
orangefarbenen IS-Ausweis, der ihn als Mitglied der „Spezialtruppe“ | |
ausweist. Aus dem Gefängnis dringen die Schreie der Gefolterten. Den | |
Gefangenen werden die Hände auf dem Rücken gefesselt, daran werden sie dann | |
an Stangen an der Decke aufgehängt. Andere werden mit Stöcken geschlagen | |
oder in kleine Kisten gesperrt, in denen man gerade aufrecht stehen kann. | |
Später werden die Kisten weiter verkleinert. „Wir haben die Schreie bis in | |
unser Haus gehört. Dauernd“, sagt D. Einmal muss er eine Leiche aus dem | |
Krankenhaus abholen und vergraben, er nimmt an, dass der Mann an den Folgen | |
der Folter gestorben ist. Selbst will D. keine Gewalttaten begangen haben. | |
## Hinrichtungen auf dem Marktplatz | |
Regelmäßig finden Hinrichtungen auf dem Marktplatz statt, die Gefangenen | |
werden vor jubelnden Zuschauern mit Kopfschüssen getötet oder mit einem | |
Schwert geköpft. Zehn Hinrichtungen habe er gesehen, sagt D. „Alltag“ sei | |
das gewesen. Die Leichen werden gekreuzigt und drei Tage hängen gelassen, | |
„als Warnung“. | |
Dann fängt D. beim „Sturmtrupp“ an. Die Gruppe rückt aus, wenn jemand | |
desertieren will oder denunziert wird, jagt ihn und nimmt ihn fest. Meist | |
habe er vermummt im Auto gesessen und die Gefangenen bewacht, währen die | |
anderen die Wohnung durchsuchten. Manchmal seien die Frauen und Kinder auf | |
die Straße gerannt und hätten geweint und geschrien, sagt D. Einige Male | |
habe er darüber gelacht. | |
Wie es war, als er erfuhr, dass sein Cousin ein Selbstmordattentat begangen | |
hat, will die Richterin wissen. „Mir ging es scheiße“, sagt D. Die anderen | |
Lohberger hätten sich gefreut: Philip sei jetzt ein Märtyrer. „Da war ich | |
schon dabei, meine Ausreise zu planen“, sagt D. Er will sich für den Kampf | |
in Europa melden. Der Prozess wird am Mittwoch fortgesetzt. | |
24 Jan 2016 | |
## AUTOREN | |
Sabine am Orde | |
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