# taz.de -- Nepal nach der Katastrophe: Ein Fest fürs Leben nach dem Beben | |
> Der Tourismus kommt zaghaft wieder in die Gänge. Die Nepalesen warten | |
> darauf. Reiseveranstalter vor Ort unterstützen den Aufbau. | |
Bild: Einheimische und Touristen auf dem Dubar Square in Kathmandu. | |
Schön war er, der Narayan-Tempel, so viel lässt sich sagen. Über der roten | |
Backsteinpyramide schwangen drei viereckige Pagodendächer aus, getragen von | |
filigran geschnitzten Dachsparren, die sich vor dem Weiß des Kerngebäudes | |
abhoben – mehr ist auf dem Schwarz-Weiß-Foto eigentlich nicht zu erkennen, | |
das vor dem übriggebliebenen Ziegelsockel hängt. Der Tempel selbst ist weg. | |
Zusammengefallen wie eine Sandburg, als die Erde am 25. April zitterte. Der | |
Schutt ist inzwischen weggeräumt. | |
Die Erdbeben von April und Mai dieses Jahres haben einige Lücken auf dem | |
Durbar Square von Kathmandu hinterlassen. König Mallas ist von seiner Säule | |
gekracht. Wo der Kasthamandap stand, der Tempel, in dem Touristen wie | |
Einheimische ein und aus gingen und nach dem die Stadt ihren Namen hat, | |
liegen heute Steinhaufen. Am einstigen Eingang hat sich ein Mönch mit | |
Schale aufgebaut und wartet auf Spenden. | |
Frauen, die orangefarbene Blütenketten und Öllichter für den Shiva-Schrein | |
verkaufen, sitzen im Staub, darüber sind bunte Fähnchen aufgespannt. Auch | |
der alte Königspalast hat gelitten. Der rote Affengott Hanuman und die | |
beiden Löwen, die den Eingang bewachen, sind unter einem Gerüst versteckt. | |
Risse durchziehen die weiße Fassade, in den Höfen stapeln sich altersdunkle | |
Balken. | |
## In Kathmandu klaffen manchmal Lücken | |
Und doch. Betrachtet man das Gesamtbild, hat das Herz Kathmandus nicht | |
allzu sehr gelitten. Die meisten Heiligtümer sind an ihrem Platz, der | |
Eindruck mittelalterlicher Ruhe ist erhalten geblieben. Nach wie vor stehen | |
Tempel, Pagoden, Schreine und Säulen so dicht, dass der Besucher sich | |
schwertut, sie zu unterscheiden. | |
In den Straßenzeilen der Innenstadt klaffen gelegentlich Lücken, manche | |
Wände sind abgestützt, aber auch beim Blick vom Swayambhunath-Hügel mit | |
seinem heiligen Affentempel wird noch einmal klar: Von Ruinenfeldern, wie | |
sie manche Berichte zunächst beschworen, kann keine Rede sein. | |
Im Gegenteil: Kathmandu ist so laut, staubig, abgasgeschwängert und | |
farbenprächtig-düster wie immer. Zweiräder, Fußgänger und Autos kämpfen um | |
die Vorherrschaft in den engen Gassen, am Spiegel eines Shiva-Tempels | |
richtet eine Schöne ihr Haar, Fahrradverkäufer bieten Äpfel aus Mustang an. | |
Und in den Geschäften stapeln sich die Waren, für die sich hoffentlich bald | |
wieder Käufer finden: Gebetstrommeln, Pashmina-Schals, Schachspiele, Masken | |
sowie eine ganze chinesische Jahresproduktion gefälschter | |
Marken-Fleecejacken, -Bergstiefel und -Rucksäcke. Für Souvenirsammler ist | |
die Stadt immer noch eine geheimnisvolle Grabbelkiste. | |
## Große Schäden in Bhaktapur | |
Den Nachbarn Bhaktapur hat es heftiger erwischt. Das Tor in die alte | |
Königsstadt ist eingestürzt, ebenso zwei wichtige Tempel im Zentrum. Sie | |
gehören zum Unesco-Weltkulturerbe, wurden in den 70er Jahren mit deutscher | |
Hilfe restauriert und werden wieder aufgebaut. Im Süden der Stadt aber, wo | |
die Armen wohnten, brachen fast 80 Prozent aller Häuser zusammen. Nahe dem | |
Zentrums, und doch nur zu finden, wenn man hingeführt wird, hausen immer | |
noch bis zu 500 Menschen in einer Ansiedlung aus halbrunden | |
Wellblechhütten. | |
Tata, ein indischer Konzern, hat sie und viele andere drei Monate lang mit | |
Lebensmitteln versorgt. Inzwischen muss sich jede Familie selbst darum | |
kümmern, Wasser in Tanks stellt das Rote Kreuz. Ein halbes Jahr, hat der | |
Besitzer der Felder zugesagt, dürfen sie noch bleiben. Die eben zu Ende | |
gehende nasse Monsun-Zeit haben sie genutzt, um den Schutt ihrer Häuser | |
wegzuräumen. Mit dem Neuaufbau aber können sie nicht beginnen, weil die | |
staatliche Planung, der zufolge künftig nur noch erdbebensichere Häuser | |
gebaut werden dürfen, nicht abgeschlossen ist. | |
Ohnehin besitzen die wenigsten besitzen das Geld dafür. Angst vor einem | |
weiteren schlimmen Beben haben nur wenige. Die Schildkröte, die nach altem | |
Hindu-Glauben die Erde trägt, hat kurz gezuckt und ist wieder | |
eingeschlafen. Und auch die Geologen beruhigen: Die unterirdischen | |
Spannungen hätten sich abgebaut. Nun könne es wieder 60, 70 Jahre bis zum | |
nächsten Crash dauern. | |
## Und plötzlich war keiner mehr da | |
Nur zwei Straßen weiter sind wieder erste Touristen unterwegs. Sie | |
bestaunen das berühmte geschnitzte Pfauenfenster, das das Beben unbeschadet | |
überstanden hat. Sie hören sich Klangschalen an und blättern in Kalendern | |
aus handgeschöpftem Papier. Und sie beobachten von den Dachterrassen der | |
Restaurants aus bei einem kühlen Everest-Bier, wie Inderinnen in bunten | |
Saris sich fotografieren. Die Wohnungslosen betrachten die Sorglosen ohne | |
Neid. | |
Im Gegenteil: Sie sind froh, dass wenigstens einige der Blassen in | |
Funktions-T-Shirts, Khakihosen und Wanderschuhen wieder zurück sind. Der | |
Bruder arbeitet am Flughafen, eine Kusine in einer Wäscherei … Fünf Prozent | |
aller Einwohner Nepals sind direkt im Tourismus tätig, unzählige andere | |
leben indirekt davon. Das Erdbebenunglück hat auch von einem zum anderen | |
Moment den Tourismus sozusagen abgestellt. 800.000 Besucher hatte das Land | |
zuletzt Jahr für Jahr gezählt, darunter etwa 21.000 Deutsche. Und plötzlich | |
war keiner mehr da. | |
Doch jetzt kommen sie zurück und finden ein nach wie vor großartiges | |
Reiseland. Im Everest-Gebiet wurden viele Wege überprüft und sind wieder | |
begehbar, die Lodges hat man, so weit nötig, instandgesetzt. Die Stadt | |
Pokhara, 200 Kilometer westlich von Kathmandu, und der ganze Westen | |
dahinter waren gar nicht betroffen. Von hier starten die Gruppen zur | |
Annapurna-Umrundung. | |
## Die Götter gnädig stimmen | |
An klaren Morgen steigen die Eisriesen wie schneebepuderte Kathedralen | |
6.000, 7.000, 8.000 Meter in den Himmel, weiß erhaben und bläulich | |
glitzernd: Annapurna I, Machhapuchhare, Manaslu, Himachuli … In der | |
Hauptstraße von Patan, der dritten großen Stadt im Kathmandu-Tal, setzt an | |
diesem Nachmittag plötzlich ein schrilles Pfeifen und dumpfes Trommeln ein. | |
Eine hohe, grün ummantelte Säule ragt in den Himmel, die auf einem Wagen | |
aus groben Holzblöcken festgezurrt ist, mit Tauen so dick wie | |
Feuerwehrschläuchen. Davor sind Schalen mit Feuer entzündet, schwarze, | |
fettige Schwaden steigen auf, jeder versucht, den Wagen oder seine | |
mannshohen, rosa bemalten Räder zu berühren. | |
Patan feiert Machhendranath Jatra, das Fest des Schutzpatrons des Tales. | |
Immer im April findet dieses Ereignis statt, bei dem die Bauern den nötigen | |
Regen für ihre Reisfelder erbitten. In diesem Jahr machte die Natur einen | |
dicken Strich durch die Rechnung. Doch jetzt im Herbst, auch wenn viele | |
alles verloren haben und darüber hinaus zu wenig Regen fiel und die Ernte | |
bescheiden ausfallen wird – jetzt feiern sie trotzdem. Man muss den Göttern | |
dankbar sein und sie gnädig stimmen. Und außerdem: Ein Fest ist Leben. Und | |
das Leben muss weitergehen. | |
24 Oct 2015 | |
## AUTOREN | |
Franz Lerchenmüller | |
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