# taz.de -- Viktor Schklowskis „Zoo“ neu übersetzt: Kühe auf der literari… | |
> Eine Neuübersetzung von Viktor Schklowskis „Zoo“ lädt zum Nachdenken | |
> darüber ein, wie vor 100 Jahren die Autofiktion erfunden wurde. | |
Bild: Russen beim 5-Uhr-Tee in der Ressource in Berlin Schöneberg,1924 | |
Zu Beginn der 1920er Jahre war der ehemalige St. Petersburger | |
Mathematiklehrer und Student der Klassischen Philologie Viktor Schklowski | |
[1][noch nicht der maßgebliche Literatur- und Kunsttheoretiker], dessen | |
Bücher wir heute als Grundlagenwerke des „Russischen Formalismus“ | |
studieren. Dafür aber, kaum 30-jährig, bereits ein Veteran der | |
revolutionären Umbrüche in seinem Land. | |
Schklowski hatte als Soldat für den Zaren (später für die provisorische | |
Regierung) im Ersten Weltkrieg gekämpft – und schließlich für die | |
Bolschewiki im Bürgerkrieg. Er war Mitglied der „Sozialrevolutionären | |
Partei“ geworden, deren linke Abspaltung mit den Bolschewiki die erste | |
Revolutionsregierung gestellt hatte. | |
Im Jahr 1922 wurde es in St. Petersburg ungemütlich für politische | |
Konkurrenten der Kommunisten. Schklowski, der befürchten musste, ins | |
Fadenkreuz der GPU zu geraten, nahm deshalb – wie viele russische | |
Intellektuelle damals – kurzerhand den Zug nach Berlin und quartierte sich | |
in einem möblierten Zimmer in Schöneberg ein. | |
Während dieses Aufenthalts entstand ein sehr seltsames und bemerkenswertes | |
Buch: „Zoo. Briefe nicht über Liebe, oder die neue Heloise“. Zugleich legte | |
sich Schklowski in seiner Berliner Exil-Zeit aber auch die gedanklichen | |
Grundlagen einer Aufsatzsammlung zurecht, die bei ihrem Erscheinen im Jahr | |
1928 unter dem Titel „Theorie der Prosa“ das Nachdenken über Kunst bis | |
heute revolutionieren sollte. Den Roman und die prosatheoretischen Aufsätze | |
parallel zu lesen, lädt jetzt eine neu übersetzte und schön gestaltete | |
Ausgabe von „Zoo“ im Guggolz Verlag ein. | |
Schklowskis „Theorie der Prosa“ begründet den Kunstcharakter von Texten und | |
Gegenständen mit Hilfe einer Art Reiz-Reaktions-Schema. Kunst ist ihm | |
zufolge eine Befreiung der Dinge vom Automatismus ihrer gewohnheitsmäßigen | |
Wahrnehmung. „Um für uns die Wahrnehmung des Lebens wiederherzustellen, die | |
Dinge fühlbar, den Stein steinig zu machen, gibt es das, was wir Kunst | |
nennen.“ | |
Zwei Verfahrenswege führen zum Satori der Kunst: ungewöhnliche Darstellung | |
des Bekannten (auf Russisch „ostranenie“, eine Art Verfremdung, | |
Verschrobenheit und oddness der Beschreibung) und „die Komplizierung der | |
Form, um die Wahrnehmung zu erschweren und ihre Dauer zu verlängern“. Der | |
Reiz der Kunst liegt in ihrer Seltsamkeit. Sie ruft die Reaktion | |
ästhetischen Empfindens hervor. | |
Diese einfache, aber folgenreiche Idee entwickelte Schklowski über der | |
Arbeit an seinem formal hoch idiosynkratischen, erzähltechnisch wie durch | |
literaturhistorische Anspielungen vielfach komplizierten und durch | |
zahlreiche Umwege und Abschweifungen kunstvoll-komisch verlängerten | |
Erzählwerk. Der Narrationstheoretiker als Erzähler: „Wie eine Kuh eine | |
Weide abgrast, so werden auch literarische Themen abgegrast, Verfahren | |
verschlissen und abgenutzt“, heißt es in „Zoo“. | |
Das literarisch Neue kommt Schklowski zufolge überhaupt nur deshalb in die | |
Welt, weil alt gewordene Formen ihre Seltsamkeit verlieren und deshalb nur | |
noch automatisierte Reaktionen hervorzurufen imstande sind. „So geht das | |
Leben dahin, wird zum Nichts. Die Automatisation verschlingt alles, die | |
Dinge, die Kleider, die Frau und die Angst vor dem Krieg.“ | |
## Der erotische Briefroman | |
Schklowski macht im Roman die schriftstellerische Probe auf seine Theorien: | |
Er revolutioniert mit „Zoo“ bewusst ein Genre, dessen Reizpotentiale längst | |
verschlissen sind. Es ist der erotische Briefroman, der nach dem | |
hochmittelalterlichen Vorbild eines berühmten Briefwechsels zwischen dem | |
Scholastiker Peter Abelard und seiner Geliebten Heloise im 18. Jahrhundert | |
zu einem konventionell akzeptierten „Kraftwerk der Gefühle“ geworden war. | |
Richardsons „Pamela“, Goethes „Werther“ und Rousseaus „Julie ou la No… | |
Héloïse“ waren die Literatursensationen und Weltbestseller ihrer Zeit. | |
Schklowski modernisiert und verseltsamt dieses veraltete Modell | |
empfindsamer Authentizität und bürgerlicher Emotionskultur. Die | |
ostranenie-oddness, Komik und Modernität seiner Lösung besteht unter | |
anderem darin, dass sich die Briefe seiner „dritten Heloise“ an eine Frau | |
richten, die sich nicht nur aus Sittsamkeit spröde zeigt wie Richardsons | |
fiktive Pamela oder überhaupt so gut wie gar nichts sagt wie Goethes | |
halbfiktionale Lotte. | |
Schklowskis Erzähler schreibt an eine zugleich reale und erfundene Frau, | |
der diese Korrespondenz nicht nur unwillkommen, sondern lästig gewesen ist, | |
und die das auch unmissverständlich und mit neusachlicher Schnodderigkeit | |
zum Ausdruck bringt. Das real existierende Objekt seiner literarischen | |
Begierde hieß Elsa Triolet und war die Schwester von Majakowskis Geliebter | |
Lilja Brik, einer anderen Muse der progressiven russischen | |
Emigrantengemeinde. | |
Schklowskis parodistisch verkomplizierter Briefroman revolutioniert aber | |
nicht nur ein Genre, sondern er verwirklicht auch ein neues. In seiner | |
„Theorie der Prosa“ hat er die aus den Ruinen des Briefromans auferstehende | |
Gattung am Beispiel der essayistisch-autobiografischen Bücher Wassili | |
Wassiljewitsch Rosanows als „Literatur ohne Sujet“ bezeichnet. „Zoo“ ge… | |
in eine apokryphe Reihe nicht- oder halbfiktionaler Bücher, die während der | |
1920er Jahre auch im Deutschen maßgebliche Exemplare aufweist – Benjamins | |
„Einbahnstraße“ zum Beispiel oder Ernst Blochs „Spuren“. | |
## „Bücher ohne Familiennamen“ | |
Zeitgenössische Weiterentwicklungen dieses Genres sind neuerdings | |
überraschenderweise wieder als Neuerscheinungen am Buchmarkt | |
hervorgetreten. Der verstorbene Michael Rutschky beschrieb sie als „Bücher | |
ohne Familiennamen“, der amerikanische Schriftsteller David Shields | |
bezeichnete solche Werke in seinem Manifest „Reality Hunger“ als personal | |
essays, der französische, in New York lehrende Erfinder der Nouvelle | |
Autobiographie, Serge Doubrovsky, sprach von „Autofiktion“. | |
In Schklowskis Berlin, im Paris Bretons und Aragons tauchten diese Bücher | |
vor hundert Jahren zuerst auf. „Für mich stellen diese Werke eine neue | |
Gattung dar, die man am ehesten mit einer Parodie auf den Roman vergleichen | |
könnte. […] Die Bücher Rosanows waren ein heroischer Versuch, der Literatur | |
den Rücken zu kehren, ‚sich ohne Worte, ohne Form zu äußern‘. Das Ergebn… | |
war ein ausgezeichnetes Werk, der Entwurf zu einer neuen Literatur, einer | |
neuen Form.“ | |
Der autofiktionale Zugriff von Schklowskis erotischer Briefromanparodie | |
erweist sich zunächst in der offen eingestandenen (und bei Licht betrachtet | |
eigentlich ein bisschen impertinenten) Fiktionalisierung seiner | |
Sehnsuchtsdame bei lebendigem Leib. „Ich habe mir eine Frau und eine Liebe | |
ausgedacht, um ein Buch über das Nichtverstehen zu schreiben“, heißt es im | |
letzten Brief – der sich übrigens nicht mehr an Elsa Triolet richtet, | |
sondern an die sowjetischen Behörden. Denn der Erzähler hat genug von der | |
„Berliner Tristesse“ und will zurück nach Russland. | |
## Der „personal essayism“ | |
Aber nicht nur die Hauptgestalt des Romans, sondern auch die sie | |
kulissenhaft umgebenden Gegenstände, Personen und Stadtgegenden sind in | |
„autofiktionales“ Zwielicht geraten. Der personal essayism des | |
Schriftstellers Schklowski bearbeitet das „neue Material“, das dem | |
Theoretiker Schklowski zufolge der Kunst jetzt zuströmen muss, damit sie | |
wieder Reaktionen auslösen kann. „Deshalb haben wir in unsere Arbeit das | |
Private, das beim Vor- und Vatersnamen Genannte aufgenommen.“ | |
Die Beschreibung der alltäglichen Befindlichkeiten des Erzählers, | |
ausführlich-sachkundige Beschreibungen von Rennautos, Vignetten über | |
Berliner Konditoreien, Impressionen aus billigen Pensionen auf der Kaiser- | |
(heute Bundes-) Allee, Erwähnungen der „Prager Diele“ in Schöneberg, wo | |
Schklowski Maxim Gorki, Ilja Ehrenburg, Vladimir Nabokov, Boris Pasternak | |
und Marina Zwetajewa treffen konnte, Bemerkungen über Mode, ein Exkurs zur | |
Trivialität der Bilder Marc Chagalls, Beobachtungen in Nachtklubs und | |
Sachstandsmeldungen über das Wetter in Berlin lassen ein reizvolles und | |
überraschend zeitgenössisch wirkendes Panorama der frühen Berliner | |
Zwanzigerjahre entstehen. | |
Kunst- und vor allem literaturwissenschaftliche Exkurse machen | |
schätzungsweise ein Viertel des Texts aus. Die Struktur des Buchs ist an | |
derjenigen von Revuen und Zirkusvorführungen geschult. „Das Lebendigste in | |
der heutigen Kunst sind die Aufsatzsammlung und das Varietétheater, das auf | |
dem Interesse an einzelnen Momenten basiert, nicht auf deren Verbindung.“ | |
Der Literaturrevolutionär Viktor Schklowski ist nicht lang in Berlin | |
geblieben. Wie seine halb erfundene Geliebte Elsa Triolet, wie Wladimir | |
Nabokov und viele andere russische Kometen, die ein paar Jahre lang | |
Schöneberg und Charlottenburg erhellten, ist er bald weitergewandert und | |
hat hier nur halb verwischte Spuren hinterlassen. Er ging zurück in die | |
neugegründete Sowjetunion, überlebte den Stalinismus und begründete mit | |
Roman Jakobson, Juri Lotman, Juri Tynjanov und Boris Eichenbaum die | |
vielleicht einzige wirklich wissenschaftliche Methode der | |
Literaturbetrachtung. | |
Seinen literarischen Erstling „Zoo“, an dem er offenbar besonders hing, gab | |
er mit immer wieder neuen Vorworten und in den Zeitumständen angepassten | |
Versionen mehrmals neu heraus. Gestorben ist Schklowski erst 60 Jahre nach | |
dem Ende seiner autofiktionalen Berliner Amour fou, 1984. Dem Guggolz | |
Verlag ist wieder eine neue Entdeckung der zu Unrecht vergessenen | |
russischen Emigrationsliteratur zu danken, der Übersetzerin Olga Radetzkaja | |
die Neuübertragung in ein plausibles und ganz zeitgenössisches Deutsch. | |
17 May 2022 | |
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## AUTOREN | |
Stephan Wackwitz | |
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