# taz.de -- Nepal nach dem Erdbeben: Schock und Schutt | |
> Die internationale Hilfe läuft, aber kommt sie bei den Hilfsbedürftigen | |
> an? „Auch in der Not hat sich nichts geändert“, sagt ein Nepalese bitter. | |
Bild: Das Erdbeben hat die Armen getroffen, in den entlegenen Regionen sollen 9… | |
KATHMANDU taz | Die Haut seiner Hände ist aufgerissen vom stundenlangen | |
Graben. Seit dem frühen Morgen wühlt Prem zwischen grauen Betonbrocken, | |
roten Ziegelsteinen und geborstenen Holzplanken. „Hier muss unser | |
Reisvorrat liegen“, sagt er. | |
Der 63 Jahre alte Familienvater kniet auf einem meterhohen Schutthaufen, es | |
ist sein Haus – zumindest, was davon seit dem 25. April übrig ist. Sein | |
ganzes Leben hat Prem hier verbracht. Nun ist alles zerstört, innerhalb | |
weniger Sekunden. „Das hier ist mein Leben.“ Seit vergangenen Samstag: ein | |
einziger Trümmerhaufen. | |
Eineinhalb Wochen sind vergangen, seit ein verheerendes Erdbeben der Stärke | |
7,8 große Teile Nepals zerstört hat. Offiziellen Angaben zufolge sind | |
mindestens 7.600 Menschen ums Leben gekommen, aber man rechnet mit weit | |
mehr. Denn noch immer haben die Helfer nur wenige Informationen aus den | |
abgelegenen Regionen des Gebirgsstaates. „Dort sind 90 Prozent der Häuser | |
zerstört. Man muss mit vielen weiteren Toten rechnen“, sagt Felix Neuhaus, | |
Nothilfekoordinator der Hilfsorganisation AWO International. | |
Doch Prem und seine Familie leben nicht in einem der abgelegenen Dörfer, | |
die meist nur über tagelange Fußmärsche zu erreichen sind. Prems Familie | |
lebt in Bhaktapur, einer kleinen Stadt weniger als 20 Kilometer vom | |
Wohnsitz des nepalischen Premierministers in der Hauptstadt Kathmandu | |
entfernt. Knapp 81.000 Einwohner leben hier an den Ufern des | |
Hanumante-Flusses, rund zwei Drittel sind wie er einfache Bauern. Hinter | |
ihren Häusern aus grauen und roten Ziegelsteinen haben sie kleine Parzellen | |
Ackerland, auf denen sie Kohl, Mais, Weizen oder Reis anbauen. Das Leben | |
ist einfach und hart. | |
## „Wo ist unsere Regierung?“ | |
„Wir sind arm“, sagt Prem. „Aber das war unser Glück.“ Denn als am 25. | |
April um 11.56 Uhr mittags die Erde zu beben begann, waren er und seine | |
Familie draußen auf dem Feld. Die Kohlköpfe waren kugelrund, die Blätter | |
saftig grün, für die Familie höchste Zeit, das Gemüse vor dem anstehenden | |
Sommermonsun zu ernten. „Wir können es uns nicht leisten, dass jemand zu | |
Hause bleibt. Bei uns müssen alle aufs Feld und anpacken.“ | |
Knapp 90 Sekunden lang bebte an jenem Samstag die Erde. Prems Familie | |
musste hilflos mit ansehen, wie ihr Haus, das Haus ihrer Verwandten und | |
etliche umliegende Gebäude in sich zusammenfielen. Bhaktapur liegt mitten | |
im dicht besiedelten Kathmandutal – und damit in der Region, die | |
offiziellen Angaben zufolge nach dem Beben am besten von Helfern | |
erschlossen wurde. Prem hat keinen einzigen gesehen. Er erzählt von | |
Hubschraubern auf dem Weg in die Berge, um dort ausländische Touristen zu | |
bergen. Und von Rettungsfahrzeugen, die mit lauten Sirenen in benachbarte | |
Bezirke fahren. Er schüttelt den Kopf. „Wo ist unsere Regierung? Wo!“, | |
schreit er und bricht in Tränen aus. | |
Sein Bruder Krishna eilt herbei. „Was sollen wir machen?“, fragt Krishna. | |
„Wir haben nichts. Und keiner hilft uns.“ Krishna zeigt auf eine vier mal | |
vier Meter große Plastikplane, die zwischen zwei kleinen Bäumen aufgespannt | |
ist. „Das ist alles, was wir bekommen haben. Sonst nichts.“ Jede Nacht | |
drängen sich 15 Menschen unter dieser blauen Plane, von Prems dreijährigem | |
Enkel bis zu dessen 84-jährigem Urgroßvater. | |
## Mangelnde Koordinierung | |
Prems Großfamilie ist nicht allein mit ihrer Klage über die Regierung. „Wir | |
haben unsere Behörden hier im Distrikt um Hilfe gebeten. Die haben zu uns | |
gesagt: ’Geht nach Hause, wartet da auf uns, wir kommen zu euch‘ “, erzä… | |
Prems Nachbar. „Aber sie sind nicht gekommen. Keiner.“ Immer häufiger ist | |
zu hören, dass Hilfsgüter ungleichmäßig verteilt werden. Menschen mit | |
Zugang zu Geld und Macht würden schneller Wasser und Nahrung erhalten. | |
Derweil klagen internationale Organisationen über mangelnde Koordinierung. | |
Angesprochen auf die Zusammenarbeit mit der Regierung, sagt Felix Neuhaus | |
nur: „Sie geben sich Mühe.“ | |
Auch zehn Tage nach dem schweren Beben ist in der Hauptstadt Kathmandu die | |
Katastrophe allgegenwärtig. Alltag gibt es für die Menschen nicht, die Not | |
bestimmt ihren Tagesablauf. Viele suchen in den Trümmerhaufen nach Essen | |
und Trinken, Rettungstrupps bergen Tote, andere graben nach Kleidung und | |
anderen nützlichen Dingen. Einige kleine Geschäfte haben wieder geöffnet, | |
doch das sind Ausnahmen. Zu tief sitzt der Schock, und zu groß ist noch | |
immer die Angst, wieder in die Häuser zurückzukehren. | |
Dafür ist die Hilfsbereitschaft aus dem Ausland überwältigend. Eng getaktet | |
landen täglich am Flughafen Tribhuvan riesige Militärtransporter und | |
bringen tonnenweise Wasser, Nahrung, Decken und Medikamente. Allerdings | |
kommen die Hilfsgüter nur schleppend oder gar nicht bei den Menschen an. | |
## Bröckelnde Landebahn | |
Ein Grund ist das kleine Nadelöhr, durch das die internationale Hilfe | |
hindurchmuss: der Flughafen selbst, der nur über eine einzige | |
Start-und-Lande-Bahn verfügt. Seit Tagen ist sie vollkommen überlastet – | |
zeitlich wie physisch. Täglich landen hier riesige Maschinen. Doch die | |
Landebahn kann dem verstärkten Flugverkehr kaum standhalten und entwickelt | |
sich mehr und mehr zur Holperpiste. Schon 2013 wurde sie mehrere Monate | |
lang für Großraumflugzeuge geschlossen. Auch jetzt soll sie erneut für | |
Flugzeuge mit einem Gesamtgewicht von mehr als 196 Tonnen gesperrt werden. | |
Hinzu kommt die schleppende Zollabfertigung der nepalischen Behörden. | |
Meterhoch stapeln sich mittlerweile die eingeflogenen Container in den | |
Hallen des Flughafens. Einige werden erst gar nicht vom Rollfeld geholt und | |
stehen bei strömendem Regen im Freien. Auch auf dem Landweg klappt es nicht | |
viel besser: An der Grenze zu Indien sollen sogar Hilfslieferungen | |
zurückgeschickt worden sein, weil sich eine Hilfsorganisation geweigert | |
hatte, die üblichen Zölle zu bezahlen. Als ersten Schritt hat die Regierung | |
inzwischen Zelte und Planen von der Besteuerung ausgenommen. | |
Eines dieser aus dem Ausland stammenden Zelte steht in Lalitpur, zehn | |
Kilometer südlich von Kathmandu. Rabindra hat es von einem chinesischen | |
Rettungsteam bekommen. Hellrot leuchtet es unter dem wolkenverhangenen | |
Himmel. Die Nacht über hat es geregnet, nun sammelt sich das Wasser in | |
kleinen braunen Schlammpfützen. Rabindra versucht, mit ihren rosa Flipflops | |
akrobatisch durch das Nass zu navigieren. Ihre neuen Turnschuhe würden | |
besser zu diesem Wetter passen, doch das Paar liegt zu Hause. Wie auch ihre | |
Regenjacke und die Hosen ihrer Kinder. „Alles Dinge, die wir gut gebrauchen | |
könnten“, sagt die 36-Jährige. | |
Doch „zu Hause“ ist für Rabindras Familie zu einem Ort geworden, an den | |
sich keiner mehr freiwillig traut. Ein tiefer Riss hat sich quer durch die | |
Vorderfront des zweistöckigen Hauses gefressen. Das Dach ist bereits | |
eingestürzt, und der Rest des Gebäudes scheint nur darauf zu warten, es dem | |
Giebel gleichzutun. Täglich gibt es kleine Nachbeben. Ginge es nach der | |
dreifachen Mutter, würde kein Familienmitglied jemals wieder diese Ruine | |
betreten. „In unserem Haus kann man nicht mehr leben. Darin kann man nur | |
sterben“, sagt Rabindra. | |
## 1 oder 25? | |
Ihr Mann Rajendra sieht das anders. „In unserem Haus sind noch viele Dinge, | |
die wir dringend brauchen.“ Die Kinder haben Hunger und Durst, nachts | |
frieren sie. „Ich muss mich um das Wohl der gesamten Familie kümmern“, sagt | |
Rajendra. Das sind immerhin 25 Menschen. Er zählt auf: seine Frau Rabindra, | |
die Kinder Salara, Krishnaswors, Saiyam, Opa Arnap, Schwager Ganesh und, | |
und, und. „Alle brauchen immer irgendetwas.“ Seine Schwester Ambika hat | |
sich das Bein gebrochen, sie braucht dringend Medikamente, um die Wunde | |
sauber zu halten. Also müsse jeden Tag ein anderer sich in den Dienst der | |
Familie stellen, schnell ins Haus rennen und das Nötigste herausholen. | |
„Klar ist das gefährlich. Das weiß ich“, gibt Rajendra zu. Doch die Not d… | |
Familie sei größer als die Gefahr für den Einzelnen. „Sagen Sie mir, welche | |
Zahl ist größer: 1 oder 25?“ Es muss für Rajendra und seine Familie wie | |
eine grausig-bittere Ironie sein: Direkt hinter ihrem chinesischen Zelt | |
befindet sich das Gebäude der hiesigen Distriktverwaltung. Es hat die | |
Katastrophe schadlos überstanden. Doch seit dem großen Beben habe er keinen | |
einzigen Beamten mehr gesehen, berichtet Rajendra. „Auch in der Not hat | |
sich nichts geändert.“ Die Korruption im Land ist groß, die Gesellschaft | |
von einem starren Kastenwesen durchdrungen. | |
## Blockierte Politik | |
Seit Jahrzehnten sind Nepals Politiker und Parteien vorwiegend mit sich | |
selbst beschäftigt, heillos zerstritten, entscheidungsunfähig. Als 2005 der | |
zehnjährige Bürgerkrieg mit der maoistischen Rebellenarmee People’s | |
Liberation Army formell beendet wurde, hofften die Menschen auf eine | |
bessere Zukunft. Aus der Monarchie wurde eine parlamentarische Demokratie, | |
doch bis heute gibt es keine neue Verfassung, keine Aufarbeitung der | |
begangenen Menschenrechtsverletzungen, keine Opferentschädigung. In manchen | |
Bezirken wurde seit mehr als zehn Jahren nicht gewählt. | |
Prem auf dem Trümmerhaufen, sein Nachbarn in Bhaktapur oder Rajendra unter | |
dem hellroten Zeltdach in Lalitpur – wie viele Tausende Nepalesen | |
durchleben sie derzeit die größte Katastrophe ihres Lebens. Sie brauchen | |
Wasser, Nahrung, Medikamente. Und sie alle erwarten von ihrer Regierung: | |
nichts. | |
7 May 2015 | |
## AUTOREN | |
Michael Radunski | |
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