| # taz.de -- Ausreise aus Gaza: „Um mich herum ist so viel Leben und in mir so… | |
| > Unser Autor hat den Gazastreifen mithilfe eines Stipendiums verlassen. | |
| > Die Reise dauerte Tage – und ein Teil von ihm blieb zurück. | |
| Bild: Die Verwüstung der Stadt Rafah ist groß | |
| In den herbstlichen Straßen Italiens fühlt sich das Wetter manchmal fast | |
| wie in Gaza an. Doch der Duft von heißer Schokolade trifft mein Herz und | |
| ruft eine Flut von Erinnerungen hoch: Wie die Kriegsmaschinerie mir und den | |
| anderen Bewohnern Gazas alles nahm, was sie liebten. Mein Herz rast jedes | |
| Mal, wenn ich hier in Italien etwas finde, [1][das es in Gaza in den | |
| letzten beiden Jahren nicht gab.] | |
| Doch mein Herz, ob es rast oder nicht, ist eigentlich immer noch woanders: | |
| in Gaza. | |
| So verließ ich den Gazastreifen: Um 20 Uhr, am 21. Oktober 2025, trat ich | |
| zum letzten Mal aus der Wohnung in Gaza-Stadt, die ich für teuer Geld | |
| angemietet hatte, und machte mich auf den Weg zum Sammelpunkt für alle, die | |
| einen Termin für die Ausreise aus Gaza hatten: dem Al-Aqsa-Krankenhaus in | |
| Deir al-Balah. Ich verabschiedete mich von meinen Freunden und wartete bis | |
| 3 Uhr morgens auf einen Bus, der uns aus Gaza hinausbringen sollte. | |
| Als wir endlich einsteigen konnten, befahl uns die israelische Armee, vom | |
| Krankenhaus zum Unicef-Hauptquartier in der Nähe des | |
| Al-Baraka-Kreisverkehrs zu fahren. Wir kamen gegen 4:30 Uhr dort an und | |
| warteten auf die Genehmigung der Armee für die Weiterfahrt. Um 6:30 durften | |
| wir schließlich weiterfahren nach Chan Yunis. Von dort aus erreichten wir | |
| am Mittag des Folgetags den Grenzübergang Kerem Shalom. | |
| ## Verwüstung, größer, als Fotos jemals zeigen könnten | |
| Als wir durch Chan Yunis und Rafah fuhren, [2][sah ich die immense | |
| Verwüstung, größer, als Fotos jemals zeigen könnten.] | |
| Wir warteten zwei Stunden auf der Gaza-Seite des Grenzübergangs – es war | |
| nichts anderes als eine Machtdemonstration Israels. Schließlich wurden wir | |
| abgefertigt: von Kameras gescannt, durchsucht und überprüft. Jeder von uns | |
| hob auf Befehl die Hände, als würde er sich freiwillig ergeben. Wir wurden | |
| von einer Armee der Besatzung auf unserem eigenen Land durchsucht. | |
| Nach stundenlangem Warten und Durchsuchen durften wir schließlich | |
| passieren. Wir fuhren zur König-Hussein-Brücke, wo wir um 16 Uhr ankamen. | |
| Dahinter beginnt Jordanien. Die israelische Armee hielt uns ohne Grund | |
| stundenlang am Kontrollpunkt auf – obwohl die italienische Botschaft unsere | |
| Durchfahrt bereits koordiniert hatte. | |
| Unsere Gruppe bestand aus Menschen, die ein Visum für Italien bekommen | |
| hatten. Dazu gehöre ich, weil ich dort ein Studium beginne. Aber auch ein | |
| älterer Mann, der Gaza im Rahmen einer Familienzusammenführung mit seinem | |
| Sohn in Italien verließ. Er bat darum, die Toilette benutzen zu dürfen, | |
| aber die Soldaten lehnten dies ab. Nach einiger Zeit sagten sie uns, dass | |
| jeder, der auf die Toilette müsse, einfach hinter dem Bus gehen könne – | |
| auch die Frauen in der Gruppe. | |
| ## Jedes Mal Angst | |
| Nach Stunden fuhren die Busse endlich von der Brücke zum Passamt in | |
| Jordanien. Wir kamen am 22. Oktober 2025 gegen 20 Uhr an. Zwei Stunden | |
| später, nachdem unsere Pässe abgestempelt worden waren, fuhren wir zum | |
| italienischen Krankenhaus in Amman. | |
| Viele Freunde, die ich vor Jahren bei einer Reise nach Jordanien | |
| kennengelernt hatte, warteten dort auf mich: Munir, Reev, Dina und einige | |
| andere, die ich jahrelang nicht gesehen hatte. Es fühlte sich an wie ein | |
| Traum. Dina berührte immer wieder meinen Arm, um sich zu vergewissern, dass | |
| ich real war. Reevs Augen konnten es nicht glauben, und Munir konnte nicht | |
| aufhören zu starren. | |
| Um 14 Uhr bestiegen wir das Flugzeug nach Rom. Dann Umstieg nach Mailand | |
| und weiter mit dem Bus nach Turin. Martina und Tamara warteten dort auf | |
| mich – Freundinnen, die unermüdlich daran gearbeitet hatten, mich | |
| hierherzubringen. Sie zu sehen, war ein Hoffnungsschimmer – nach fünf | |
| Monaten der WhatsApp-Nachrichten. Insgesamt dauerte meine Reise drei Tage – | |
| eine Zeit voller Anspannung und Angst: Jedes Mal, wenn sich die | |
| Besatzungsarmee näherte, zog sich mein Herz zusammen, schließlich hatten | |
| wir alle gesehen, [3][wie die Armee Menschen und Familien getötet hat.] | |
| Und nun bin ich in Italien und kann es kaum ertragen. Um mich herum ist so | |
| viel Leben. Und in mir so viel Schmerz. | |
| Esam Hani Hajjaj (29) kommt aus Gaza-Stadt und ist Schriftsteller und | |
| Dozent für kreatives Schreiben für Kinder. Nach Kriegsausbruch musste er | |
| innerhalb des Gazastreifens mehrfach fliehen. Mit einem | |
| Universitätsstipendium konnte er jetzt nach Italien ausreisen, seine | |
| Familie blieb in Gaza zurück. | |
| Internationale Journalist*innen können seit Beginn des Kriegs nicht in | |
| den Gazastreifen reisen und von dort berichten. Im „Gaza-Tagebuch“ holen | |
| wir Stimmen von vor Ort ein. Es erscheint meist auf den Auslandsseiten der | |
| taz. | |
| 17 Dec 2025 | |
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| Esam Hajjaj | |
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