| # taz.de -- Gaza-Tagebuch: „Ich durchwühlte die Asche, meine Hände schwarz�… | |
| > Als unsere Autorin ihr zerstörtes Haus sieht, fällt ihr wieder ein, was | |
| > sie dort alles zurückließ. Etwa ihr Unizeugnis – das sie für eine | |
| > Bewerbung braucht. | |
| Bild: Viele Palästinenser in Gaza haben alles verloren: ihren Besitz, ihre Pap… | |
| Ich zähle die weißen Haare auf meinem Kopf. Sie sind nur eine Spur, die der | |
| Krieg bei mir hinterlassen hat. Unter meinen Augen hat sich eine Vertiefung | |
| gebildet. Meine Schultern stehen knöchern hervor – wie bei einem | |
| erschöpften Model, das immer noch darauf besteht, über den roten Teppich zu | |
| laufen, auch wenn das Licht bereits aus ist. | |
| Als ich zum ersten Mal nach Nordgaza heimkehrte – nachdem zum ersten Mal | |
| behauptet wurde, ein Waffenstillstand sei erreicht worden –, fand ich mein | |
| Zuhause bis auf die Grundmauern niedergebrannt vor. Fast nichts war übrig | |
| geblieben – außer einem Schriftzug, in der vertrauten Handschrift meines | |
| Freundes, an einer Hauswand: „Bala wala shi, bhebik.“ Das bedeutet „Mit | |
| nichts und wieder nichts, liebe ich dich.“ Das ist mein Lieblingslied | |
| [1][des libanesischen Künstlers Ziad Rahbani.] | |
| Als ich damals den Schriftzug sah, kamen mir die Tränen. Während ich | |
| weinte, stiegen andere Erinnerungen hoch: Plötzlich fiel mir ein, dass ich | |
| mein Universitätszeugnis nicht von zu Hause mitgenommen hatte, als wir | |
| flohen. Ich stellte mir vor, dass es noch immer sicher verstaut in meiner | |
| Schreibtischschublade lag. Also suchte ich danach, durchwühlte die Asche, | |
| meine Hände schwarz. Vielleicht würde ich es noch irgendwo finden. | |
| ## Hauptsache, weg aus dem Gazastreifen | |
| Vielleicht könnte ich damit ein Stipendium im Ausland beantragen. | |
| Vielleicht würde mich eine barmherzige Nation von hier wegholen, mir die | |
| Türen des Lebens wieder weit öffnen, mich neu beginnen lassen, meine Arbeit | |
| wieder aufnehmen, meine Träume wieder aufbauen und … Genug, meine Liebe, | |
| sagte ich mir. Genug von dieser Wunschvorstellung. Alles, was ich fand, war | |
| Asche. Asche von wichtigen Papieren, von Familienfotos, von Tagebüchern – | |
| Erinnerungen, die zwischen meinen zitternden Händen zerfielen. | |
| Die Tage vergingen, und der Krieg kehrte zurück. Ich wurde insgesamt neun | |
| Mal vertrieben. Neun Mal trug ich also das Wenige, das von meinem Leben | |
| übrig geblieben war, mit mir. Das letzte Mal zogen wir nach Chan Yunis. | |
| Dann sagten sie wieder: „Ein Waffenstillstand wurde erklärt. Die Waffenruhe | |
| ist jetzt in Kraft.“ Aber die Weisen lassen sich nicht zweimal von | |
| demselben Versprechen täuschen. | |
| Es gab immer noch Bombenangriffe. Wir kehrten nicht in unser Haus zurück. | |
| Denn es liegt in der sogenannten „gelben Zone“, die das israelische Militär | |
| bis heute besetzt. Also blieben meine Familie und ich in unserem Zelt in | |
| al-Mawasi, dem sogenannten humanitären Gebiet. | |
| Während der letzten Waffenruhe hatte ich Hoffnungen auf einen Ausweg: | |
| Gerüchte besagten, dass der Grenzübergang von Gaza nach Ägypten bald | |
| geöffnet werden sollte. Die Hoffnung keimte wieder in mir auf, schwach, | |
| aber hartnäckig. Ich suchte erneut nach einem Ausweg. Es gab ein Stipendium | |
| in Europa, dessen Anforderungen perfekt zu mir passen würden. | |
| ## Warten auf eine göttliche Gabe | |
| Also schrieb ich an meine Universität und bat um eine Ersatzbescheinigung | |
| für mein verbranntes Zeugnis. Ich entwarf mein Motivationsschreiben, wandte | |
| mich an die meiner Professoren, die noch lebten oder erreichbar waren, um | |
| Empfehlungsschreiben zu erhalten. Ich bereitete ein Foto vor, das genau den | |
| Anforderungen entsprach, aktualisierte meinen Lebenslauf. Dann wartete ich. | |
| Auf eine Nachricht, die nie kam – dass meine Ersatzbescheinigung für das | |
| Zeugnis fertig wäre. | |
| Die Tage vergingen, und die Stille wurde immer bedrückender.Die Frist | |
| rückte näher. Dann brach der letzte Tag zur Abgabe der Dokumente für das | |
| Stipendium an. Verzweifelt rief ich das verantwortliche Büro in Ramallah an | |
| und sagte, ich würde statt des Originalzeugnisses einen offiziellen | |
| Abschlussnachweis einreichen. Die Stimme des Mannes am anderen Ende der | |
| Leitung war fast mechanisch: „Machen Sie sich keine Mühe. Wenn Ihre | |
| Bewerbung nicht vollständig ist, wird sie niemand auch nur ansehen.“ | |
| Ich atmete ein, schaltete mein Telefon aus, schob es unter mein Kopfkissen | |
| und gab mich dem Schlaf hin. | |
| Ich sitze weiter hier in Gaza. Aber nun jage ich nicht mehr der Chance | |
| hinterher, doch noch irgendwie wegzugehen. Sondern warte stattdessen auf | |
| eine göttliche Gabe: ein himmlisches Stipendium des Friedens und der Ruhe | |
| für mich selbst und für meine Heimat. | |
| Sawsan Al-Ajouri hat an der Islamischen Universität Gaza Englische | |
| Literatur studiert, ihr Lieblingsautor ist T.S. Eliot. Sie schreibt seit | |
| acht Jahren Gedichte; noch ist ihr Erstlingswerk unveröffentlicht. | |
| Internationale Journalist*innen können seit dem Beginn des Krieges | |
| nicht in den Gazastreifen reisen und von dort berichten. Im „Gaza-Tagebuch“ | |
| holen wir Stimmen von vor Ort ein. | |
| Aus dem Englischen Lisa Schneider | |
| 14 Nov 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Sawsan Al-Ajouri | |
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