# taz.de -- Wiederentdeckung von Helga Schubert: Preisträgerin mit Vorgeschich… | |
> Helga Schubert war fast vergessen. Durch den Bachmannpreis wird die ganz | |
> Große der kleinen Geschichten zu Recht wiederentdeckt. | |
Bild: Lauter Leben, lauter Schmerz: Schriftstellerin Helga Schubert in ihrem Ga… | |
Helga Schubert schreibt seit knapp sechzig Jahren, ihren ersten Erzählband | |
veröffentlichte sie 1975 – und trotzdem kannte sie, bevor sie jetzt [1][den | |
Bachmannpreis gewann], kaum jemand. Wie kann das sein? Wer ist die Autorin | |
Helga Schubert? | |
1940 in Berlin-Kreuzberg geboren, landete Helga Schubert nach dem Krieg mit | |
ihrer Mutter in Ostberlin. Dort wuchs sie auf, studierte, heiratete, bekam | |
ein Kind und verpasste nach eigenen Aussagen „eine der letzten S-Bahnen | |
nach Westberlin vor dem 13. August 1961 und war so eingezäunt wie meine | |
Millionen Mitbürger im Osten“. | |
Schubert arbeitete in den 1960er Jahren als klinische Psychologin in der | |
Erwachsenen-Psychotherapie und Eheberatung. Aus dieser Zeit stammen ihre | |
ersten Schreibversuche. 1970 legte sie dem Aufbau-Verlag einen Stapel | |
Gedichte vor. Veröffentlichen wollte man ihre Lyrik zwar nicht, aber die | |
Verlagsmitarbeiter ermutigten die junge Psychologin weiterzuschreiben. Sie | |
stieg auf Kurzgeschichten um – das Genre, das bis heute ihr Steckenpferd | |
bleiben sollte. | |
Der Zufall führte sie knapp ein Jahr später mit [2][Sarah Kirsch] zusammen, | |
die eine Freundin und Förderin werden sollte. Kirsch leitete zu jener Zeit | |
einen Zirkel schreibender Arbeiter und Studenten. Als Helga Schubert ihr | |
ein paar ihrer Geschichten vorlegte, zögerte Kirsch nicht und reichte die | |
Texte mit Empfehlung an den Aufbau-Verlag weiter. 1975 erschien Schuberts | |
erster Erzählband „Lauter Leben“, für den Kirsch das Nachwort verfasste. | |
Schubert interessiert sich für das Alltägliche. In ihren Texten greift sie | |
Geschichten auf, die sie von Freunden und Bekannten gehört hat, häufig sind | |
Frauen im mittleren Alter ihre Protagonisten. Sie schreibt über | |
jungfräuliche Kriegswitwen, über eine Haushälterin, die sich tapfer | |
durchschlägt, über verzwickte Affären und die lieblose Ehe ihrer Nachbarin | |
– kurz: Schubert schreibt über ganz normale Menschen; Menschen, die | |
manchmal einfach nicht mehr weiterwissen. | |
## Tragik des Alltags | |
Nie wird sie dabei zur Schaulustigen – vielmehr hat die Erzählerin in | |
Schuberts Texten ein ehrliches Interesse daran zu erfahren, was mit einem | |
los ist, und kommt dabei häufig zu dem Schluss, dass das Leben mitunter | |
richtig wehtun kann. Denn wo Leben ist, da ist auch Schmerz. Diesen Schmerz | |
nimmt Schubert ernst, auch wenn er noch so banal erscheint. | |
Die Tragik des Alltags spiegelt sich im Ungesagten, zwischen den Zeilen. So | |
heißt es zu Beginn der Geschichte „Meine alleinstehenden Freundinnen“: | |
„Meine alleinstehenden Freundinnen kann man unangemeldet besuchen. Meistens | |
ist schon jemand da. Man kann zu ihnen jemand mitbringen. Meine | |
alleinstehenden Freundinnen kommen nie unangemeldet, und wenn sie vorher | |
von der Ecke anrufen. Sie wollen, dass man dann allein ist. Sie bringen | |
niemand mit.“ | |
So zu schreiben, das beherrscht man oder eben nicht. Schubert schreibt | |
kurze Sätze, die Aussagen hinstellen wie Felsen: „Anna kann Deutsch. Noch | |
von der deutschen Besatzung. Da hat sie in einem deutschen Lazarett | |
gearbeitet. Als Pflegerin.“ Diese Sätze sind da und unverrückbar. Sie | |
können nicht umfallen, nicht ins Unwesentliche kippen. Ihr Fundament ist | |
breit. Wie Pyramiden. | |
## Eine unvorstellbare Anmaßung | |
Auf ihr Erzähltalent wurden bald auch ihre Schriftstellerkollegen | |
aufmerksam. 1975 wurde Helga Schubert von Martin Stade, [3][Klaus | |
Schlesinger] und Ulrich Plenzdorf dazu eingeladen, an ihrem | |
Anthologie-Projekt „Berliner Geschichten“ mitzuwirken. | |
Die Herausgeber wollten im Plenum mit den Autoren selbst bestimmen, wer mit | |
welchem Text vertreten ist, und es einem DDR-Verlag zur unkorrigierten | |
Drucklegung anbieten – zu jener Zeit eine unvorstellbare Anmaßung und für | |
die DDR-Führung Anlass genug, nicht nur das Vorhaben zu verhindern, sondern | |
auch Herausgeber und Autoren zur „Aussprache“ im Schriftstellerverband | |
vorzuladen. | |
Dort weigerte sich Helga Schubert, ihren Beitrag mit dem Titel „Heute | |
abend“ zurückzuziehen, weil er parteikritische Töne enthalte (unter anderem | |
ist von einer Frau die Rede, die „es eben satt gehabt“ und sich das Leben | |
genommen hatte). Seitdem hatte Schubert ständige Begleiter. Die Stasi | |
observierte sie bis 1989. | |
## Ausbürgerung Wolf Biermanns | |
Auch dass Schubert die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 und die darauf | |
folgenden Ausschlüsse von Autoren aus dem Vorstand des | |
Schriftstellerverbands kritisierte und neben Elke Erb, Brigitte Struzyk und | |
Bettina Wegner auf Veranstaltungen der Evangelischen Kirche auftrat, gefiel | |
der DDR-Regierung nicht. Als Schubert 1980 nach Österreich zum | |
Bachmann-Wettbewerb eingeladen wurde, sie sollte dort also schon vor | |
vierzig Jahren lesen, verwehrte man ihr die Ausreise. Auch den | |
Fallada-Preis, der ihr 1983 von der Stadt Neumünster zugeeignet wurde, | |
durfte sie nicht entgegennehmen. | |
Umso erstaunlicher ist es, dass die meisten von Schuberts zu DDR-Zeiten | |
veröffentlichten Erzählbände zuerst im Luchterhand-Verlag in der | |
Bundesrepublik erscheinen konnten. Das geschah mit offizieller Genehmigung, | |
aber die Bedingungen waren hart. Während der Staat finanziell vom Verkauf | |
der Bücher im Westen profitierte, wurde Schuberts Honorar eins zu eins von | |
D-Mark in DDR-Mark umgerechnet – übrig blieb so gut wie nichts. | |
Schubert war nie Mitglied in der SED, eine sozialistische Grundhaltung | |
hatte sie nicht. Nach der Wende machte sie öffentlich, dass sie zu | |
DDR-Zeiten lieber in den Westen gegangen wäre. Dass sie geblieben ist, | |
hängt in erster Linie mit ihrem Mann Johannes Helm, einem | |
Psychologie-Professor und talentierten Amateurmaler, zusammen – und mit | |
einem alten Fachwerkhäuschen im mecklenburgischen Neu Meteln. | |
## Einladung von Christa Wolf | |
Im Sommer 1975 verbrachten Schubert und ihre Familie auf Einladung von | |
[4][Christa Wolf] zum ersten Mal die Ferien in der Gegend. Das Ehepaar Wolf | |
und Schubert/Helms hatten sich über die Wolf-Tochter Annette kennengelernt, | |
die bei Johannes Helm studierte, und waren seitdem in Kontakt. Christa Wolf | |
hatte Schubert ein Ferienhaus ganz in der Nähe zu ihrem eigenen Bauernhaus | |
besorgt, das sie seit 1973 besaßen. | |
Die Gegend gefiel der Familie so gut, dass sie noch im selben Jahr das | |
rohrgedeckte Fachwerkhaus gegenüber den Wolfs erwarben und fortan jeden | |
Urlaub dort verbrachten. Auch die anderen in der Umgebung ansässigen | |
Autoren lernten sie näher kennen und feierten ausgelassene Feste. In jener | |
Zeit hatte sich in diesem abgeschiedenen Winkel zwischen Schwerin und | |
Wismar eine Art Autorenkolonie entwickelt. | |
Für Johannes Helm war mit dem Kauf des Hauses in Neu Meteln ein lange | |
gehegter Wunsch in Erfüllung gegangen. Für die Städterin Helga Schubert | |
hingegen kam das Urlaubsdomizil auf dem Mecklenburger Land einem Kompromiss | |
gleich. Sie betrachtete das Bauernhaus als einen „Rückzug innerhalb der | |
DDR“ und tröstete sich damit, dass es in ihrem Garten immer schöner um sie | |
herum wurde. | |
## Einen Schlussstrich ziehen | |
Als das Haus im Juli 1983 gemeinsam mit dem Wolf’schen Büdnerhaus | |
abbrannte, hoffte Helga Schubert zunächst, nun einen Schlussstrich ziehen | |
und in die Bundesrepublik ausreisen zu können. Doch da sich ihr Mann nicht | |
von der Landschaft und sie sich nicht von ihm trennen konnte, entschied | |
sich das Ehepaar dazu, das Haus an selber Stelle wiederaufzubauen. | |
Helga Schubert begrüßte die Wiedervereinigung vorbehaltlos. Den Aufruf „Für | |
unser Land“, in dem sich einige namhafte Schriftstellerkolleginnen und | |
-kollegen zum Sozialismus bekannten, unterschrieb sie nicht – sie wollte | |
keine andere DDR, sie wollte keine DDR. Schubert engagierte sich in der | |
Wendezeit in der Politik, unter anderem als Pressesprecherin des Zentralen | |
Runden Tisches in Berlin. In den 1990er und frühen 2000er Jahren erschienen | |
weitere Bände von ihr. | |
Im 1990 veröffentlichten Buch „Judasfrauen“ erzählt sie in authentischen | |
Porträts von Frauen, die im „Dritten Reich“ zu Verräterinnen an ihren | |
Freunden und Verwandten geworden waren, und erreichte damit noch einmal | |
eine größere Öffentlichkeit. Die folgenden Veröffentlichungen zumeist | |
DDR-kritischer Erzählungen und Essays, die sowohl vor als auch nach der | |
Wende entstanden waren, verliefen im Sande und zählten zu den weniger | |
starken Stücken der Autorin. Für Neuauflagen ihrer Bücher fand sich nur | |
noch ein kleiner E-Book-Verlag, die Edition digital aus Pinnow. | |
## Zärtlicher, zugewandter Ton | |
In den letzten Jahren war es still um Helga Schubert geworden. 2008 zogen | |
Schubert/Helms ganz nach Neu Meteln. Der Aufwand, zwischen Berlin und | |
Mecklenburg zu pendeln, war insbesondere für den 13 Jahre älteren Johannes | |
Helm zu groß geworden. Die Beziehung zu ihrem Mann bezeichnete Schubert in | |
einem Interview als intensiv und lebenswichtig; ihr ordnet sie alles andere | |
unter, auch das Schreiben. | |
Mit ihrem [5][Beitrag zum Bachmann-Wettbewerb] hat Helga Schubert nun zur | |
ihrem einzigartigen, schonungslos durchblickenden wie zärtlich zugewandten | |
Ton zurückgefunden. Kurz nach der Bekanntgabe des Bachmannpreises ließ | |
Schubert auf Nachfrage des Moderators Christian Ankowitsch verlauten, dass | |
sie noch einen längeren Text in der Schublade habe und sich dank der neu | |
entflammten Aufmerksamkeit nun auch ein Verlag bei ihr gemeldet habe. | |
Es ist schön, dass Helga Schubert jetzt neue Beachtung findet. Sie war und | |
ist eine der ganz Großen der kleinen Geschichten – und dass das nun der | |
gesamte deutschsprachige Raum weiß, ist ein Gewinn für alle. | |
28 Jun 2020 | |
## LINKS | |
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## AUTOREN | |
Johanna Steiner | |
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