# taz.de -- Wasserkraft im Tiroler Kaunertal: Auf Talfahrt | |
> Das Platzertal in Tirol soll einer Wasserkraftanlage weichen. | |
> Naturschützer, Landwirte und Paddler warnen vor irreversiblen Schäden. | |
Bild: Bislang nur vom Licht geflutet: das Platzertal in Tirol, eine Hochmoorlan… | |
Auf mehr als 2.000 Metern über dem Meeresspiegel steht die Platzeralm wie | |
das Pförtnerhäusl zu einer höheren Welt. Hinter dem Haus weiden Kühe, man | |
hört Almglockengeläut. Ein Wandersteig windet sich bergan. Almrosen | |
leuchten pinkfarben zwischen Steinen. Vielerorts tritt Wasser aus dem Hang, | |
gurgelt bergab. Nach einer Stunde Anstieg flacht die Landschaft ab, gibt | |
den Blick nach vorne frei. | |
Eine fast asketische Landschaft breitet sich aus. Zwischen alpinen Wiesen | |
und samtenen Moospolstern legt der Platzbach sein blaugrünes Band. Zwischen | |
Torfbuckeln liegen Tümpel. Kein Baum, kein Strauch. Auch keine Hütte, keine | |
Wegbeschilderungen. Es ist ein Stück unverfügte Natur. | |
Nur heute sind am Taleingang ungewöhnlich viele, vor allem junge Leute | |
unterwegs. Sie hantieren mit Seil und Reepschnüren, entrollen Banner. Als | |
insgesamt 50 Meter Stoff über das Bachbett gespannt sind, kann man darauf | |
in schwarzen Lettern lesen: „Platzertal bleibt!“ Die rund 20 Aktivisten | |
kommen von den Umweltverbänden WWF und Global 2000 sowie dem | |
Naturschutzverein WET, „Wildwasser erhalten Tirol“. | |
Die Stelle haben sie für die Aktion bewusst gewählt. Von beiden Seiten | |
rücken hier die Berge V-förmig zusammen, bilden einen Flaschenhals. | |
Topografisch ideal in den Augen eines Ingenieurs, um hier eine Talsperre zu | |
ziehen. Genehmigt die Politik die Pläne der Tiwag, der Tiroler Wasserkraft | |
Aktiengesellschaft, wird hier in wenigen Jahren eine rund 120 Meter hohe | |
und 400 Meter breite Betonmauer errichtet. | |
## Eine Mauer, so hoch wie der Stephansdom | |
120 Meter – das ist in etwa so hoch wie der Stephansdom in Wien oder 20 | |
Meter höher als die Münchner Frauenkirche. Moorflächen im Ausmaß von etwa | |
neun Fußballfeldern würden anschließend geflutet. Der neue Speichersee | |
würde dann über Rohrleitungen mit dem tiefer liegenden Wasserkraftwerk | |
Kaunertal verbunden. | |
Bettina Urbanek, dunkle Haare, festes Schuhwerk, steht neben einem | |
flechtenbewachsenen Findling und gibt der Presse Interviews. Sie ist für | |
diese Aktion eigens aus Wien angereist und in das Hochtal aufgestiegen. Die | |
Gewässerökologin beim WWF Österreich verfolgt dieses Ausbauprojekt seit | |
mehr als einem Jahrzehnt. | |
Urbanek findet klare Worte: „Dieses Hochtal samt seinem Moorgebiet auf | |
2.350 Meter Seehöhe für ein Pumpspeicherkraftwerk zu fluten ist massiv | |
naturzerstörerisch und energiewirtschaftlich so nicht nötig“, sagt sie. „… | |
ist ein Märchen, dass dieser Bau in Zeiten der Energiewende alternativlos | |
sei – das soll nur die veraltete Planung der Tiwag kaschieren.“ | |
Die Tiroler Wasserkraft AG gehört zu hundert Prozent dem Land, es betreibt | |
den Löwenanteil der über 1.000 Wasserkraftwerke in Tirol. Nun hat der | |
Energieversorger die Pläne zum Ausbau des Kraftwerks Kaunertal zum | |
wiederholten Male zur Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) eingereicht. | |
## Schweres Gerät in sensible Bergregionen | |
Wobei der Begriff „Ausbau“ die Dimension der Baumaßnahmen nur unzureichend | |
wiedergibt. De facto wäre es eines der größten Wasserkraftprojekte in | |
Europa, mit unumkehrbaren ökologischen Auswirkungen auf drei Täler. Die | |
Rede ist von drei Baustellen, die eine Fläche von insgesamt 19 Hektar | |
betreffen würden. | |
Rund 23 Kilometer Stollen von bis zu sechs Meter Durchmesser müssten in den | |
Berg getrieben werden, teilweise unter Naturschutzgebieten hindurch. | |
Schweres Gerät müsste in sensible Bergregionen verbracht werden, Flüsse | |
abgeleitet. Aktuell veranschlagte Kosten: mehr als 2 Milliarden Euro. Ginge | |
es nach der Tiwag, wäre der Baubeginn schon 2028. | |
Das Unternehmen rechtfertigt das Ausbauvorhaben mit dem Verweis auf die | |
österreichische Energiestrategie. Die Republik will bis 2040 klimaneutral | |
werden. Wie überall bringt die Dekarbonisierung zunächst eine massive | |
Erhöhung des Strombedarfs mit sich. Nach Aussagen des Bundesministeriums | |
für Klimaschutz wird sich der Strombedarf Österreichs bis 2040 um 50 bis 70 | |
Prozent erhöhen, weil die fossilen Energieträger ersetzt werden müssen. | |
Ausbauziel an erneuerbaren Energien für Österreich sind bis 2030 deshalb | |
zusätzliche 27 Terawattstunden, davon 5 Terawattstunden aus Wasserkraft. | |
Der Ausbau des Kraftwerks Kaunertal brächte laut Tiwag eine Leistung von | |
zusätzlichen 886 Gigawattstunden im Jahr. Damit stiege das Unternehmen in | |
eine höhere Liga der Erzeugungsgesellschaften auf. | |
Zu der Protestaktion ist auch Marlon Schwienbacher gekommen. Der jugendlich | |
wirkende Mann ist selbstständiger Biologe mit dem Schwerpunkt | |
Vegetationsökologie. Seinem gebräunten Gesicht sieht man an, dass er viel | |
im Gebirge unterwegs ist. Er hat eine Studie erstellt, die zeigt: Im | |
Platzertal liegt einer der größten, fast unberührten hochalpinen Moor- und | |
Feuchtgebietskomplexe Österreichs – seine Fläche erstreckt sich über mehr | |
als 20 Hektar. | |
„Das hier ist ein Lebensraummosaik aus Kleinstbiotopen, die über | |
Wasserläufe miteinander vernetzt sind“, so der Wissenschaftler. Tiere und | |
Pflanzen hätten sich hier über lange Zeiträume hinweg angepasst. „Das sind | |
genau die Orte, die wir schützen müssen.“ | |
Moorlandschaften sind aber nicht nur Horte der Biodiversität, sie spielen | |
auch eine bedeutende Rolle für den Klimaschutz. Torf ist Weltmeister in der | |
Kohlenstoffspeicherung. Global betrachtet nehmen Moore nur 3 Prozent der | |
Landfläche ein, aber speichern rund 30 Prozent des Kohlenstoffs. | |
Dabei sind auch alpine Niedermoore Kohlenstoffsenken. „Ihre Vegetation | |
entzieht der Atmosphäre den Kohlenstoff und trägt ihn unter | |
Sauerstoffausschluss dauerhaft in die Böden ein – und zwar in großen | |
Mengen“, so Schwienbacher. „Aber das tun nur Moore, die sich in einem guten | |
Zustand befinden.“ | |
## Immenser Speicherbedarf für den Klimaschutz | |
Ein Besuch bei der Tiwag in Innsbruck. Am Eduard-Wallnöfer-Platz hat das | |
Unternehmen seinen Hauptsitz. In der Glasfassade des Baus spiegeln sich die | |
Skateboarder, die auf Betonrampen ihre Sprünge machen. Drinnen, im ersten | |
Stock, setzt sich Wolfgang Stroppa an einen ovalen Konferenztisch und | |
breitet einen Plan darauf aus. Der Diplomingenieur hat für das | |
Ausbauprojekt leitende Funktion. | |
Auf der Übersicht kann man erkennen: Herzstück des bestehenden Kraftwerks | |
ist der Gepatsch-Speicher, ein Stausee aus den 60ern. In ihm wird jetzt das | |
Wasser umliegender Bergbäche eingezogen. Von dort aus wird es abgelassen, | |
treibt im Kraftwerk Prutz Turbinen an und wird in den Inn abgeleitet. | |
Stroppa erklärt die Ausbaupläne: Zwei neue Kraftwerke mit Turbinenhäusern | |
und Triebwasserwegen sollen entstehen, eines neben dem bereits | |
existierenden, es hieße dann Prutz 2, und ein zweites zwischen | |
Gepatsch-Speicher und dem neuen Speicher Platzertal mit Namen Versetz. | |
Die zusätzliche Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Energien sei das Ziel, | |
so der Tiwag-Ingenieur. „Zusätzliche Erzeugung heißt aber auch zusätzliches | |
Wasser, das wir dafür benötigen.“ Das soll aus dem hinteren Ötztal kommen, | |
davon wird später im Text noch die Rede sein. Dieses Plus an Wasser würde | |
in den Speicher Gepatsch geleitet. Von dort könnte es über die Turbinen in | |
den Inn abgelassen werden, oder zuerst hinauf in den neuen Speicher | |
Platzertal gepumpt werden, gewissermaßen geparkt. | |
„Das heißt, das Tal hat später andere Funktionen, als es davor hatte“, sa… | |
Stroppa mit Hinblick auf das Platzertal. Diese Umwidmung rechtfertigt er | |
mit dem Verweis auf die EU, die das Thema Speicherbedarf generell im Rahmen | |
[1][der Klimaziele] ganz nach oben gesetzt habe. „Wir werden einen immensen | |
Bedarf haben an Speicherung und an Ausgleichs- und Regelenergie“, sagt er. | |
Diese Aussage ist erst einmal richtig. | |
## Schreckgespenst: Blackout | |
Die Dekarbonisierung des Stromnetzes verlangt nach mehr Flexibilität zum | |
Ausgleich der Schwankungen der Wind- und Solarstromerzeugung. Speicher sind | |
dabei eine Möglichkeit, Flexibilität zu liefern. Und Pumpspeicherkraftwerke | |
sind dank der Höhendifferenz eine Option, Energie zu speichern und die | |
Einspeisung und Ausspeisung von Strom im Netz auszugleichen. | |
Dies erklärt allerdings noch nicht, warum so ein Speicher in einem Hotspot | |
alpiner Artenvielfalt gebaut werden muss. Die Energiewende bedeute, | |
Kompromisse zu machen, so Stroppa, man müsse sich die Frage stellen: „Was | |
bin ich bereit an Natur einzusetzen für die Erzeugung von erneuerbarer | |
Energie?“ | |
In ihrem Werben um die Tiroler Bevölkerung nutzt die Tiwag ein weiteres | |
Argument, das Wolfgang Stroppa auch im Gespräch mit der taz anführt. Das | |
Thema Blackout. Das neue Pumpspeicherwerk könne bei einem großflächigen | |
Stromausfall innerhalb des europäischen Verbundes die Netzspannung wieder | |
aufbauen. | |
Tatsächlich sind Wasserkraftwerke durch ihre mechanische Wirkweise – Wasser | |
fällt durch die Schwerkraft auf Turbinen – „schwarzstartfähig“ und kön… | |
im Krisenfall anforderungsgenau ins Netz speisen. Zur Wahrheit gehört aber: | |
Das Kraftwerk Kaunertal vermag bereits jetzt einen Schwarzstart, so wie | |
jedes andere Wasserkraftwerk, das an das Verbundnetz angeschlossen ist. Von | |
denen gibt es in Tirol und Österreich bereits eine ganze Menge. | |
## Sprudelnde Ungezähmtheit | |
Unter der Wellerbrücke bei Oetz tost die Ötztaler Ache. Sie donnert hier | |
durch eine felsige Engstelle. Heute, an einem Sommernachmittag, wo die | |
Sonne heiß auf die Ötztaler Ferner scheint, ist der Wasserpegel besonders | |
hoch. Touristen stehen auf der Brücke, blicken übers Geländer in das | |
Gesprudel, fasziniert von so viel Ungezähmtheit. Sie bestaunen die wenigen | |
Kajakfahrer, die sich auf diesen schwierig zu fahrenden Abschnitt wagen, | |
der in der Welt der Paddler weithin berühmt ist. | |
Das Ötztal ist eines der letzten Täler Österreichs, in denen sich das | |
Gletscherwasser auch in tieferen Lagen noch seinen natürlichen Weg suchen | |
darf. Auf einer Strecke von 42 Kilometern durchzieht der Wildbach die | |
Landschaft. Das Ötztal selbst ist ein inneralpines Trockental, von Natur | |
aus niederschlagsarm. Es ist der Fluss, der dort ein Leben und Wirtschaften | |
erst möglich macht. | |
Doch bald könnte Schluss sein mit so viel Tosen und Rauschen. Die Tiwag | |
möchte kurz vor dem Zusammenfluss von Venter und Gurgler Ache deren Wasser | |
mittels zweier 25 Meter hoher Betonsperren in einem 500 Meter langen Becken | |
aufstauen. Mehr als 70 Prozent der dortigen Wassermenge würden abgezweigt | |
und dauerhaft in den Gepatsch-Speicher umgeleitet. Dafür müsste die Tiwag | |
vom Kaunertal aus einen rund 23 Kilometer langen sogenannten | |
Freispiegelstollen durch das Gebirge treiben. Für das Unternehmen ist das | |
interessant: Das Volumen im Gepatsch-Speicher ließe sich damit fast | |
verdoppeln. | |
Reinhard Scheiber ist Obmann der Ötztaler Agrargemeinschaften und Gründer | |
der Ötztaler [2][Bürgerinitiative gegen den Ausbau des Kraftwerks | |
Kaunertal]. Die Initiative will, dass der Fluss im Tal verbleibt. „Für uns | |
hat unser Wasser einen viel größeren Wert als nur die Energie, die in ihm | |
steckt“, sagt er. „An ihm hängt alles dran – Landwirtschaft, Tourismus, | |
Lebensqualität, Trinkwasser!“ Würde der Flusspegel sinken, sei die | |
Absenkung des Grundwasserspiegels zu befürchten. „Das hätte Folgen auf | |
unsere Futterwiesen“, so Scheiber. | |
## Trockene Wiesen | |
Schon jetzt müsse man diese in trockenen Sommern bewässern. Die Landwirte | |
sähen die Auswirkungen der Klimakrise auch auf den Almen. „Dort fallen | |
Bäche trocken“, sagt Scheiber. „Dann müssen unsere Tiere weite Wege zur | |
nächsten Tränke gehen.“ Die wenigsten Menschen im Tal seien komplett gegen | |
die Nutzung von Wasserkraft. Aber dann sollten es bitte Laufkraftwerke in | |
Gemeindehand sein. | |
So bliebe das Wasser vor Ort und in Notzeiten verfügbar. „Geben wir es | |
jetzt an die Tiwag, sind die Wasserrechte für 90 Jahre verloren“, sagt | |
Scheiber. Das könne man gegenüber nachkommenden Generationen nicht | |
verantworten. „Kann ich Geld trinken?“, so der Landwirt. | |
Jürgen Neubarth kommt nicht aus der Riege der Naturschützer. Er sieht die | |
Dinge aus energiewirtschaftlicher Sicht. Der Ingenieur berät | |
österreichische und deutsche Unternehmen, Gemeinden, Behörden sowie NGOs zu | |
Energiethemen. Für den WWF Österreich hat er das Ausbauprojekt Kaunertal | |
analysiert. | |
Er bezweifelt die Notwendigkeit, das Platzertal in einen Stausee zu | |
verwandeln. „Es fehlt das übergeordnete öffentliche Interesse, wie es durch | |
die europäischen Ausbauziele für den Ausbau der Erneuerbaren gilt“, so | |
Neubarth. Tatsächlich würde der neue Platzer-Speicher und das Kraftwerk | |
darunter gar keinen Strom aus den Erneuerbaren erzeugen, sondern beides | |
würde nur dazu dienen, das Wasser zu speichern. „Und das mit Verlusten, | |
weil das Wasser erst gegen die Schwerkraft nach oben gepumpt werden muss.“ | |
## Geld statt Wasser | |
Den Zeitdruck, mit dem die Tiwag das Projekt durchbringen will, sieht er | |
kritisch. „Es gibt weder in Tirol noch in Österreich eine übergeordnete | |
Speicherstrategie, die benennt, wie viel Speicherkapazitäten wir parallel | |
zum Ausbau von Wind und Sonne überhaupt brauchen.“ Der bisherige Ausbaugrad | |
von Photovoltaik liegt in Tirol derzeit bei 2,3 Prozent, Windkraft bei null | |
Prozent. | |
Außerdem sei die Energiewende kein Tiroler, sondern vielmehr ein | |
europäisches Projekt. „Ein Speicher, der das europäische Verbundnetz | |
stabilisieren soll, kann also auch woanders stehen als im Platzertal – der | |
kann auch in Thüringen stehen.“ | |
Überdies gäbe es gelungene Beispiele dafür, ältere Pumpspeicherkraftwerke | |
ohne große Naturzerstörung effizienter zu machen, wie etwa das Vorarlberger | |
Kraftwerk Kops 2. Bei dem ist es durch die Optimierung der bestehenden | |
Infrastruktur gelungen, 525 Megawatt Stromleistung zusätzlich zu | |
generieren. Repowering nennt sich das. Ohnehin gelte, so Neubarth, eine | |
alte energiewirtschaftliche Weisheit: „Die günstigste und effizienteste | |
Flexibilitätsmöglichkeit ist der Stromnetzausbau.“ | |
Warum drängt die Tiwag dann so auf diesen Speicher? Auf die Frage lacht | |
Neubarth: „Die wollen halt Geld verdienen, und das kann man mit dem | |
Projekt.“ Was ein Pumpspeicherwerk wirtschaftlich interessant mache, sei, | |
das Wasser mehrmals am Tag zwischen Unter- oder Oberbecken hin- und | |
herzuschicken. „Wenn mittags dank Sonneneinstrahlung viel günstiger | |
PV-Strom an der Strombörse zu haben ist, wird das Wasser nach oben in die | |
Reserve gepumpt. | |
## Anwalt der Natur | |
Und es wird etwa dann heruntergelassen, wenn die Sonne nicht mehr scheint, | |
in den Haushalten der Bedarf steigt und die Preise hochgehen. Das geht rauf | |
und runter die ganze Zeit, 2.000 Stunden im Jahr. Billig Strom kaufen, | |
teuer verkaufen – das ist die Idee.“ | |
Noch einmal nach Innsbruck, Meraner Straße. Nur wenige Gehminuten vom | |
Hauptsitz der Tiwag entfernt hat die Tiroler Umweltanwaltschaft ihre Büros. | |
Diese vom Staat bezahlte Institution gibt es in Österreich in jedem | |
Bundesland. Der Biologe Johannes Kostenzer leitet die Tiroler Einrichtung. | |
In ihm hat die Natur einen starken Fürsprecher. „Ich bin dazu vereidigt, in | |
Behördenverfahren die Interessen der Natur zu vertreten“, erklärt er. | |
Wie ein Naturschutzverband hat er Parteistellung, wenn größere Bauten oder | |
Infrastrukturmaßnahmen geplant sind. Kostenzer hat das Recht auf | |
Akteneinsicht, er kann Pläne einsehen und darf bei Verhandlungen | |
Stellungnahmen abgeben. Dazu hat er Weisungsfreiheit. „Mir kann kein | |
Politiker reinreden“, sagt er. Kostenzer spricht ruhig und überlegt. Er hat | |
viel Erfahrung mit Konflikten dieser Art. Rund 1.250 Fälle im Jahr landen | |
bei ihm und seinen Mitarbeitern. | |
Noch mehr erneuerbare Energie aus Tiroler Flüssen zu ziehen hält er für | |
eine Fehlentwicklung, weil diese Technologie wieder den ökologischen | |
Lebensraum Gewässer belaste. Tatsächlich befinden sich 43 Prozent der | |
Tiroler Fließgewässerstrecken, gemessen an den Kriterien der | |
EU-Wasserrahmenrichtlinie, ökologisch in einem sehr schlechtem Zustand. | |
## Die Gletscherschmelze nicht einberechnet | |
Kostenzer spreizt fünf Finger. „Wir können die gesunden Flussabschnitte in | |
Tirol an nur einer Hand abzählen“, so der Umweltanwalt. „Aber gerade in | |
Zeiten der Klimakrise brauchen wir intakte Gewässer dringend.“ Das Gleiche | |
gelte für Moorflächen, die bei Starkregen natürliche Wasserrückhalte sind. | |
„Solche Räume aufs Spiel zu setzen geht völlig gegen die Intention des | |
[3][Nature Restoration Law] zur Wiederherstellung der Natur, für das gerade | |
erst das EU-Parlament abgestimmt hat.“ | |
Der Umweltanwalt spricht noch einen Fakt an. „Die hydrologische Planung der | |
Tiwag ist viele Jahre alt, sie ist gar nicht angepasst an die | |
Gletscherschmelze in ihrer Gewaltigkeit.“ Tatsächlich schmelzen die | |
Ötztaler Ferner rasant. „In den nächsten 20 bis 30 Jahren wird ein | |
wesentlicher Anteil von dem Wasser, das die Tiwag neu einziehen will, nicht | |
mehr da sein“, so Kostenzer. „Gerade weil wir nicht wissen, welche | |
Auswirkungen das Schmelzen der Gletscher auf Grundwasser und Quellen haben | |
wird, muss die Politik bei der Entscheidung zu diesem Projekt dem | |
Vorsorgeprinzip eine entscheidende Rolle geben.“ | |
In der Vergangenheit haben Umweltverbände oft gegen die Ingenieursträume | |
der Tiwag protestiert und den Kampf verloren. Doch jetzt formiert sich | |
breiterer Widerstand. Eine tälerübergreifende Allianz ist entstanden, | |
Umweltschutzorganisationen, Bürgerinitiativen, Wissenschaft gehen in den | |
Schulterschluss mit Vertretern von Landwirtschaft und Tourismus. | |
Und dann ist da noch WET, gegründet von Kajakfahrerinnen, die sich nicht | |
allein aus Eigeninteresse, sondern auch aus ökologischen Beweggründen für | |
Fließgewässer einsetzen. Denn Querbauten und Ableitungen blockieren nicht | |
nur Paddelstrecken. Sie bringen das System Fluss durcheinander, im Wasser | |
und an seinen Ufern – und so auch seine für den Menschen unverzichtbaren | |
Leistungen. In der [4][Filmdokumentation „Der letzte Tropfen“] haben die | |
WET-Aktivistinnen die Stimmen und Argumente gegen den Ausbau des | |
Kaunertalkraftwerkes zusammengetragen. | |
## Natur als Warenlager? | |
Anfang des Jahres hat die Tiwag ihre Ausbaupläne zur vorgeschriebenen | |
Umweltverträglichkeitsprüfung eingereicht. Im Juli schrieb die [5][Tiroler | |
Tageszeitung], dass die Behörden dem Unternehmen einen Verbesserungsauftrag | |
in 18 von 36 überprüften Fachbereichen erteilt haben – vor allem, weil in | |
den Unterlagen die Folgen der Klimakrise unzureichend berücksichtigt | |
wurden. Bis März 2024 müssen die Unterlagen überarbeitet werden. | |
Frühestens 2025 wird es zu einem ersten Behördenentscheid kommen. Dann wird | |
sich zeigen, ob die Tiroler Landesregierung eine Energiepolitik fortführt, | |
die Natur als Warenlager versteht, Hochtäler in riesige Wannen verwandelt | |
und Flüsse auf Knopfdruck an- und ausschaltet. Oder ob sie der Strategie | |
des österreichischen Bundesministeriums für Klimaschutz folgt, die | |
ausdrücklich den Ausbau von Sonnenkraft und Windenergie forcieren will. | |
Laut einer [6][Studie der Tiroler Landesregierung] beträgt das ausbaufähige | |
Photovoltaikpotenzial allein auf Dachflächen 4,6 Terawattstunden. Deutlich | |
mehr, als der Ausbau des Kraftwerks Kaunertal mit dem Einzug der Ötztaler | |
Ache und der Flutung des Platzertals bringen würden. | |
6 Sep 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Basis-fuer-besseres-Klimaziel/!5894540 | |
[2] https://www.lebenswertes-kaunertal.org/ | |
[3] https://environment.ec.europa.eu/topics/nature-and-biodiversity/nature-rest… | |
[4] https://www.youtube.com/watch?v=4p8aUPZcXOk | |
[5] https://www.tt.com/artikel/30845959/tiwag-am-zug-entscheidende-tage-fuer-da… | |
[6] https://www.tirol.gv.at/fileadmin/themen/umwelt/wasser_wasserrecht/PV-FREIF… | |
## AUTOREN | |
Margarete Moulin | |
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