# taz.de -- Junge Muslime in Deutschland: Das Dilemma der anderen | |
> Wie werden aus Jugendlichen Extremisten? Warum haben es Muslime in der | |
> Diaspora besonders schwer? Beobachtungen eines Sozialarbeiters. | |
Bild: Gebetsraum in der Fazl-e-Omar-Moschee der Ahmadiyya-Gemeinde in Hamburg-L… | |
Klopfen an der Tür. Vorsichtig, fast schüchtern tritt Nabil* in mein Büro. | |
Ich weiß nicht, ob ich mich freuen oder wütend sein soll. Als Bonner | |
Jugendsozialarbeiter kenne ich Nabil seit über drei Jahren. Eine Richterin | |
entließ ihn 2012 aus der Haft mit der Auflage, dass er wöchentlich zehn | |
Stunden an meiner Seite verbringen muss. In dieser Zeit verschwammen die | |
Grenzen zwischen professioneller Distanz und Freundschaft zunehmend. | |
Wir arbeiteten gemeinsam an seiner Zukunft, suchten Praktika, litten bei | |
jeder Absage und waren außer uns vor Freude, als im Sommer 2015 ein | |
Unternehmen eine Ausbildung anbot. Endlich am Ziel, dachte ich. | |
Umso heftiger war für mich die Enttäuschung, als ich ihn nach Beginn der | |
Ausbildung anrief, um zu fragen, wie die ersten Tage verlaufen seien, und | |
er mir antwortete: „Ich habe die Ausbildung nicht begonnen, meine Ziele | |
haben sich geändert. Ich muss fünfmal am Tag in der Moschee beten, und das | |
Freitagsgebet darf ich auch nicht verpassen. Ich kann nicht arbeiten, wenn | |
dies meiner Religion im Weg steht.“ | |
Habe ich etwas verpasst? Hätte ich etwas merken müssen? Ich habe nur einen | |
jungen Mann gesehen, der nicht mehr straffällig wurde, dafür ruhiger, | |
höflicher und nachdenklicher. Der sich mehr mit sich beschäftigte und sich | |
regelmäßig mit einer Gruppe junger Männer traf, um zu beten und etwas über | |
den Islam zu lernen. Jeder Versuch, ihn umzustimmen, war zwecklos. | |
Gebetsmühlenartig ratterte er herunter, warum man in dieser Gesellschaft | |
nicht arbeiten muss, ja nicht mal darf: weil wir unter Ungläubigen leben, | |
weil wir Frauen nicht die Hand geben dürfen, weil das Zusammensein mit | |
Nichtmuslimen in Versuchung führt, Dinge zu tun, die „haraam“ (verboten) | |
sind. | |
Wie kann ein junger Mensch, der gerade die ersten Erfolge im Leben | |
verzeichnet, eine derartig lebens- und gesellschaftsfeindliche Haltung | |
einnehmen? Wie kann seine Interpretation vom Islam so dermaßen weit von | |
meiner entfernt sein? | |
Als im Sudan geborener und dort aufgewachsener Muslim empfand ich den Islam | |
immer als friedliche, den Menschen zur Vernunft und Selbstreflexion | |
aufrufende Lebensweise – als lebensbejahenden Glauben. Jeder Reisende, der | |
an unserem Haus vorbeikam, wurde zum Essen eingeladen. | |
Das Gebet in der Moschee war kein Zwang, sondern ein Zusammenkommen an | |
einem wundervollen Ort. Im weitläufigen Saal hinter den Betenden konnte man | |
mit anderen Kindern hervorragend Fangen oder leise Fußball spielen, | |
begleitet von der beruhigenden Stimme des vorbetenden Imams. | |
## Zwiespalt in der Diaspora | |
Natürlich ist es in der Diaspora für junge Menschen schwieriger, eine | |
islamische Identität zu entwickeln, als in einer mehrheitlich muslimischen | |
Gesellschaft. Der Verzicht auf Alkohol, das Fasten während des Ramadan und | |
das tägliche Gebet machen viele junge Muslime in der deutschen Gesellschaft | |
schnell zum Außenseiter. Sie finden sich im persönlichen Zwiespalt wieder: | |
„zur islamischen Identität stehen“ versus „dazugehören wollen“. | |
Mit der Zeit lernte ich die Fragen und Ängste muslimischer Jugendlicher | |
kennen: „Ich respektiere diese Leute, die Bart und Sunna-Klamotten tragen, | |
aber ich weiß, dass ich zu schwach bin, um so zu leben wie die.“ Oder: „Ich | |
wäre gern religiöser, aber ich gehe zu gern feiern und kann auf vieles, was | |
im Islam verboten ist, nicht verzichten.“ Diese Aussagen zeigen, in welchem | |
Dilemma sich die jungen Menschen befinden. | |
Viele vergessen dabei, dass Andersartigkeit etwas völlig Natürliches ist | |
und sie auszuhalten und sich ihr konstruktiv zu stellen viel mehr Kraft und | |
Überzeugung bedarf als das Abkapseln in Parallelwelten, in der alle die | |
gleiche Weltanschauung teilen. Leider sind genau diese Jugendlichen, meist | |
zwischen 16 und 25 Jahren, besonders häufig diejenigen aus instabilen | |
Familienverhältnissen mit geringem Bildungsniveau, leichte Beute für jene, | |
die den Islam in erster Linie als hart, unerbittlich und ausgrenzend | |
propagieren. | |
Immer häufiger sehe ich mich privat und in den Medien mit Zitaten | |
konfrontiert, die den Islam als offensichtlich gewaltbereite und | |
Andersgläubigen gegenüber hasserfüllte Lebensweise darstellen. Diese | |
Aussagen sind teilweise fundiert und aus dem Koran oder der Sunna | |
entnommen, aber eben auch aus den jeweiligen Kontexten gerissen. Dennoch | |
lassen sie auch mich in Erklärungsnot geraten. | |
Es ist die Pflicht der in der deutschen Gesellschaft lebenden Muslime, sich | |
der Frage zu stellen, warum so viele muslimische Jugendliche für eine | |
derart extremistische Ideologie offen sind. Es wird Zeit, dass sich die | |
muslimischen Institutionen, Imame und jeder Muslim und jede Muslima in | |
dieser Gesellschaft mit islamkritischen Fragen konstruktiv | |
auseinandersetzen. | |
Es nützt nichts, wenn wir diese Fragen als Angriffe abtun und uns in der | |
Opferrolle sehen. Vielmehr müssen wir uns der Situation stellen und | |
Antworten in unserer Religion finden, die ein Zusammenleben auf Augenhöhe | |
ermöglichen und die gegenseitige Skepsis abbauen. Eine Voraussetzung dafür, | |
die ich bei vielen Muslimen vermisse, ist die Bereitschaft, Kritik an ihrer | |
Religion zuzulassen. Das Durchleben eines innerislamischen | |
Reflexionsprozesses zu kritischen Fragen gegenüber dem Islam wäre ein | |
nötiger erster Schritt. Wie steht der Islam etwa zur Zwangsehe, zu | |
bireligiösen Ehen oder Atheisten? | |
Ein entschiedenes Entgegentreten gegen ausgrenzende, gewalttätige | |
Ideologien ist notwendig. Dies darf weder halbherzig noch aufgesetzt sein. | |
In Moscheen muss deutlich kommuniziert werden, dass der Islam nicht zur | |
Verurteilung Andersgläubiger und erst recht nicht zur Gewalt aufruft, | |
sondern zu Offenheit, freundschaftlichem Austausch und Frieden. Hier müssen | |
klare Statements gesetzt werden, die in vielen Moscheen leider häufig | |
fehlen. | |
## Etwas Besonderes sein | |
Eine solche innerislamische Debatte in Deutschland würde auch Jugendliche | |
wie Nabil weniger empfänglich für hasserfüllte Ideologien machen. Wäre er | |
in der Moschee einem Imam begegnet, der ihm die Grundlagen des Islams, Güte | |
und Barmherzigkeit gegenüber allen Geschöpfen und Selbstkontrolle gegenüber | |
sich und seinen Bedürfnissen, vermittelt hätte, dann hätte es ihn | |
möglicherweise nicht in eine derart extreme Richtung gezogen. | |
Aber auch dann wäre es nicht sicher gewesen, denn er und ich, wir haben uns | |
mehrfach in der Woche gesehen und auch über Religion und Glauben | |
gesprochen, und dennoch habe ich seine Radikalisierung weder kommen sehen, | |
noch konnte ich ihn später von einer anderen Haltung überzeugen. | |
Es muss also etwas derart Faszinierendes und Erfüllendes in diesen extremen | |
Ideologien liegen, dass jegliche Versuche, die jungen Menschen umzustimmen, | |
zum Scheitern verurteilt sind. Je mehr ich im Gespräch mit Nabil stand, | |
desto deutlicher wurde, dass seine neue Lebensart ihm das Gefühl | |
vermittelte, er sei etwas Besonderes. Jetzt bist du wer, du bist im Recht, | |
du darfst urteilen und verurteilen. Du stehst auf der richtigen Seite. | |
Auf einmal ist aus einem Verlierer ein Gewinner geworden. Diese Überzeugung | |
verleiht ihm Selbstbewusstsein und liefert einfache Antworten auf komplexe | |
Fragen. Durch Äußerlichkeiten erhält man Anerkennung und Wertschätzung, | |
etwas, was viele dieser Jugendlichen nie bekommen haben. Wer schon einmal | |
am Rand der Gesellschaft gestanden hat, der hat kein Problem damit, an | |
einem anderen Rand zu stehen. Immerhin ist man da nicht einsam. | |
Nachdem Nabil es sich auf meinem Bürostuhl bequem gemacht hat und wir uns | |
kurz über dieses und jenes unterhalten, frage ich ihn nach dem Grund seines | |
Kommens. „Ich habe geheiratet, alhamdulillah, sie ist komplett | |
verschleiert.“ | |
Dabei grinst er mich triumphierend an und erwartet wahrscheinlich, dass ich | |
ihm gratuliere, was ich förmlich tue. Er zeigt mir einen Schlüssel und | |
sagt: „Das ist der Hausschlüssel, ich habe von außen abgeschlossen, und sie | |
darf ohne mein Wissen nicht das Haus verlassen.“ Mein leerer Blick wandert | |
aus dem Fenster und ich fange von Neuem an nachzudenken. | |
*Name geändert | |
19 Feb 2016 | |
## AUTOREN | |
Younis Kamil | |
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