| # taz.de -- Gaza-Tagebuch: „Wir gehen an den Gräbern vorbei und ziehen weite… | |
| > Unser Autor will an ein Ende des Kriegs glauben. Doch er findet keinen | |
| > Weg, seinen Zweifeln zu begegnen. Und erkennt: Die Unsicherheit wird | |
| > bleiben. | |
| Bild: Die Gräber unserer Freunde. Kinder spielen auf einem Grab in Khan Younis… | |
| Mein Freund – er ist mittlerweile im Ausland – fragt mich: „Du bist immer | |
| noch drinnen. Ist es wirklich vorbei?“ Ich antworte: „Es scheint so. Aber | |
| nach allem, was passiert ist, vertraut hier niemand mehr seinem Instinkt. | |
| Zweifel sind zur Grundlage von allem geworden.“ Er fragt: „Du zweifelst, | |
| also bist du?“, dann lachte er laut. | |
| Seit Oktober vor zwei Jahren habe ich gefühlt nicht mehr gelacht. Ist der | |
| Krieg wirklich vorbei? Damit dieses Gefühl endlich wieder zurückkehren | |
| kann? | |
| Wie kann ich mein Gehirn davon überzeugen, nicht mehr ständig in | |
| Alarmbereitschaft zu sein? Wie kann ich mein Herz davon überzeugen, | |
| Hoffnung zu haben, daran festzuhalten? Die Hoffnung wieder ganz oben auf | |
| die Liste der gefühlten Emotionen setzen, nachdem sie zwei ganze Jahre lang | |
| ganz unten war? | |
| Im Moment fühle ich mich noch wie in der Schwebe – ein seltsames Gefühl, | |
| das ich noch nie zuvor erlebt habe. Ich stehe am Rande eines vagen | |
| Schmerzes. Die Welt fühlt sich weiter fern und kalt an. | |
| ## Als wäre die Welt ganz weit weg | |
| Ich habe einen Vorschlag für dich, liebe Welt: Wie wäre es, wenn wir | |
| zueinander zurückkehren? Auch wenn wir uns gegenseitig verfluchen, endlos | |
| schreien, als wären wir Feinde. Komm zu mir zurück, denn du scheinst so | |
| weit weg. | |
| Dieses Gefühl der Schwebe und Zerrissenheit ist beunruhigend. Ich aber bin | |
| ein Feigling. Und mag es nicht, zwischen den Dingen zu stehen. | |
| In unserem Land haben wir gelernt, dass die Bindung zu dieser Erde eine | |
| schwer zu heilende Krankheit ist. Andererseits haben wir auch gelernt, dass | |
| Distanz zu ihr uns Wärme und Gefühle raubt, uns im Schatten der | |
| Vergessenheit zurücklässt. | |
| Ich möchte mich nicht zu sehr an die Welt klammern. Ich habe Angst, dass | |
| sie meiner leid werden könnte. Aber ich möchte auch nicht zu weit abdriften | |
| und bei ihr in Vergessenheit geraten. Ich bleibe ein Feigling. Und weiß | |
| nicht, in welche Richtung ich laufen soll. | |
| ## Ist es wirklich vorbei? | |
| Wir sind wirklich durch die Hölle gegangen. Und wer durch sie gegangen ist, | |
| der lebt nicht wie andere, isst nicht wie andere, schläft nicht wie andere. | |
| Der träumt nicht und weint nicht. | |
| [1][Wir gehen an den Gräbern unserer Freunde vorbei] und ziehen weiter. Wir | |
| lassen ihre Gebete und Gefühle zurück. Wir durchlebten Hunger und Durst, | |
| Angst und Unruhe. Wir durchlebten uns selbst und verloren uns im Kampf um | |
| die Suche nach Sinn. Wir gehen stetig voran – wir kennen den Weg, aber das | |
| Ziel nicht mehr. | |
| [2][Wenn meine Tochter Elin voller Angst zu mir rennt] und sich in meine | |
| Arme wirft, streichle ich ihr über das Haar und flüstere ihr tröstende | |
| Worte zu. Ich sage ihr, dass schwere Zeiten nicht das Ende bedeuten, | |
| sondern Wachstum. „Jede Angst, jeder Schmerz macht dich stärker, mein | |
| Schatz. Genau wie Eisen, das wir schmieden, legen wir es ins Feuer, und es | |
| wird härter.“ | |
| Für kurze Momente erfüllt mich die Hoffnung, wenn meine Tochter sich wieder | |
| beruhigt. Aber mein Verstand ordnet die Ereignisse neu, öffnet dem Zweifel | |
| die Tür und fragt: Ist es wirklich vorbei? | |
| ## Wir werden diese Unsicherheit in uns tragen, für immer | |
| Dann kommt mir ein Zitat des ägyptischen Schriftstellers Ahmed Khaled | |
| Tawfik in den Sinn: „Ich möchte weinen, zittern, mich an einen der | |
| Erwachsenen klammern – aber die harte Wahrheit ist, dass ich einer der | |
| Erwachsenen bin.“ | |
| Selbst wenn dieser Krieg wirklich endet, werden wir diese Unsicherheit in | |
| uns tragen, für immer. Sie wird uns Hoffnung und Ruhe fürchten lassen. Sie | |
| wird jedes Mal, wenn der Geist des Krieges irgendwo vorbeizieht, wieder | |
| ihren Kopf erheben. | |
| Wir werden uns weiter nach der Umarmung „eines der Erwachsenen“ sehnen – | |
| ohne zu merken, dass wir selbst die Erwachsenen sind. | |
| [3][Ist der Krieg vorbei? Ich werde immer antworten: Ja.] Aber tief in | |
| meinem Inneren werde ich immer antworten: Nein. Eintausendmal nein. | |
| 4 Nov 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Muhammad Ghoneim | |
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