| # taz.de -- Virtual-Reality-Projekt „Umwelten“: Polymorphe Wesen tönen mic… | |
| > Das Konzerthaus Berlin verleiht VR-Brillen für das | |
| > Virtual-Reality-Projekt „Umwelten“. Visuell ist das Erlebnis dabei | |
| > eindrucksvoller als die Klänge. | |
| Bild: Die Tänzerin Takako Suzuki bei der Premiere | |
| Die VR-Brille kommt per Kurier ins Haus; wie symptomatisch für eine Zeit, | |
| da mensch (noch) nicht in die Konzertsäle darf. Das Konzerthaus Berlin hat | |
| die Auszeit genutzt, um ein außergewöhnliches Projekt zu realisieren: Eine | |
| virtuelle Soundlandschaft für die Oculus Quest ist entstanden, für die der | |
| Komponist [1][Mark Barden] Hunderte von Klängen entwickelt und der Musiker | |
| und 3-D-Designer Julián Bonequi eine interaktive virtuelle Umgebung kreiert | |
| hat. | |
| Nun gehört eine Oculus Quest nicht zu den Dingen, die durchschnittliche | |
| KonzerthausbesucherInnen zu Hause haben, auch für Digital Natives ist eine | |
| VR-Brille noch ein teures Extra. Meine eigene Erfahrung ist gleich null; | |
| umso gespannter bin ich beim Auspacken. | |
| Das Online-Tutorial sehe ich zweimal an, bewältige dann erfreulich mühelos | |
| die Einrichtung meines virtuellen Spielfelds und bin angenehm überrascht, | |
| mich plötzlich in einem wohnlichen Panorama-Saal mit fantastischen | |
| Ausblicken auf eine alpenähnliche Berglandschaft wiederzufinden. Doch diese | |
| Idylle ist nur das Eingangsfenster in einen weitaus befremdlicheren Kosmos. | |
| Ich wähle die Lernwelt, in der ich üben soll, mich zu bewegen, und werde | |
| unversehens in outer space katapultiert. Obwohl ich weiß, dass ich mit | |
| beiden Beinen fest auf dem Wohnzimmerteppich stehe, ist meine spontane | |
| Reaktion Angst, gegen die ich mich nicht wehren kann, weil sie irgendwo aus | |
| dem Rückenmark kommt. Denn die dünne Plattform, auf der ich mich befinde, | |
| schwebt in der Luft und ist umgeben von gigantischen polymorphen | |
| Wesenheiten, die mich turmhoch umschweben und zu pulsieren scheinen. | |
| ## Mit Laserstrahlen zielen | |
| Nach dem ersten Schock gelingt es mir, meinen Laserstrahl zu bedienen. Ich | |
| kann mich mit seiner Hilfe im Raum bewegen und soll, sagt der Infotext, | |
| damit auf die riesenhaften Wesen zielen, die mich umgeben. Das scheint mir | |
| ein sehr unfreundlicher Akt zu sein, aber ich tue es. | |
| Die lila Riesenamöbe vor mir färbt sich blau, verstärkt ihr bedrohlich | |
| multiples Dröhnen (viel später werde ich verstehen, dass es sich dabei um | |
| Klänge handelt, die liebevoll und sehr differenziert vom | |
| Konzerthausorchester eingespielt worden sind) und scheint sich auf mich zu | |
| zu bewegen. Trotzig wiederhole ich die Attacke, fühle mich aber unbehaglich | |
| und inzwischen auch etwas unsicher auf den Beinen. | |
| Glücklicherweise gibt es einen „stationären Modus“, in den ich wechsle, | |
| nachdem ich mich erinnert habe, welcher Button zurück ins Menü führt. | |
| Erleichtert lasse ich mich auf einem Stuhl nieder, bevor ich die Reise in | |
| die eigentliche „Umwelten“-Landschaft antrete. | |
| Hier gefällt es mir besser, denn die Wesen, die sie bewohnen, sind nicht | |
| ganz so überwältigend riesig, und es gibt mehr Boden unter den Füßen. Ich | |
| bin auf einer kleinen Insel gelandet, wo ich mich von einem Ring zarter, in | |
| der Luft hängender Objekte umgeben finde, die Rankpflanzen sein könnten, | |
| vielleicht auch seltsames Meeresgetier. | |
| ## Jedes Wesen ist von einer eigenen Klangwolke umgeben | |
| Per Laserstrahl kann ich mich auf andere Inseln beamen. Jede ist von einem | |
| anderen polymorphen Wesen bewohnt, jede Wesenheit ist umgeben von einer | |
| eigenen Klangwolke. Manche sind physisch geradezu unangenehm, enthalten | |
| Anteile von kreischenden, quietschenden, latent aggressiven Sounds, andere | |
| verbreiten eine eher kontemplative Stimmung. | |
| Wenn mir etwas zu viel wird, entspanne ich auf einer Insel, auf der eine | |
| Reihe von niedrigen, friedlich vor sich hin tönenden Sukkulenten (oder so) | |
| zu wachsen scheint. Insgesamt finde ich die interaktiven Features | |
| überschaubar: Es gibt ein paar kleine Objekte – einmal Knospen, das andere | |
| Mal schwebende Kugeln –, die bewegt werden können. | |
| Mir gelingt es aber nicht, die Objekte in eine neue Anordnung zu bringen, | |
| und das An- und Abschwellen der dazugehörigen Klangwelt sowie die | |
| Stereo-Effekte, die durch die Bewegung entstehen, sind gut gemacht, wirken | |
| aber nicht wirklich spektakulär. (Und dabei erfordert so etwas | |
| wahrscheinlich eine immense Rechenleistung.) | |
| ## Angelehnt an Zeichnungen von Ernst Haeckel | |
| Erst später, nach der Experience, finde ich [2][auf der Website des | |
| Konzerthauses ein Making of], in dem ein Buch unauffällig in die Kamera | |
| gehalten wird: Es enthält Zeichnungen des 1919 verstorbenen Zoologen Ernst | |
| Haeckel, der unter anderem mit dem Buch „Kunstformen der Natur“ berühmt | |
| wurde. Jetzt verstehe ich, woher die Meerestier-Anmutung der tönenden | |
| Wesenheiten kam. | |
| Außerdem ist im Video schön zu sehen, wie Komponist und Orchester mit | |
| allerlei originellem Gerät hantieren und an Klängen frickeln: Alles, was in | |
| „Umwelten“ erklingt, ist analog von Hand und Mund gemacht. | |
| Es ist ein geradezu irrwitziger Aufwand für ein Klangerlebnis, das sich | |
| während meiner persönlichen Experience aber in der Wahrnehmungshierarchie | |
| der Sinne klar hatte unterordnen müssen. Der visuelle Überwältigungseffekt | |
| war nun einmal viel stärker. | |
| 1 Jun 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Konzertempfehlung-fuer-Berlin/!5510471 | |
| [2] https://www.konzerthaus.de/de/umwelten | |
| ## AUTOREN | |
| Katharina Granzin | |
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