| # taz.de -- Winter in Gaza: Leben im durchnässten Zelt | |
| > Am Wochenende wurden die Menschen in Gaza von schweren Unwettern | |
| > getroffen. Hilfsgüter sind rar, Hunderttausende in Not. Zwei | |
| > Palästinenser berichten. | |
| Bild: Längst nicht in trockenen Tüchern: Khawla Khadr, 38, vor ihrem Zelt. Di… | |
| Khawla Khadrs Füße sind nass. An dem schwarzen Plastik ihrer Schlappen | |
| klebt Schlamm. Auch an ihren Zehen und am Saum ihres langen dunklen | |
| Kleides. „Das Wasser“, sagt sie, „steht uns bis an den Eingang.“ Sie bl… | |
| neben ihrem Zelt stehen, auf einem halbwegs trockenen Fleckchen Boden, | |
| zwischen mit Regenwasser gefüllten Pfützen und eben dem klebrigem Schlamm, | |
| rötlich wie der Sand, auf dem sie ihr Zelt einmal aufbaute. | |
| Schon eine Weile lebt sie dort, südwestlich von Deir-al-Balah, mit ihren | |
| beiden Söhnen und ihrer Tochter, erzählt sie. Ursprünglich stammt die | |
| Familie aus Beit Hanun, ganz im Norden des Gazastreifens, an der Grenze zu | |
| Israel. Seit Oktober 2023 sind sie [1][vertrieben, mehrfach, quer durch | |
| Gaza], bis in dieses Camp nahe Deir-al-Balah. Ihr Mann lebt nicht mehr, | |
| erzählt sie, er sei beim Versuch getötet worden, Hilfsgüter zu erhalten. | |
| Die Verantwortung für die kleine Familie liegt nun ganz bei ihr. | |
| Schon im Sommer ist das Leben im Camp schwierig: Wenn die Sonne auf die | |
| Zeltplanen herunterbrennt, heizen sie sich auf. Und es ist kaum möglich, | |
| sie frei von Sand zu halten, die trockenen Partikel dringen durch jede | |
| Ritze, haften an der Haut und den Schuhen. | |
| Im Winter aber, mit dem Absinken der Temperaturen, dem Aufkommen von Wind | |
| und Regen, wird das Leben im Camp wirklich unangenehm: „In der Nacht wachen | |
| die Kinder auf, sie weinen, weil Regenwasser in das Zelt läuft“, sagt die | |
| 38-Jährige. „Wir haben nur zwei dünne Matratzen und Decken“, erzählt sie | |
| weiter, „und nun ist alles durchnässt.“ | |
| ## „Meine finanzielle Situtation erlaubt das nicht.“ | |
| Am Wochenende traf der erste heftige Regenfall dieses Winters den | |
| Gazastreifen. Und damit auch die Hunderttausenden Vertriebenen, die dort in | |
| Zelten und improvisierten Behausungen ausharren. Über 13.000 Haushalte | |
| waren betroffen, schreibt das katarische Medium AlJazeera. | |
| Dass die Zelte voll mit Wasser laufen, ist nur ein Problem von vielen. | |
| Khadr erzählt, ihr Zelt habe sie von einem Verwandten geliehen. Doch nun | |
| hat es Löcher. An einer Seite versucht sie, die Plane ihrer Behausung | |
| wieder über eine improvisierte Stange zu stülpen. Doch ein Riss erschwert | |
| das Unterfangen. Sie denke darüber nach, ein neues Zelt zu kaufen, sagt | |
| sie. Doch die Preise seien zu hoch: „Meine finanzielle Situtation erlaubt | |
| das nicht.“ | |
| Für den Rest der Woche soll es noch einmal sonnig und warm werden. Aber | |
| nachts kühlt es bereits herunter. Und spätestens im Dezember kehrt auch in | |
| Gaza der Winter ein. | |
| Zelte sind dort derweil Mangelware und entsprechend teuer. Mindestens 1.000 | |
| Schekel – also etwa 260 Euro – muss man für eines bezahlen. Üblicher sind | |
| Preise um die 2.000 Schekel, ungefähr 520 Euro. Nach Angaben der | |
| israelischen Behörde Cogat, die für die Verwaltung der besetzten | |
| palästinensischen Gebiete zuständig ist, wurden im Oktober insgesamt 2.681 | |
| Tonnen sogenanntes „Shelter Equipment“ – also Ausrüstung für Notunterk�… | |
| – nach Gaza hineingelassen. | |
| ## Die Krise, die der Regen auslöste, war absehbar | |
| Nicht viel, gemessen an einer Bevölkerung von zwei Millionen Menschen, von | |
| denen nach Angaben der Vereinten Nationen (UN) 90 Prozent im Laufe des | |
| Krieges mindestens einmal vertrieben wurden. Und vor dem Hintergrund, dass | |
| UN-Angaben zufolge mehr als 80 Prozent der Gebäude in Gaza beschädigt oder | |
| zerstört sind. | |
| Dem Medienbüro im Gazastreifen zufolge, das von dem Hamas-Mitglied Ismael | |
| al-Thawabta geleitet wird, seien mehr als 288.000 Familien von einer | |
| „Shelter-Krise“ betroffen, könnten sich also nicht angemessen unterbringen. | |
| Und die Internationale Organisation für Migration meldete bereits Ende | |
| Oktober: Etwa 1,5 Millionen Menschen bräuchten dringend Hilfe bei der | |
| Unterbringung, während kaum mehr Güter dafür auf den Märkten verfügbar | |
| seien. | |
| Dazu gehören nicht nur Zelte, sondern auch Planen, die zwischen Bäumen oder | |
| Wänden gespannt oder auf Stöcke gestützt den Regen abhalten können. Oder | |
| mit denen sich die Böden der Zelte auslegen lassen. | |
| Die Krise, die der Regen nun in Gaza auslöste, war absehbar: Immer wieder | |
| hatten Hilfsorganisationen Israel angerufen, mehr Güter zur Unterbringung | |
| der Menschen in den Gazastreifen passieren zu lassen. Diesen Aufruf haben | |
| sie nun wiederholt – und sprachen dabei von 250.000 Familien in Not. | |
| ## Fast alles kostet Geld im Gazastreifen | |
| Es sei frustrierend, dass man seit der Annahme des Friedensplans des | |
| US-Präsidenten Donald Trump so viel Zeit verloren habe, sagte etwa Jan | |
| Egeland, Generalsekretär des Norwegian Refugee Council (NRC). Denn in dem | |
| 20-Punkte-Plan des US-Präsidenten war eigentlich festgehalten worden, dass | |
| wieder mehr Hilfslieferungen den Gazastreifen erreichen sollen – mindestens | |
| auf dem Niveau der vorangegangenen Waffenruhe im Frühjahr 2025. | |
| Die Zahlen der Cogat zeigen aber das Gegenteil: Im ganzen Oktober – am 10. | |
| des Monats begann offiziell die Waffenruhe und damit die erste Phase des | |
| Trump-Plans – kamen nur etwa 38.700 Tonnen Güter nach Gaza. Davon stammten | |
| fast 14.700 aus dem privaten Sektor – sind also Güter, für die die Menschen | |
| auf den Märkten im Gazastreifen bezahlen müssen. Zur Erinnerung: Im Februar | |
| 2025, während der letzten Waffenruhe, waren es fast 300.000 Tonnen. | |
| Auch Khawla Khadr und ihrer Familie mangelt es an allem: „Manchmal bekommen | |
| wir Hilfsgüter und einmal am Tag erhalten wir Essen bei einer nahen | |
| Moschee“, sagt sie. Das reiche aber kaum. Neulich habe ihre blinde | |
| Schwester, die gerade bei ihr wohnt, sich Linsen zu essen gewünscht. „Ich | |
| konnte nicht mal eine Zwiebel finden, um sie mit den Linsen anzubraten“, | |
| sagt sie. Und auch keine Zitrone, um deren sauren, frischen Saft über die | |
| deftigen Linsen zu pressen. | |
| Ein Einkommen habe sie seit dem Tod ihres Mannes nicht mehr. Neulich habe | |
| ihr jemand 200 Schekel gegeben, erzählt sie, für die Kinder. Das Geld war | |
| schnell wieder weg. | |
| Fast alles kostet Geld im Gazastreifen: Was auf dem freien Markt verfügbar | |
| ist, aber auch Hilfsgüter, die teils ebenso auf den Märkten verkauft | |
| werden. Und auch das Sandstück, auf dem Khadrs undichtes Zelt steht, kostet | |
| Miete: Sie bezahlt etwa 250 Schekel, sagt sie, etwa 65 Euro. Dabei sei der | |
| Boden lehmhaltig. Auch das trägt dazu bei, dass das Wasser nicht abläuft. | |
| „Wir haben versucht, ein anderes Stück Land zu finden“, sagt sie, „aber … | |
| gibt nichts.“ | |
| ## „Die Geräusche der Wellen waren beängstigend“ | |
| Ahmed Abu Eid hat ein Stück Land gefunden, für das er nicht bezahlen muss. | |
| Denn es liegt ganz nah am Meer, direkt am Strand, in der Nähe des Hafens | |
| von Chan Yunis. „Durch die Gnade Gottes haben wir in den vergangenen Tagen | |
| die starken Winde und den Regen überlebt“, sagt er. Das Wasser des Meeres | |
| sei immer weiter den Sand des Strands hinaufgestiegen – doch er hatte | |
| vorgesorgt, erzählt er. „Wir haben Sandbarrieren aufgeschüttet, um das Zelt | |
| zu schützen.“ | |
| „Ich hatte keine Angst vor dem Regen“, sagt er. „Nur vor dem Wasser des | |
| Meeres, dass es ansteigt und unseren Zeltplatz völlig überschwemmt. Die | |
| Geräusche der Wellen waren beängstigend“, sagt er. | |
| Sein Zelt habe er im Februar gebaut, für sich und seine achtköpfige | |
| Familie: die Ehefrau, die fünf Söhne und die Tochter. Für 1.200 Schekel, | |
| also etwa 315 Euro, habe er Planen und Holz gekauft. Doch die brennende | |
| Sonne im Sommer und der scharfe Wind, der vom Meer nach Gaza hineinweht, | |
| habe an seiner Behausung gezehrt. Jetzt regne „es an allen Ecken hinein“, | |
| sagt er. | |
| Als der Regen vor einigen Tagen zu fallen beginnt, stellt er kleine | |
| Plastikcontainer unter die Löcher. Und versucht, die Matratzen der Familie | |
| so ins Zelt zu legen, dass sie von der Nässe verschont bleiben. Das gelingt | |
| halbwegs, doch zerstört das eindringende Regenwasser etwa die Schulbücher | |
| seines Sohnes. Er sei froh, dass das Zelt immerhin nicht zusammengebrochen | |
| sei. „Dann hätten wir gar keine Unterkunft mehr“, sagt er. | |
| ## Der Regen ließ auch seine Einnahmequelle versiegen | |
| Wie auch Khadr überlegt Abu Eid, ein neues Zelt zu kaufen. Doch die Preise, | |
| sagt er, seien signifikant gestiegen. Eine Plastikplane koste nun 300 | |
| Schekel, also etwa 80 Euro. Und für seine Konstruktion brauche er drei | |
| davon. Das Geld habe er nicht. | |
| Denn der Regen hat auch seine einzige Einnahmequelle versiegen lassen: Vor | |
| einiger Zeit hatte er sich einen kleinen Lehmofen gebaut, darin Brot | |
| gebacken und es verkauft. Doch in der Nässe lässt sich der Ofen nicht | |
| betreiben. Und auch das Holz, das er sowohl für den Ofen als auch die | |
| private Kochstelle der Familie braucht, ist durchnässt. Und lässt sich | |
| nicht anzünden. „Also haben wir nichts gekocht“, sagt er. | |
| Dass der Regen die privaten Zelte und Behausungen der Menschen | |
| beeinträchtigt, ist das eine. Und dann ist da noch die sanitäre Situation. | |
| Im Zeltcamp, in dem Khawla Khadr lebt, gibt es eine notdürftig | |
| eingerichtete Toilette. „Wir haben versucht, sie mit Plastikplanen zu | |
| schützen, aber es half nichts“, sagt sie. Für Abwasser werden – in | |
| Anbetracht einer nahezu zerstörten Infrastruktur – oft Gruben gegraben. Das | |
| ist schon im Sommer ein Problem, weil es etwa das Grundwasser verunreinigt. | |
| Im Winter nimmt mit der Regenmenge auch die Wahrscheinlichkeit einer | |
| Kontaminierung zu. | |
| ## Der erste Winter, den sie in einem Zelt verbringen | |
| Auch die Stromversorgung wird schwieriger: Khadr und auch Abu Eid haben in | |
| ihren Zelten logischerweise keinen eigenen Stromzugang. Ihre Smartphones | |
| laden sie an kommerziellen Ladepunkten. Diese werden oft mit Solarpanelen | |
| betrieben. Fünf Shekel am Tag, umgerechnet ungefähr 1,30 Euro, koste sie | |
| das, sagt Khadr. Mit dem Ausbleiben der im Sommer so strahlenden Sonne | |
| könnte auch das künftig teurer werden. | |
| Was ihm für die nahe Zukunft am meisten Angst mache, sei die Kälte, sagt | |
| Abu Eid. „Wir werden ihr begegnen müssen ohne Bettzeug und warme Decken, | |
| ohne irgendeine Möglichkeit zu heizen“, sagt er. | |
| Den letzten Winter, erzählt er, habe er in seinem Haus verbracht, in | |
| Abasan, östlich von Chan Yunis. Doch das ist nun Teil der gelben Zone, die | |
| weiterhin unter Kontrolle des israelischen Militärs steht und von den | |
| Palästinenserinnen und Palästinensern nicht betreten werden darf. So ist es | |
| [2][im Waffenruheabkommen erst einmal vereinbart]. Es sei der erste Winter, | |
| den er und seine Familie in einem Zelt verbringen, sagt er. Und fragt: | |
| „Wenn die Situation jetzt im November zu Beginn des Winters schon so ist – | |
| wie soll das dann noch werden?“ | |
| 19 Nov 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Gaza-Tagebuch/!6127532 | |
| [2] /UN-Resolution-zu-Gaza/!6130666 | |
| ## AUTOREN | |
| Seham Tantesh | |
| Lisa Schneider | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Gaza | |
| Gaza-Krieg | |
| Winterzeit | |
| Starkregen | |
| Hilfsgüter | |
| GNS | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Gaza | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Jair Lapid | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Waffenlieferung | |
| Gaza-Krieg | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Flucht aus dem Gazastreifen: Von Gaza nach Südafrika mit dubioser Organisation | |
| Mit einem umstrittenen Flug landen über 150 Palästinenser in Johannesburg, | |
| auch die Familie von Ali Bkheet. Er berichtet von der ungewöhnlichen | |
| Flucht. | |
| Gaza-Friedensplan: Rückkehr nach Gaza? | |
| Die Palästinensische Autonomiebehörde hat kaum Rückhalt in der eigenen | |
| Bevölkerung. Doch nun will sie in Gaza wieder die Kontrolle übernehmen. | |
| Proteste in Israel: „Schick die Regierung des Massakers nach Hause“ | |
| Noch immer verhindert Premier Netanjahu eine unabhängige Untersuchung des | |
| Hamas-Angriffs vom 7. Oktober 2023. Dagegen gehen Tausende auf die Straßen. | |
| +++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++: Tote in Gaza, dem Westjordanland und Liban… | |
| Bei einem Luftangriff im Süden der libanesischen Haupstadt Beirut wird ein | |
| Hisbollah-Anführer getötet. Auch andernorts halten die Angriffe an. | |
| Gewalt im Westjordanland: Mit dem Bulldozer durch die Camps | |
| Ein neuer Bericht von Human Rights Watch wirft Israel Kriegsverbrechen in | |
| den Flüchtlingslagern des Westjordanlands vor. Mindestens 850 Häuser sind | |
| nicht mehr bewohnbar. | |
| Krieg trotz Waffenruhe: Zahl der Toten bei Angriffen im Gazastreifen steigt auf… | |
| Israel wirft der Palästinensermiliz Hamas eine Attacke auf Soldaten vor und | |
| bombardiert dann in Gaza. Dabei werden auch Frauen und Kinder getötet. | |
| UN-Resolution zu Gaza: Aufgeregte Waffenruhe | |
| Der UN-Sicherheitsrat hat eine neue Gaza-Resolution beschlossen. Eine | |
| Internationale Truppe soll Trumps Friedensplan umsetzen. Beides ist | |
| umstritten. | |
| Neue Waffen für Israel: Deutschland zündelt wieder mit | |
| Den eh inkonsequenten Waffenlieferungsstopp für Israel hat die | |
| Bundesregierung jetzt wieder aufgehoben. Dabei ist die Lage alles andere | |
| als sicher. | |
| Chancen für eine Zwei-Staaten-Lösung: Zwei Völker, ein Schicksal | |
| Auf Einladung von Ha’aretz und Heinrich Böll Stiftung wurden in Berlin | |
| „Bruchlinien und Zukünfte“ im Verhältnis von Israel, Gaza und Deutschland | |
| diskutiert. |