# taz.de -- Vorratsdatenspeicherung: Generalverdacht im Netz | |
> Der EuGH verhandelt über die Verfolgung von Urheberrechtsdelikten | |
> mithilfe von zwangsgespeicherten IP-Adressen. Ein Dammbruch droht. | |
Bild: In Frankreich gibt es schon seit 2010 eine Art Urheberrechtspolizei namen… | |
Die Vorratsdatenspeicherung könnte bald auch zur Bekämpfung von | |
Urheberrechtsverletzungen zugelassen werden. Darüber jedenfalls verhandelt | |
ab diesem Montag der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg. Das | |
Verfahren wird erstaunlicherweise in Deutschland noch kaum zur Kenntnis | |
genommen. Das sollte sich dringend ändern. Es geht um eines der wichtigsten | |
Verfahren zu den digitalen Bürgerrechten. | |
[1][Nicht das Bundesverfassungsgericht,] sondern der EuGH ist das Bollwerk | |
gegen die Einführung der Vorratsdatenspeicherung in der EU. In den Jahren | |
2014 und 2016 erklärte er eine anlasslose Speicherung der Internet- und | |
Telekom-Verkehrsdaten der gesamten Bevölkerung für unverhältnismäßig. | |
[2][Unter dem Druck der EU-Staaten weichte er das generelle Verbot 2020 | |
allerdings auf] und ließ die anlasslose Speicherung von IP-Adressen zur | |
Bekämpfung schwerer Kriminalität zu. Entscheidendes Beispiel für eine | |
solche schwere Kriminalität war für den EuGH die Verbreitung von | |
Kinderpornografie im Internet, die ohne allgemein gespeicherte IP-Adressen | |
kaum aufgeklärt werden könne. | |
Die Befürworter der Vorratsdatenspeicherung gaben sich damit aber nicht | |
zufrieden. Sie wollen die Daten zur Verfolgung jeder Internet-Kriminalität | |
verwenden. Im konkreten EuGH-Fall geht es um Urheberrechtsverletzung. Wenn | |
der EuGH dem Drängen hier nachgibt, wird es bald aber auch um Beleidigung | |
und Verleumdung im Internet gehen. | |
## Beim dritten Mal gibt es eine Geldbuße | |
Der konkrete Fall kommt aus Frankreich. Dort wurde 2010 eine Art | |
Urheberrechtspolizei namens Hadopi eingerichtet, die in | |
Internet-Tauschbörsen nach illegalen Downloads von Musik und Filmen | |
fahndet. Anhand der IP-Adressen identifiziert sie die illegalen Filesharer | |
und greift dabei auch auf die Daten der französischen | |
Vorratsdatenspeicherung zu. Wer zum ersten Mal erwischt wird, erhält eine | |
Warnung per E-Mail. Beim zweiten Mal kommt die Warnung per Einschreiben, | |
nach dem dritten Mal gibt es eine Geldbuße. Die Möglichkeit zur | |
Internetsperre wurde 2013 abgeschafft. | |
Bis 2019 verschickte die Hadopi-Behörde 12,7 Millionen Warnschreiben, | |
forderte aber nur insgesamt 87.000 Euro Bußgeld ein. Da die Behörde bis | |
dahin 82 Millionen Euro Kosten verursachte, ging sie 2022 in der neuen | |
Regulierungsbehörde Arcom auf. Der neue Name änderte aber nichts an der | |
Rechtslage. | |
Im Jahr 2019 klagten vier französische Verbände, darunter die | |
Cyber-Bürgerrechtler von La Quadrature du Net, gegen die Nutzung von | |
IP-Adressen durch Hadopi. Die Auswertung der IP-Adressen zur Bekämpfung von | |
Urheberrechtsverletzungen sei unverhältnismäßig und verstoße gegen die | |
EuGH-Rechtsprechung. Der französische Conseil d’Etat, eine Art oberstes | |
Verwaltungsgericht, hielt die Hadopi-Praxis dagegen für zulässig und legte | |
den Fall dem EuGH vor. Bei einer ersten mündlichen Verhandlung im Juli 2022 | |
sprachen sich alle beteiligten Regierungen (unter anderem aus Frankreich, | |
Schweden und Dänemark) für die Zulässigkeit der Hadopi-Praxis aus. | |
Der unabhängige Generalanwalt Maciej Szpunar, dessen Gutachten das | |
EuGH-Urteil vorbereiten soll, stellte im Oktober 2022 zwar fest, dass die | |
Nutzung von IP-Adressen zur Verfolgung von Filesharern den EuGH-Urteilen | |
widerspricht. Szpunar forderte den EuGH aber ausdrücklich auf, seine hohen | |
Hürden weiter abzusenken. | |
Künftig sollten die anlasslos gespeicherten Internet-Verkehrsdaten für die | |
Verfolgung aller Straftaten genutzt werden können, bei denen die | |
aufgefundene IP-Adresse der „einzige Anhaltspunkt“ für Ermittungen | |
darstellt. Es dürfe keine „systemische Straflosigkeit“ für Straftaten im | |
Internet geben. Die Anordnung durch ein Gericht oder eine unabhängige | |
Behörde hielt Szpunar für unpraktikabel – bei rund einer Million Fälle pro | |
Jahr. | |
## Anlasslose Speicherung der IP-Adressen | |
Der EuGH zeigte sich durch Szpunars Schlussanträge so beeindruckt, dass er | |
die mündliche Verhandlung neu eröffnete. Sie wird an diesem Montag und | |
Dienstag stattfinden. Die Sache gilt als so grundsätzlich, dass sogar das | |
Plenum aller 27 EuGH-Richter verhandelt. Das Urteil wird dann erst in | |
einigen Monaten verkündet. | |
Sollte der EuGH auf Szpunars Linie einschwenken, hätte das für Deutschland | |
zwar keine direkten Folgen, würde aber auch in Deutschland die | |
Begehrlichkeiten steigern. [3][Seit Monaten schon versucht Innenministerin | |
Nancy Faeser (SPD)], eine anlasslose Speicherung der IP-Adressen zur | |
Verfolgung von Kinderpornografie durchzusetzen. Justizminister Marco | |
Buschmann (FDP) blockiert das Vorhaben nach wie vor unter Berufung auf den | |
Koalitionsvertrag der Ampelregierung. In der nächsten großen Koalition | |
würde es dann aber sicher einen neuen Anlauf für eine allgemeine | |
Vorratsdatenspeicherung geben. | |
Hoffen wir deshalb, dass der EuGH eine weitere Aufweichung seiner | |
Rechtsprechung verweigert. Ohne harte Linie aus Luxemburg werden bald alle | |
unsere Lebensregungen zwangsweise und auf Vorrat festgehalten, weil es ja | |
irgendwann für die Bekämpfung irgendwelcher Delikte nützlich sein könnte. | |
15 May 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Karlsruhe-zu-Vorratsdatenspeicherung/!5921538 | |
[2] /Nach-dem-EuGH-Urteil/!5882948 | |
[3] /Plan-der-Innenministerkonferenz/!5895416 | |
## AUTOREN | |
Christian Rath | |
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