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# taz.de -- Unruhen in Frankreich: „Hat mit Nahel nichts mehr zu tun“
> Nach vier Krawallnächten zeichnet sich Sonntagfrüh eine gewisse
> Beruhigung ab. Die Regierung ist mit der Gewalteskalation völlig
> überfordert.
Bild: In der Nacht zum Sonntag kam es in mehreren Städten Frankreichs erneut z…
Paris taz | Am Sonntagvormittag zog Innenminister Gérald Darmanin, wie
schon an den Vortagen, seine Bilanz einer vierten Krawallnacht in
Frankreich mit Plünderungen, Verwüstungen von Geschäften, Angriffen auf
öffentliche Gebäude und Fahrzeuge. Etwas mehr als 700, meist sehr junge,
Personen sind in der Nacht festgenommen worden, [1][in der Nacht auf den
Samstag waren es doppelt so viele gewesen].
Ist dies bereits das ein erstes Zeichen einer Beruhigung? Das hofft der
Innenminister, der mit 45.000 Angehörigen der Polizei und Gendarmerie und
selbst Eliteeinheiten praktisch alles eingesetzt hatte, was ihm – außer den
Streitkräften für einen Bürgerkrieg – für die innere Sicherheit zur
Verfügung steht.
Auch die als Abschreckung gedachte starke Präsenz der Ordnungskräfte mit
Panzerfahrzeugen konnte indes nicht verhindern, dass zahlreiche Städte und
Quartiere erneut in Angst und Schrecken versetzt wurden. Manchmal bereits
am hellen Tag griffen kleine Gruppen von Jugendlichen im Zentrum von
Marseille, Straßburg oder [2][Nizza], aber auch in mehreren Vororten der
Hauptstadt Paris Geschäfte oder ganze Einkaufszentren an. Besonders
interessiert waren die Plünderer an Mode- und Sportartikeln, Handys,
alkoholischen Getränken oder Zigaretten. Ein Teil davon wurde wenig später
auf der Straße zum Verkauf angeboten.
Das Chaos der ersten Krawallnächte hatte die Wirkung eines Dammbruchs. Die
jugendlichen Randalierer und Plünderer scheinen vor nichts mehr Angst oder
Respekt zu haben. Der Rest der Bevölkerung ist weitgehend schockiert. Denn
mit dem Tod des 17-jährigen Nahel, [3][der am Dienstag von einem Polizisten
in Nanterre erschossen worden war], hat diese zusehends blinde Gewalt
nichts mehr zu tun. Zu diesem konsternierten Schluss kommen die
Bürgermeister der Kommunen und Stadtviertel, in denen öffentliche Gebäude
und Einrichtungen wie Polizeiposten, Schulen, Konzertsäle oder Verwaltungen
verwüstet oder verbrannt wurden.
## Haus von Bürgermeister attackiert
Da ihnen die nationalen Ordnungskräfte nicht genügend Schutz bieten können,
stehen die kommunalen Politiker in der vordersten Linie. Ihre Versuche, mit
den Jugendlichen zu diskutieren oder ihre Eltern zu ihrer Verantwortung zu
ermahnen, sind weitgehend erfolglos geblieben. In mehreren Fällen wurden
sie selber Opfer von Angriffen wie im Süden von Paris der Bürgermeister von
L'Haÿ-les-Roses, Vincent Jeanbrun, dessen Haus in der Nacht auf den Sonntag
von Unbekannten mit einem als Rammbock verwendeten Fahrzeug attackiert
wurde.
Nur eine beschränkte Wirkung zur Prävention der Aggressionen und
Sachbeschädigungen hatte das in zahlreichen Kommunen verhängte Ausgehverbot
ab 21 Uhr. In der Pariser Region war um diese abendliche Zeit auch der
öffentliche Verkehr mit Bus und Tramway eingestellt worden. Das traf die
gesamte Bevölkerung der Außenquartiere der Banlieue, die sich damit erst
recht isoliert und oder gar bestraft vorkommen musste.
Im westlichen Vorort Nanterre, wo alles begonnen hatte, wurde am Samstag
das 17-jährige Opfer eines verhängnisvollen Schusses aus der Dienstwaffe
eines nun der „vorsätzlichen Tötung“ beschuldigten Polizisten nach einer
würdigen Zeremonie in der örtlichen Moschee Ibn Badis beigesetzt. Nanterre
scheint zur Ruhe zu kommen. Weil die Bus-Fahrer der
[4][RATP-Verkehrsbetriebe] keinen Nachtdienst haben, treffen sie sich. Zu
den Szenen von Plünderungen in Marseille am Fernsehen meinen sie, das habe
„mit Nahel gar nichts mehr zu tun“.
Zum Vergleich mit den Unruhen von 2005 nach dem Tod von zwei von der
Polizei verfolgten Jugendlichen in Clichy-sous-Bois meint der Busfahrer
Farid in der Zeitung Le Monde: „Es ist nicht dasselbe. Damals griff man
nicht Geschäfte und Busdepots an. Die Leute sind hier ja so schon arm
genug.“ Für die Wut der Jugendlichen hat er aber ein gewisses Verständnis:
„Mindestens 50 Prozent der Polizisten sind Rassisten, dieser Beruf zieht
Leute der extremen Rechten an, zudem sind sie immer weniger geschult.“
## Macrons Ratlosigkeit wird zum Problem
Was kann die Regierung, was kann der Staatspräsident Emmanuel Macron tun?
Auf das Chaos im Land, das die Nachrichtensender fast rund um die Uhr
zeigen, hat die Staatsführung außer Repressionsversuchen wenig sofortige
Antworten. Noch mehr Ordnungskräfte? Drakonische Strafen für die in
flagranti Festgenommenen oder Sanktionen für die Eltern von randalierenden
Minderjährigen? Ein noch stärkere Überwachung der Kommunikation auf den
Internetplattformen? Den Anonymen, die auf den Netzwerken zu Gewalt
aufrufen oder diese mit Videos bejubeln, will der Justizminister Eric
Dupond-Moretti an den Kragen: „Wir werden die Leute finden, die sich hinter
ihren Handys verstecken.“
Macron steht bislang so wenig wie möglich im Rampenlicht. Sein Image ist
angeschlagen, für ihn ist es eine Schmach vor der Weltöffentlichkeit,
[5][dass er seinen dreitägigen Staatsbesuch in Deutschland verschieben
musste]. Doch niemand in Frankreich würde es verstehen oder billigen, wenn
er sich ins Ausland absetzte, während sein Land im Chaos zu versinken
droht. Man hat in Frankreich nicht vergessen, wie schlecht es i[6][m Mai
68, auf dem Höhepunkt der Jugendrevolte], ankam, als General de Gaulle in
ein Exil nach Baden-Baden flüchtete. Von Macron wird jetzt eine Initiative
erwartet.
Die offensichtliche Ratlosigkeit des Präsidenten, der mehrere
Krisensitzungen abgehalten hat, wird zu einem politischen Problem für die
Staatsführung. Diese möchte offenbar, wie bisher immer in den sozialen
Konflikten, auf Zeit spielen, auch wenn die Kosten damit enorm steigen.
Das Verständnis dafür ist heute allerdings gering. Nicht bloß bei den
Geschäftsleuten, die in den Krawallnächten alles verloren haben, oder in
armen Vororte, deren spärliche Infrastrukturen verbrannt und verwüstet
wurden. Aber auch nicht seitens der Jugendlichen, die seit Jahren die
Polizei nicht als schützende Macht im Dienst der Allgemeinheit, sondern als
Bedrohung empfinden.
2 Jul 2023
## LINKS
[1] /Landesweite-Krawalle-in-Frankreich/!5941462
[2] /taz-Serie-Nachtzugkritik/!5875394
[3] /Polizist-toetet-Jugendlichen-in-Nanterre/!5932839
[4] /Millionen-demonstrieren-in-Frankreich/!5915096
[5] /Nach-vierter-Unruhenacht-in-Frankreich/!5944454
[6] /Pariser-Mai-Proteste-1968/!5501321
## AUTOREN
Rudolf Balmer
## TAGS
Unruhen in Frankreich nach Polizeigewalt
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