# taz.de -- „Selfies“ bei Beerdigungen: Knutsch. #Funeral | |
> Schmollmund, Victory-Zeichen: Jugendliche posieren auf Beerdigungen und | |
> posten diese Selbstporträts im Netz. Ist das noch normal? | |
Bild: Selbstporträt von der Beerdigung: Selbstinszenierung oder Trauerarbeit? | |
Ein älterer Herr liegt auf einem weißen Kissen, seine Augen sind | |
geschlossen. _countrygirl12 hat das fotografiert und auf die Foto-Plattform | |
Instagram gestellt. „Ich liebe dich Paps, du wirst von vielen vermisst“, | |
schreibt sie dazu. Es ist das Bild ihres aufgebahrten Großvaters. | |
Im Bad, im Wartezimmer, auf dem Pausenhof, beim Autofahren: Jugendliche | |
machen Schnappschüsse von sich selbst, ein sogenanntes Selfie, und stellen | |
es ins Netz. In sozialen Netzwerken wie Twitter, Facebook oder eben | |
Instagram sind die Fotos für jeden sichbar. Beliebte Gesten: das | |
Victory-Zeichen, aufgerissene Augen, Knutschmünder, Schmollmünder. Ein | |
Hashtag, ein vorangestelltes Doppelkreuz, macht ein Wort zu einem | |
Schlagwort. | |
Das Schlagwort #Funeral sammelt Beerdigungs-Selfies: Selbstporträts auf | |
Beerdigungen. Auf der Internetseite [1][Hashtagfuneral] etwa stemmen Frauen | |
im kleinen Schwarzen die Hände in die Seite, die Haare schön, das Sakko | |
sitzt. Ausgestreckte Arme im Bild vor posierenden Kussmündern. | |
Ich liebe mein Haar heute. Hasse, warum ich aufgebrezeelt bin. #Funeral. | |
Mein ganzes Make-up ist verheult, so eklig, aber #Funeral. Das ist ein | |
Beerdigungs-Selfie. Komme ich in die Hölle ((ja))? | |
Das Selbstporträt in sozialen Netzwerken ist nichts Neues. Schon 2004 | |
existierte das Schlagwort [2][#Selfie auf der Foto-Plattform Flickr]. Aber | |
dass Jugendliche Selbstporträts auf Beerdigungen schießen und hochladen, | |
mit Kommentaren, die zumindest befremdlich wirken – das ist ein neues | |
Phänomen. | |
## | |
Die Jugendlichen suchen Beachtung – und bekommen diese bei Gleichaltrigen. | |
Sie machen Fotos von ihrem Outfit, das sie sich für die Zeremonie angezogen | |
haben: Vorher-Nachher-Fotos. Die Bilder sollen Coolness demonstrieren: Sie | |
sind trotzig, trotzen dem Tod, und das soll die ganze Welt sehen. Mehr | |
Klicks, mehr „Gefällt mir“, mehr Kommentare. Sie inszenieren sich als Teil | |
einer Szene, einer Gemeinschaft. So wie Jugendliche, die als | |
Gothik-Anhänger, Punker oder Hip-Hopper herumlaufen. | |
Anne Smith ist Sterbeforscherin am Ramapo College in New Jersey. Sie | |
beschäftigt sich mit der Relevanz des Internets für Jugendliche, die mit | |
Verlust umgehen müssen. Die Inszenierung auf den Fotos sieht Smith nicht | |
negativ. „Ja, ich glaube sie wollen Aufmerksamkeit haben, aber | |
voneinander“, sagt sie. Und ist sich sicher: „In Zukunft werden die | |
Heranwachsenden Wege finden, Grenzen zu ziehen und eine Etikette | |
entwickeln.“ Das Bedürfnis nach dem Gesehenwerden, der Wettbewerb um Likes | |
und Klicks: weniger Suche nach Selbstbestätigung als vielmehr eine andere | |
Art des Handgebens auf Beerdigungen. Die Jugendlichen suchen digitale | |
Trostspender. | |
## | |
Das ist doch nicht normal! Oder doch? „Ich glaube, wir müssen vorsichtig | |
darin sein, diese Praktik zu verurteilen“, sagt Sterbeforscherin Smith. | |
„Diese Generation unterstützt sich, zeigt Emotionen. Der Weg, wie sie das | |
machen, mag für Erwachsene und Außenstehende verwirrend sein.“ Die | |
Jugendlichen bewegen sich selbstverständlicher auf Twitter, Facebook und | |
Co. als ihre Eltern. „Und das Umfeld, in dem sie kommunizieren, ist auch | |
das Umfeld, in dem sie trauern“, sagt Smith. | |
Jugendliche teilen alle möglichen Details – und Beerdigungen sind ein Teil | |
davon, neben Fotos von der Ausbeute des letzten Shopping-Trips, vom | |
Weihnachtsessen mit der Familie, der Silvesterparty. „Die Frage ist doch“, | |
sagt Smith: „Was bedeutet es ihnen? Finden sie Unterstützung und Trost | |
darin?“ | |
## | |
Während die Trauergemeinde bedröppelt guckt, grinst eine Frau im weißen | |
Kleid in ihre Handykamera. Nach Trauer sieht das nicht aus. Könnte es aber | |
durchaus sein, sagt Christian Schneider, Sozialpsychologe aus Frankfurt. | |
„Eine geliebte Person ist jetzt weg. Nun muss der Trauernde neu | |
organisieren, dass diese Person fehlen darf.“ Also lenkt er die | |
Konzentration auf sich selbst, um der Trauer zuvorzukommen. | |
Die amerikanische Trauerforscherin Heather Servaty-Seib ist Professorin an | |
der Fakultät für Erziehungswissenschaften an der Purdue Universität im | |
US-Bundesstaat Indiana. Sie hat Heranwachsende nach ihren Erfahrungen mit | |
Beerdigungen gefragt. Eine anonyme Antwort: „Alles, was ich dachte, war: | |
Sein Leben ist zu Ende, er wird nie wieder die Sonne sehen, den Schnee | |
fühlen. Davor fürchte ich mich, ich werde eines Tages auch dort liegen, | |
alleine unter der Erde.“ | |
Menschen können sich den Tod nicht vorstellen, also schieben sie ihn weg. | |
Die Fotos entstehen aus Angst: um dem Nachdenken zu entgehen, als eine | |
Befreiung vom Grübeln um den Tod. Eine unbewusste Selbsttherapie | |
vielleicht, als versuchten die Jugendlichen die Trauerphase zu | |
überspringen. | |
## | |
Ein Junge hält ein Mädchen im Arm, er macht mit Zeige- und Ringfinger den | |
Teufelsgruß. #wunderschön #Beerdigung #Großvater #Hipster #Foto des Tages | |
#Gefällt mir #Folgt mir. Warum er das Bild gemacht hat? „100 % Spaß“, | |
antwortet er auf Twitter. Willibald Ruch ist Humorforscher, er lehrt am | |
Psychologischen Institut der Universität Zürich. „Humor kann durchaus | |
negative Emotionen abfangen, das Unerträgliche erträglich machen.“ | |
Dopethecomedian hat ein Foto von sich im beigen Sakko hochgeladen. Er | |
schreibt: Auf dem Weg zu meinem #Opa #Beerdigung! Ihm zu #Ehren habe ich | |
beschlossen #frisch zu sein. #Cool angezogen bis zum Ende, kein Wortspiel | |
#Ruhe in Frieden. | |
Schwarzer Humor? „Es ist eine Unstimmigkeit in den Bildern, ein | |
spielerischer Umgang mit dem Thema. Es werden Ideen zusammengeführt, die | |
nicht zusammengehören“, findet Ruch. Einen Witz, eine Pointe sieht er | |
trotzdem nicht. „Ich glaube, das hat nichts mit Humor zu tun. Ein Witz ist | |
schärfer, klar erkennbar, intellektuell. Hier geht das nicht über einen | |
Stilbruch hinaus.“ Eine Fratze, ein Peace-Zeichen, zusammen mit dem | |
Schlagwort Beerdigung: Was zum Lachen reizen könnte, ist nur schwach | |
ausgeprägt. Meist fehlen ein Augenzwinkern, ein selbstironisches Moment. | |
Ruch spricht deshalb lieber von therapeutischem Humor. „Sich über | |
Beerdigungen lustig zu machen, das mag keiner. Die Frage ist doch: Sind | |
positive Emotionen zugelassen?“ Statt depressiv zu sein, wird sich | |
aufgemuntert, das Ganze erträglich gemacht. Wie auf einem Gruppenbild von | |
vier jungen Mädchen, die in die Kamera grinsen. „Wir sind diese komischen | |
Leute, die ein Foto machen, wie sie auf einer Beerdigung lachen“, steht | |
darunter. | |
## | |
Die Jugendlichen versuchen etwas, womit sich Hinterbliebene schwer tun: das | |
Leben weiterzuleben, weiter zu lachen, sich selbst vor der Verzweiflung ob | |
des Verlusts zu schützen. Und das, so mag man argumentieren, kann kaum | |
gegen den Wunsch der Verstorbenen sein. „Es gibt auch Kulturen, in denen | |
viel gelacht wird, ohne dass es eine Geringschätzung der Toten wäre“, sagt | |
Ruch. Im Gegenteil, sagt Humorforscher Ruch: „Es kann eine Würdigung sein.“ | |
Das Foto als Geschenk für den Toten also, als eine letzte Ehre? Digitale | |
Denkmäler für die Betrauerten. Das Internet vergisst nicht. Zumindest eines | |
scheinen die Selfies sagen zu wollen: Die Toten hätten nicht gewollt, dass | |
wir so traurig sind. | |
24 Nov 2013 | |
## LINKS | |
[1] http://hashtagfuneral.tumblr.com/ | |
[2] http://blog.oxforddictionaries.com/2013/11/word-of-the-year-2013-winner/ | |
## AUTOREN | |
Julia Neumann | |
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