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# taz.de -- taz-Autoren und der Mauerfall: Wir Wessis und die Wende
> Am 9. November 1989 fiel die deutsch-deutsche Grenze. Vier Autoren aus
> dem Westen schildern ihre damaligen Eindrücke.
Bild: Getrennte Lebenswelten
Expedition ins Unbekannte (Anna Klöpper Jahrgang 1985)
Ich war vier und ich verstand die Aufregung der Erwachsenen nicht.
Irgendwie war sie mir unheimlich. „Mama, was ist eine offene Grenze?“ Wir
fuhren hin. Meine Mutter, mein Vater, meine kleine Schwester und ich. Oma
wollte nicht mit. Sie sagte, sie hätte schon mal in den Osten geguckt, von
so einem Besucherturm runter, eine Busreise mit ihrer Tuppertauschgruppe.
Mehr Osten brauche sie in ihrem Leben nicht sehen, Grenze offen oder nicht.
Und dass wir vorsichtig sein sollten.
Meine Mutter war vorsichtig, sie schmierte zu viele Brote und goss Tee in
Thermoskannen. Meine Familie kannte den Osten nur aus der „Tagesschau“, so
etwas Exotisches wie DDR-Verwandtschaft gab es bei uns nicht.
Der alte Mercedes war so laut, dass meine Schwester und ich bei einer
gewissen Geschwindigkeit – sie war nicht besonders hoch – laut von der
Rückbank nach vorne brüllen mussten, wenn wir etwas wollten. Das machte
immer Spaß, zumindest eine kleine Weile lang. „Wann sind wir endlich,
endlich da?“
Bei Helmstedt, westlich von Magdeburg, fuhren wir „rüber“. Ein paar
Kilometer vor Feindesland hatte meine Mutter uns alle genötigt, noch mal
pinkeln zu gehen, sie sei sich nicht sicher, ob sie hinter der Grenze
aussteigen wolle. Wir stiegen nicht aus. Ich fand das neue Land furchtbar
langweilig. Aber meine Eltern freuten sich, es war alles ganz genauso, wie
sie es sich vorgestellt hatten: die Dörfer grauer, der Straßenbelag
schlechter, die Felder größer. Als wir in einem Waldstück russische
Soldaten im Biwak sahen, war mein Vater zufriedengestellt, wir drehten ab
in Richtung Nordwest und zuckelten durch die Lüneburger Heide zurück. In
sicherer Entfernung zur Grenze stiegen wir aus und aßen die letzten Brote.
Entwicklungshelfer auf wohltätiger Mission (Marlene Halser, Jahrgang 1977)
Früher haben wir viel mit unserer Ostverwandtschaft gemacht. Wir wohnten in
München, die wohnten in einem kleinen Ort bei Dresden. Zu Weihnachten
packte meine Mutter ein großes Paket mit Dallmayr Prodomo, Nylonstrümpfen
und abgelegten Kleidungsstücken und schickte es „in die Zone“.
Nach dem Krieg war meine Mutter gemeinsam mit ihrer Mutter, die aus
Thüringen stammte, heimlich über die innerdeutsche Grenze gerobbt, als sie
ins schulfähige Alter kam. Vermutlich hatte sie ein schlechtes Gewissen,
weil es ihr im Westen so gut ergangen war, während die Verwandtschaft im
Osten darbte.
Zur Jugendweihe meines Cousins zwängten wir uns in Mutters roten Fiat 500
und fuhren vom schönen Bayern aus „nach drüben“. Hinter der Grenze machten
die Straßen so ein seltsames „Dudunk“-Geräusch, weil sie aus Betonplatten
zu bestehen schienen, für deren Fugen die Federung des Fiats nicht
geschaffen war. Und meine Mutter lachte herzhaft über die grimmig
dreinblickenden Grenzbeamten, die versucht hatten, uns mit ihrem Sächsisch
Angst einzujagen. Drüben gab es Broiler und Zunge zu essen, und ich
versuchte meinem Cousin zu erklären, wo die Kinder wirklich herkommen. Er
glaubte mir kein Wort.
Auch in Urlaub fuhren wir gemeinsam: Zum Balaton und heimlich mit dem
Wohnmobil nach Südtirol. Wir wollten der Verwandtschaft schließlich was
bieten. Die Öffnung der Mauer verfolgten wir gebannt auf der heimischen
Wohnzimmercouch. Einmal waren die Ostverwandten nach der Wende noch in
München zu Besuch. Wir hatten ihnen statt des ollen Trabis einen
gebrauchten Opel besorgt. Danach haben wir sie jahrelang nicht mehr
gesehen.
Schön, schaurig und märchenhaft (Ambros Waibel, Jahrgang 1968)
Der 9. November 1989 ist ein Donnerstag gewesen. Also war es wohl am
darauffolgenden Freitag, als ich am Horizont, auf einer nordhessischen
Landstraße, den Zug der Trabis gen Westen gesehen habe. Ich habe da wohl
gerade mit einer Zigarette vor einer Jugendherberge gestanden, wo sich
unsere Literaturzeitschrift mit dem schönen Namen „gegenstand“ zu einem
Redaktionswochenende traf.
Ich habe die Trabis gesehen. Und dann habe ich meine Zigarette ausgedrückt,
bin ich wieder rein und habe über die umstürzlerische Kraft der Literatur
diskutiert. Die 1980er Jahre waren, egal was heute erzählt wird, eines der
langweiligsten Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts. Mein Versuch, der
Öde zu entkommen, war die DDR. Im Herbst 88 fuhr ich zwei Wochen lang mit
dem Rad von Ostberlin nach Rostock und zurück; und fand das Land
märchenhaft. Also schön und schaurig, voll unberührter Wälder, tiefer,
trauriger Menschen, voller Pfarrer, die Franz Josef Strauß verehrten, und
solcher, die genau wussten, dass die Sache nicht mehr lange halten würde.
Ich besuchte Jugendclubs, die schon so aussahen wie die improvisierten
Kneipen Anfang der 1990er. Ich habe an einer Sitzung der Umweltbibliothek
im Prenzlauer Berg teilgenommen, nachdem ich vorher zum „Bärenblut“-Holen
geschickt worden war.
Und trotzdem ich viel mehr von der DDR gesehen habe als die meisten
Gleichaltrigen im Westen, habe ich sie nicht verstanden. Ich habe Brecht
gelesen, ich habe Heiner Müller verehrt, und ich habe bei Konrad Wolfs Film
„Ich war 19“ Tränen der Wut geweint, als am Schluss die SS-Mörder sich na…
Westen absetzen. Und wahrscheinlich habe ich genau daran gedacht, als ich
damals die Trabis sah.
Ein magischer Tag im November (Andreas Rüttenauer, Jahrgang 1968)
Als die Menschen anfingen auf der Mauer zu tanzen, waren wir schon eine
Zeit lang Ostdeutschland-Experten. Susanne und Holger waren unsere Freunde
geworden. Nachdem sie durch die Donau in Richtung Freiheit geschwommen
waren, hat es sie in München angeschwemmt. Nicht nur ihre verrückte
Fluchtgeschichte hat uns fasziniert. Die beiden haben derart von Leipzig
geschwärmt, dass die DDR für uns schon Farbe angenommen hatte, lange bevor
die dunkelgrauen Häuser in den Innenstädten neu getüncht worden waren.
Susanne und Holger erzählten uns von den Umwelt- und Friedensgruppen, denen
sie sich verbunden fühlten, und wir wurden mit ihnen gemeinsam traurig,
wenn die beiden daran dachten, dass sie ihre Freunde so schnell nicht
wiedersehen würden.
Nach dem Mauerfall haben wir uns schnell zum Feiern verabredet. Ganz viel
und ganz lange haben wir getrunken. Im Leben wären wir nicht darauf
gekommen, dass die zwei Ostler, die mit uns gesoffen haben, bald schon zu
Ossis werden würden, auf die man mit dem Finger zeigt. Wir waren laut und
haben laut gelacht. Als einer von uns meinte, er würde wetten, dass
Deutschland innerhalb eines Jahres vereinigt ist, da ist es auf einmal ganz
still geworden am Tisch. Niemals! Eingeschlagen. Wir haben um ein Fass Bier
gewettet und wieder angefangen zu lachen.
Holger hat es nicht lange ausgehalten in München und ist zurückgegangen, wo
er hergekommen ist. Susanne hat einen meiner Freunde geheiratet. Da war der
Anschluss der DDR an die BRD schon vollzogen. Als wir das verwettete Fass
Bier geleert haben, waren wir weit weniger laut und lustig als an jenem
magischen Tag im November.
8 Nov 2013
## AUTOREN
Anna Klöpper
Marlene Halser
Ambros Waibel
Andreas Rüttenauer
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