# taz.de -- Realitätsferner türkischer Präsident: Erdogan und die dunklen M�… | |
> Nach zehn Jahren im Amt hat der Ministerpräsident den Kontakt zu seinen | |
> Bürgern verloren. Wahlen in der Türkei würde Erdogan wohl trotzdem hoch | |
> gewinnen. | |
Bild: Recep Erdogan: ausnahmsweise mit beschwichtigender Geste | |
ISTANBUL taz | „Ihr wollt Bäume haben? Gut, ihr könnt Bäume haben, wir | |
bringen sie euch vorbei. Die könnt ihr euch dann in den Vorgarten stellen.“ | |
Noch am Samstag, als in Istanbul die Straßen brennen und Hunderttausende | |
wütende Bürger zum Taksim-Platz marschieren, hat Ministerpräsident Recep | |
Tayyip Erdogan für seine Kritiker nur ätzenden Spott und Sarkasmus übrig. | |
Bei derselben Veranstaltung versucht er, die Demonstranten vor seinen | |
Anhängern dann auch noch als irregeleitete Idioten dunkler Mächte | |
darzustellen. | |
„Sie wollen uns und unseren Glauben zerstören“, ruft er seinen Getreuen zu. | |
Nach nunmehr über zehn Jahren an der Macht scheint es, als verliere Erdogan | |
langsam den Kontakt zur Realität. | |
Nach seinem Wahlsieg 2007 hat er zunächst die zuvor fast allmächtigen | |
Militärs niedergerungen – nahezu ein Drittel des gesamten Offizierskorps | |
sitzt mittlerweile in Haft – und bei den Wahlen im Juni 2011 die gesamte | |
Opposition deklassiert. Seitdem wähnt Erdogan sich als unantastbar und | |
lässt sein Volk unverhohlen wissen, was er von ihm erwartet und was er von | |
seinen Kritikern hält. | |
Dabei geht es nicht nur um große politische Themen wie den Krieg im | |
Nachbarland Syrien, den Bau von Atomkraftwerken oder die nicht vorhandenen | |
Rechte von Gewerkschaften und Journalisten. Erdogan fühlt sich auch für den | |
Alltag der Menschen zuständig. Von der Anzahl der Kinder bis zum Brot, das | |
man essen soll, gibt er präzise Vorgaben. | |
Vor allem mit dem zuletzt verabschiedeten Gesetz zur Reglementierung des | |
Verkaufs und der Werbung für alkoholische Getränke versucht Erdogan, massiv | |
in die Lebensgewohnheiten und Lebensstile der Bevölkerung einzugreifen. | |
## Das Gesetz Gottes | |
Obwohl das neue Alkoholgesetz, das noch nicht in Kraft ist, weil der | |
Staatspräsident es noch nicht unterschrieben hat, mit gesundheitlichen | |
Argumenten begründet wird, macht Erdogan keinen Hehl daraus, was er | |
tatsächlich will: „Das alte Alkoholgesetz“, sagte er im Parlament, „wurde | |
von zwei Säufern durchgesetzt, sollen wir da nicht lieber das Gesetz Gottes | |
vorziehen.“ | |
Mit dem einen Säufer ist zweifellos Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk | |
gemeint, über den zweiten rätselt das Land noch. Doch mindestens die Hälfte | |
der türkischen Bürger möchte ihren Lebensstil nicht am Gesetz Gottes | |
ausrichten und sich vor allem von Erdogan nicht wie Schulkinder behandeln | |
lassen. Obwohl kaum noch jemand seine Verdienste um den wirtschaftlichen | |
Aufschwung des Landes bestreitet und auch die Friedensinitiative für die | |
kurdische Minderheit auf breite Zustimmung stößt, ist vielen das autoritäre | |
Gehabe des Ministerpräsidenten mehr und mehr zuwider. | |
Dass er Kritik zunehmend als Majestätsbeleidigung empfindet, bekommen vor | |
allem die Medien zu spüren. Mit Klagen und wirtschaftlichem Druck werden | |
oppositionelle Medien gefügig gemacht, profilierte Kritiker verlieren ihren | |
Job oder landen gar im Gefängnis. | |
## Präsident mit exekutiven Vollmachten | |
Erdogan wähnt sich verfolgt, obwohl längst er es ist, der die Repression im | |
Land dirigiert. Dabei ist seine Mehrheit in keiner Weise gefährdet. Auch | |
jetzt würde er Wahlen vermutlich wieder hoch gewinnen. Allerdings steht ihm | |
2014 eine komplizierte Zeit bevor. | |
Im kommenden Jahr soll eine neue Verfassung verabschiedet werden, und | |
Erdogan will sich zum Präsidenten mit erweiterten Vollmachten wählen | |
lassen. Über die Verfassung kann er sich mit der Opposition nicht einigen, | |
weshalb sein Wunsch, ein Präsident mit exekutiven Vollmachten zu werden, | |
gefährdet ist. | |
Dazu kommen die unkalkulierbaren Auswirkungen des Syrienkrieges. Erdogan | |
will deshalb keine Schwäche zeigen. Am Ende des fünftägigen Aufstandes | |
sagte er: Die Polizei hat es mit dem Einsatz von Tränengas vielleicht | |
übertrieben, aber deshalb werden wir den Kurs der Regierung nicht ändern. | |
2 Jun 2013 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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