# taz.de -- Rückblick Netzkonferenz re:publica: Wir können über alles reden | |
> Wie es gewesen ist auf der re:publica? Schwer zu sagen, wenn man sich nur | |
> einen Bruchteil des Geschehens anzusehen vermag. | |
Bild: Alexander Gerst erzählt vom All und alle hängen an seinen Lippen | |
BERLIN taz | Ich habe auf der [1][re:publica] in Berlin genau eine Stunde | |
lang niemanden meckern hören. Das war in der Stunde, in der ein Mann mit | |
Glatze und blauem Jumpsuit auf der Bühne stand und vom Leben im All | |
erzählte. | |
Sechs Monate lebte Alexander Gerst auf der ISS, twitterte als | |
[2][@astro_alex] aus dem All und erreicht auf der re:publica etwas schier | |
Unglaubliches: dass all die Businessanzüge und Modepuppen, Twitterclowns, | |
Medienbesserwisser und Netzpolit-Zyniker auf der Konferenz für einen Moment | |
mal kurz andächtig still waren. Um sich ein paar bestürzend schöne Fotos | |
von der Erde von oben anzusehen. Und von dem Alltag des Astronauten. | |
Und dann zerstreute sich wieder alles. Medieninteressierte links raus und | |
die Treppe nach oben, Modemenschen bitte kurz vorher links abbiegen und die | |
Bildungsspezialisten noch ein Stück auf dem Weg zu den Räumen begleiten, in | |
denen ihre Vorträge stattfinden. Die Politikinteressierten und | |
Open-Internetgeeks bitte sitzenbleiben, gleich kommt Science-Fiction-Autor | |
Cory Doctorow und erklärt, warum mal wieder alles schlimmer geworden ist, | |
im geheimdienstüberwachten Internet. | |
Je größer die re:publica wird, desto weniger ist sie eine Konferenz, die in | |
irgendeiner Form eine Gemeinsamkeit erzeugt. Da kündigen [3][Johnny] und | |
[4][Tanja Haeusler] eine Internetkonferenz für Teenager im kommenden Jahr | |
an, da zeigt Hacker Jacob Appelbaum einen Film über ein gemeinsames | |
Kunstprojekt mit dem chinesischen Künstler Ai Weiwei. | |
## Wieder fehlen Köpfe und Inhalte | |
Da präsentieren Firmen ihre Anwendungen für die 3-D-Brille Occulus Rift, | |
promoten sich Sponsoren auf Bühnen, wird zur Revolution gegen | |
Geheimdienstdiktaturen aufgerufen, über faire Pornos gesprochen und | |
Hatespeech, über die Macht von Algorithmen, Flüchtlinge und Roboter, die | |
uns die Arbeitsplätze wegnehmen. Da sitzen die Mitglieder der Punkband | |
Pussy Riot genau da, wo eben noch Youtube-Stars saßen, die auf dieser | |
Konferenz voller Ü-30-Jähriger kaum jemand kennt – und niemand, wirklich | |
niemand schafft es, all das auch nur annähernd vollständig wahrzunehmen. | |
So war das zunehmend auch in den Jahren zuvor. Neu ist das nicht. In | |
Kaffeeschlangen und Tweets flammten jedoch immer wieder Enttäuschung | |
darüber auf, dass der Konferenz in diesem Jahr neue Themen, Köpfe und | |
Inhalte fehlten. | |
Was aus netzpolitischer Perspektive natürlich ein etwas gemeiner Vorwurf | |
ist: Seit einer Dekade drehen sich die Diskussionen von | |
Vorratsdatenspeicherung bis Netzneutralität im Kreis. Auch im Jahr zwei | |
nach Beginn der Snowden-Enthüllungen natürlich vollkommen überschattet von | |
dem Versuch, angemessene Reaktionen auf Überwachung im Digitalen zu finden. | |
Und während der ehemalige Pirate Bay-Sprecher Peter Sunde den Kampf der | |
Aktivisten für ihr freies Internet für gescheitert erklärt, suchen andere | |
Vortragende das Heil im Zweckoptimismus. | |
## Zweckoptimismus | |
MIT-Forscher Ethan Zuckerman zum Beispiel, der dazu aufrief, das | |
strukturelle Misstrauen, das Menschen zunehmend in Insitutitionen haben, | |
konstruktiv umzunutzen. Oder wie Markus Beckedahl selbst, der sich, so | |
zynisch auch er mitunter inzwischen geworden ist, in einem Vortrag mit | |
seinem [5][netzpolitik.org]-Mitstreiter Leonhard Dobusch dazu hinreissen | |
lässt, den zehn großen netzpolitischen Dauerthemen von TTIP über | |
Breitbandausbau bis Datenschutzreform positive Aspekte abzuringen versucht. | |
Zweckoptimismus – in einer Zeit, in der die Herausforderungen so groß | |
scheinen, dass selbst die Appelle der Aktiven, sich einzubringen, immer | |
müder klingen. Ganz abgesehen davon, dass es auf einer so fett gestalteten | |
Konferenz wie der re:publica manchmal etwas folkloristisch wirkt, immer | |
noch die großen Revolutionen ausrufen zu wollen. | |
Auffällig, dass sich die re:publica immer mehr Themenbereiche ans Bein | |
bindet. Das Thema Flüchtlinge etwa, das im Digitalem meist nur sehr | |
mittelbar vorkommt. Der Grund: Die re:publica versteht sich inzwischen als | |
„Gesellschaftskonferenz“ – auch weil Netzpolitik, so hieß es immer wiede… | |
inzwischen ganz klar Gesellschaftpolitik sei. Alle betreffe. Alle | |
mitdiskutieren müssten. Das ist einerseits sehr ehrenwert, wahrscheinlich | |
sogar richtig. Nur stellt sich nach drei Tagen Konferenz die Frage: Wird es | |
nicht irgendwann ein bisschen viel? Eine Überforderung? | |
## Thematische Beliebigkeit? | |
[6][Gunter Dueck], einer der Lieblings-Gurugeeks der re:publica, die ja | |
ohnehin sehr auf weise ältere Männer steht, sprach in seinem Vortrag über | |
Schwarmdummheit passenderweise vom „Utopiesyndrom“ – der frustrierenden | |
Forderung des Managements, unerfüllbare Ziele mit untauglichen Mitteln zu | |
erreichen. | |
Nerds und Geeks sind häufig richtig gut darin, die Probleme unserer | |
digitalen Gesellschaft treffend zu beschreiben. Besser als darin, | |
funktionierende Lösungsansätze zu entwickeln. Weswegen sich auch die | |
re:publica vielleicht irgendwann die Frage stellen muss, ob sie sich den | |
Teller nicht ohnehin schon mit mehr Problemen beladen hat, als sie | |
qualifiziert und kundig in drei Tagen schlucken kann. Einfach, um nicht an | |
der Masse ihrer unerfüllbaren Zielsetzungen zu verzweifeln. Oder völlig in | |
die thematische Beliebigkeit abzurutschen. | |
Gelungen hingegen: endlich nicht nur über Jugend sprechen, sondern auch mit | |
ihr. In diesem Jahr wurde auf vielen Panels der re:publica, aber auch der | |
angrenzenden Media Convention nicht nur über, sondern auch mit Menschen | |
unter 18 gesprochen. Darüber, welche Dienste sie nutzen, wie sie die | |
digitale Bildung in der Schule sehen. Das ist ein absolut notwendiger | |
Realitätsabgleich – trägt doch der durchschnittliche re:publica-Besucher zu | |
den Turnschuhen inzwischen graue Schläfen. Und ist von dem digitalen | |
Mediennutzungsverhalten von Teenagern inzwischen doch recht weit entfernt. | |
Egal wie jung er sich fühlen mag. | |
## Spionierende Tiere | |
Womit ich wieder zurück beim Meckern wäre und beim Titel der Konferenz. | |
Europa finden wollten die Veranstalter. „404 – Europe not found“ stand auf | |
einem Plakat, das bereits am zweiten Tag über dem Eingangsbereich im Hof | |
entrollt wurde. Eine ironische Anspielung auf eine bekannte Fehlermeldung. | |
In vielen kleineren Sessions wurde zwar über Europa diskutiert. | |
Beherrschendes Thema auf der Konferenz wurde es aber nicht. | |
Statt Europa zu finden, solle man lieber erst einmal versuchen, Europa zu | |
definieren, riet der US-Germanist Eric Jarosinski, im Netz besser bekannt | |
unter seinem Twitterhandle [7][@NeinQuarterly]. Er macht vor, wie man | |
sinnig und doch humorvoll über EU-Politik kommunizieren kann. | |
Comic Reliefs wie diese, natürlich funktionieren sie bei Menschen, die viel | |
Zeit im Netz verbringen. Eine Quellcode-Lesung, um zu zeigen, dass „die | |
Algorithmen“ ohne uns Menschen nicht besonders übermächtig sind, ein | |
Vortrag über spionierende Tiere, das sind die Momente, in denen die | |
re:publica zeigt, welches Potential in ihr steckt. Oder aber man beklatscht | |
einfach mal frenetisch einen ziemlich langweiligen Vortrag des | |
Netflix-Chefs. Oder einen Astronauten und die unbekannten Weiten da | |
draußen. | |
Zu banal, breit, flach, selbstreferentiell, unkritisch, kommerziell und vor | |
allem gar nicht mehr so wie früher? Ja, die re:publica hat sich verändert. | |
Wiederkommen werden die meisten im kommenden Jahr trotzdem. Gerade die, die | |
meckern. | |
8 May 2015 | |
## LINKS | |
[1] http://re-publica.de/ | |
[2] http://twitter.com/search?q=%40astroalex&src=typd | |
[3] http://twitter.com/spreeblick | |
[4] http://twitter.com/elektrotanja | |
[5] http://netzpolitik.org | |
[6] http://twitter.com/wilddueck | |
[7] http://twitter.com/search?q=%40neinquarterly&src=tyah | |
## AUTOREN | |
Meike Laaff | |
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