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# taz.de -- Überlebender über Genozid an Armeniern: „Wen interessiert meine…
> Der 105-jährige Movses Aneschyan hat den Völkermord an den Armeniern
> überlebt. Flucht und Neuanfang prägten ihn.
Bild: Der Berg Ararat – Symbol der verlorenen Heimat der Armenier
„Ich möchte so lange leben, bis die Türkei ihre Schuld eingesteht“, sagt
Movses Aneschyan. In diesem Jahr feiert er seinen 105. Geburtstag. Feiern
ist nicht seine Stärke, zu überleben schon. Genau 100 Jahre sind seit dem
Völkermord an den Armeniern in Osmanischen Reich vergangen. Etwa 1,5
Millionen Menschen starben bei Massakern und auf Todesmärschen. Auch der
damals fünfjährige Movses musste marschieren. Jahrelang irrte der Junge
umher, um einen sicheren Ort zu finden. Es ging um Leben und Tod. 1947
verschlug es ihn schließlich in den Südkaukasus, nach Armenien.
Movses geht gebeugt. Er hat weißes Haar und blaue, tief liegende Augen, die
ständig tränen; er trocknet sie mit einem Tuch. Spricht er aber, verblassen
die Gebrechen des Alters. Movses Aneschyan wurde 1910 im türkischen Kabuse
geboren, an der nordöstlichen Mittelmeerküste, die an Syrien grenzt. Heute
heißt die Region Hatay – eine türkische Provinz mit der Hauptstadt Antakya,
dem früheren hellenistische Antiochia.
1915 sollten alle armenischen Christen aus dem Osmanischen Reiches
deportiert werden – darunter auch die Bewohner von Kabuse. „An dem Tag, an
dem die türkischen Gendarmen unser Dorf überfielen, war ich mit meinem
Vater zu Hause. Meine Mutter war mit meinen zwei Schwestern im Nachbardorf
bei ihren Eltern“, erzählt Movses. „Mein Vater und ich wurden gezwungen,
auf einen Todesmarsch an die syrische Küste zu gehen.“
Meist konnten sich die Armenier nicht gegen die jungtürkische Armee zur
Wehr setzen, aber einmal gelang es doch. Umgeben von mehreren Dörfern
erhebt sich der Berg Musa, der Mosesberg, 25 Kilometer von Antakya. Etwa
5.000 Bewohnerinnen und Bewohner aus sechs Dörfern erklommen den 1.355
Meter hohen Gipfel und retteten nach einem 53-tägigen Guerillakampf ihr
Leben. Auf dem Gipfel hissten sie eine Rotkreuzflagge. „Die Christen sind
in Gefahr“ stand darauf. Die französische Marine brachte etwa 4.000
Armenier nach Port Said in Ägypten in Sicherheit.
„Es gibt ein Buch, das unsere ganze Geschichte erzählt“, sagt Movses
Aneschyan, aber der Name des Autors – er meint Franz Werfel – ist ihm
entfallen. Werfels Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ erschien im
November 1933. Die Nationalsozialisten in Deutschland verboten das Buch im
Februar 1934.
## Leben im „Araberland“
Nach dem Todesmarsch war der fünf Jahre alte Movses mit seinem Vater
unterwegs zum Lager Deir al-Sor in der syrischen Wüste. Dort wurden die
Armenier, die bis dahin überlebt hatten, zusammengetrieben. Movses kam in
Deir al-Sor jedoch nie an, auf dem Weg dorthin kaufte ein arabischer
Bekannter seines Vaters die beiden bei einem türkischen Soldaten frei. Bis
zum Ende des Ersten Weltkrieges lebten sie im „Araberland“, so nennt er es.
„Nachdem die Franzosen den Krieg gewonnen hatten, durften wir wieder in
unsere Heimat zurück“, sagt Movses. Sandschak Alexandrette, wie das Gebiet
am Musa-Berg damals hieß, kam nach dem Ersten Weltkrieg unter französische
Verwaltung. Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 wurde Sandschak
Alexandrette dann aber den Türken überlassen. Diesmal verloren die Armenier
unwiderruflich ihre Heimat – auch Movses.
„Ich kann mich nicht erinnern, wann genau wir in den Libanon gekommen sind.
Der Weg dauerte lange“, erzählt Movses. In der Nähe von Beirut gründeten
Armenier, die alle aus der Gegend um den Musa-Berg stammten, das Dorf
Ajntschar, bis heute eine der bedeutendsten armenischen Gemeinden im
Libanon.
## Ziegen als Rettung
„Wir kamen in einer Wüste an. Um nicht zu verhungern, hielten wir Ziegen“,
sagt Movses. „Ich war damals jung und stark, lief hinter den Ziegen her und
suchte mir immer die mit den größten Zitzen aus, weil sie am meisten Milch
gaben. Ich molk sie und trank Milch. Manchmal aß ich ein Stück Brot dazu,
das ich mir extra aufgespart hatte. Doch das köstlichste Mittagessen war
immer Ziegenmilch mit Feigen“, man sieht, wie ihm das Wasser im Mund
zusammenläuft. „Ach“, sagt er, „ich würde so gerne noch einmal Ziegenmi…
aus dem Araberland trinken.“
Schon bald musste Movses seine Ziegen im Libanon verlassen. Mit seiner Frau
Iskuhi und zwei Söhnen machte er sich erneut auf den Weg, diesmal ins
sowjetische Armenien. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die sowjetische
Regierung die Bürger im Ausland aufgerufen, in die sowjetische Heimat zu
kommen. Im Rahmen der Rückholaktion wanderten auch Armenier ein, die Opfer
der türkischen Deportationen geworden waren.
Im Juni 1946 legte ein Schiff aus Beirut in der georgischen Hafenstadt
Batumi an. Dann ging es für die Auswanderer mit der Bahn weiter nach
Jerewan. Etwa 100.000 Armenier kamen von 1946 bis 1948 nach Armenien, vor
allem aus dem Libanon, aus Syrien, Iran und Griechenland.
Bald jedoch begann eine neue Welle der Repression, nun in der Sowjetunion.
Die eingewanderten Armenier wurden wegen Spionage für das feindliche
Ausland angeklagt. Deshalb stoppte die sowjetische Regierung die
Rückführungen. Erst 1953, nach dem Tod von Josef Stalin, wurden sie wieder
aufgenommen, jedoch in viel geringerem Umfang.
Movses verschlug es mit seiner Frau Iskhuhi und zwei Söhnen in das Dorf
Woskehat, 20 Kilometer von der Hauptstat Jerewan entfernt. Dort wurde eine
Sowchose gegründet, ein landwirtschaftlicher Großbetrieb in der
Sowjetunion.
## Neuanfang als Gärtner
In der neuen Heimat lernte er neu zu leben. Das Klima war ideal für den
Anbau von Weintrauben und Aprikosen. Dann eben keine Ziegen. Movses wurde
Gärtner. Kurz vor der Rente bekam er als einer der Besten in seinem Beruf
eine Medaille überreicht.
„Als wir ankamen, war das Dorf im Aufbau. Viele schliefen im Pferdestall.
Aber ich bekam ein Haus, weil wir zwei Kinder hatten. Unser Haus hatte
nackte Wände, keine Türen, keine Fenster. Die haben wir erst später
eingebaut“, sagt Movses.
Mehrere Jahre versuchte das Ehepaar vergeblich, weiteren Nachwuchs zu
bekommen. Dann wurden doch noch vier Kinder geboren. „Der allmächtige Gott
hat unsere Bitte schließlich erhört“, sagt Movses, der den Namen des
Propheten Mose trägt.
Auch seine Söhne sind nach Heiligen aus der Bibel benannt: Abraham – der
Älteste, jetzt 78 Jahre alt –, Josef, Johannes und Gabriel. Seine jüngere
Tochter heißt Nektar, die ältere Warduhi, was Rose bedeutet.
Movses und seine zehn Jahre jüngere Frau Iskuhi wohnen in einem Haus mit
vier Zimmern. Auch sein jüngster Sohn Gabriel und dessen Frau Satenik leben
hier. In einem der Zimmer liegt Iskuhi im Bett. Unter ihrem Kopftuch gucken
lange weiße Haare hervor. Seit fünf Monaten kann sie nicht mehr aufstehen.
Über ihrem Kopf an der Wand hängt ein Kreuz, neben dem Kreuz ein
Christusbild. In der Ecke steht ein Tisch mit Medikamenten, Süßigkeiten und
einem großen Topf, in dem Kichererbsen eingeweicht werden.
Beheizt wird das Zimmer mit einem kleinen Holzofen. Iskuhi kann sich nicht
mehr lange unterhalten, sie hört schlecht, doch über eine Begrüßung freut
sie sich sehr. „Meine Frau hat auf mich und meine Kinder aufgepasst. Jetzt
sind wir an der Reihe. Die Last für sie war immer groß. Sechs Kinder zur
Welt bringen, allein das reicht, um eine Frau früh altern zu lassen“, sagt
Movses und geht ins Wohnzimmer, wo Gabriel Kaffee trinkt.
Gabriel arbeitet auf einer Baustelle und fährt Taxi, damit verdient er
genug Geld, um die Familie zu ernähren. Seine Frau hat keine Arbeit. Der
Haushalt, die Pflege der kranken Schwiegermutter und die Gartenarbeit sind
kräftezehrend genug.
## Verlorene Heimat Ararat
Vor dem Haus wachsen Weintrauben, Movses hat sie gepflanzt. Weißer Muskat
ist seine Lieblingssorte. Er kann sich nicht mehr um die Trauben kümmern.
Das machen jetzt eigentlich die anderen, aber vor zwei Jahren haben sie
zuletzt geerntet. Da kam Movses 25-jähriger Enkel Vardan bei einem Unfall
auf einer Baustelle ums Leben. Seitdem vertrocknen die Weintrauben im
Garten.
Vardan war der jüngste Sohn von Gabriel und Satenik. Ein großes Bild von
ihm hängt an einer Wand im Wohnzimmer. „Er war die Sonne in unserem Haus.
Jetzt ist es wieder dunkel bei uns“, sagt Satenik und fängt an zu weinen.
Nicht weit vom Haus ist der Friedhof. Fast jede Woche besuchen die Eltern
dort ihren Sohn. Neben dem Grabstein hat Gabriel einen zwei Meter hohen
Kreuzstein und einen Trinkbrunnen bauen lassen. Die Fläche zwischen den
grauen Steinen ist mit Rosen bepflanzt.
Das Dorf Woskehat liegt nicht weit entfernt von der türkischen Grenze.
Nachts sieht man die erleuchtete türkische Militärbasis auf der anderen
Seite am Fuße des Berges Ararat. Der biblische Berg steht direkt an der bis
heute geschlossenen armenisch-türkischen Grenze. Seit einer willkürlichen
sowjetischen Entscheidung von 1921 gehört er zur Türkei, die für Armenier
nur schwer erreichbar ist.
Für die Armenier ist der Ararat nach dem Völkermord und der Vertreibung
1915 zu einem Symbol für ihre verlorene Heimat geworden. Movses Aneschyan
erinnert er jedoch auch an den Berg Musa, obwohl die beiden Massive ganz
unterschiedlich aussehen. Überhaupt sind der Ararat und der Berg Musa für
alle Armenier, egal wo sie leben, Orte der Sehnsucht und Zeugen des
Schreckens von damals.
## Hirten und Demokraten
„Bis heute kann ich nicht verstehen, wie die Türken so brutal mit den
Armeniern umgehen konnten. Sich dafür zu entschuldigen wäre eine
menschliche Geste. Genau wie zu verzeihen. Wie aber kann ich Türken
verzeihen, die leugnen und weiter drohen“, sagt Movses. „Ich fordere, dass
die Verbrechen an den Armeniern vor Gericht kommen. Aber wen interessiert
meine Forderung? Vielleicht noch am ehesten die Deutschen, weil sie den Mut
gefunden haben, sich bei den Juden für den Holocaust zu entschuldigen“,
sagt Movses.
Im Fernsehen verfolgt er alle Berichte über die Anerkennung des Völkermords
an den Armeniern. „Sowohl vor 100 Jahren als auch heute guckt die
demokratische Welt ausschließlich auf die Türkei. Für die Armenienfrage
interessieren sich nur wenige.“
Von der demokratischen Welt macht sich der 105-Jährige eigene
Vorstellungen. „Der Demokrat wie damals der Kommunist versucht, die
Bevölkerung zu überzeugen“, sagt Movses und erzählt eine Anekdote. „Einm…
besucht ein Demokrat Syrien. Dort trifft er einen Jungen, der Schafe und
Ziegen hütet. Der Demokrat macht sich über den Jungen lustig und sagt, dass
es in der demokratischen Welt keine Hirten gebe und die Jungen statt
Schafen und Ziegen schöne Mädchen hätten und Theater besuchten. Der junge
Hirt geht zu seinem Vater und teilt ihm mit, dass er ab heute kein Hirt
mehr sei und stattdessen ein Demokrat werden wolle. Der Vater fragt
erschrocken, wer sich jetzt um die Herde kümmern solle. Sehen Sie, was
heutzutage in Syrien passiert, seit die Demokraten angefangen haben, sich
dort einzumischen.“
Auf seine alten Tage wird Movses Aneschyan in seinem Land noch berühmt.
Seit dem 21. April hängen Fotos von ihm in einer Ausstellung in Jerewan mit
dem Titel „Die Überlebenden“. Nazik Armenakyan, eine armenische Fotografin,
arbeitet seit 2005 an diesem Dokumentationsprojekt. Sie hat Armenier, die
den Völkermord 1915 überlebt haben, fotografiert und historische Bilder
archiviert. Kaum ein Zeitzeuge kann die Ausstellung noch besuchen. Die
Menschen leben nicht ewig. Movses kann es noch.
26 Apr 2015
## AUTOREN
Tigran Petrosyan
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