# taz.de -- Unabhängigkeitstag in der Ukraine: Nah sind die Toten | |
> Feiertag heißt in Kyjiw auch: Gedenktag. Gefallene Soldaten und | |
> geflüchtete Kinder stehen im Mittelpunkt der Feierlichkeiten am 24. | |
> August. | |
Bild: Unabhängigkeitstag 2024 auf dem Maidan in Kyjiw: Flaggen erinnern an die… | |
KYJIW taz | Es scheint ein Feiertag wie viele andere zu sein. Ausgelassen | |
ziehen Menschen über die Kyjiwer Prachtmeile Chrestschatik. Es ist Samstag | |
24. August, [1][der ukrainische Unabhängigkeitstag], und es ist heiß und | |
sonnig. Dass noch am Tag zuvor die Botschaften Deutschlands, Chinas und der | |
USA ihre Bürger vor besonderen Gefahren durch russische Angriffe gewarnt | |
haben, scheint hier heute niemanden zu interessieren. Die Leute wollen sich | |
diesen Tag nicht vermiesen lassen. | |
Viele tragen die Wyschiwanka, das bestickte Hemd, das als Nationaltracht | |
der Ukrainer gilt. Andere haben eine ukrainische Fahne über die Schulter | |
geschwungen. Die Stimmung ist meist feierlich und beschwingt. Nur an einem | |
Ort ist sie nachdenklich: tausende kleiner Fähnchen auf dem zentralen Platz | |
Maidan erinnern an die vielen Toten, die dieser Krieg gekostet hat. | |
Meistens sind sie blau-gelb – die ukrainischen Nationalfarben. Aber auch | |
australische, türkische, georgische, aserbaidschanische Fähnchen finden | |
sich hier. | |
Viele gehen schweigend zu den Fähnchen und halten inne. Eine Frau bleibt | |
sehr lange vor einem Fähnchen stehen – wohl im Gedenken an einen | |
Angehörigen. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend sind ständig weit über | |
hundert Menschen auf dem Platz mit dem Fähnchenmeer. | |
Doch nicht alle sind gekommen, um zu trauern. Sieben Frauen stehen auf den | |
Stufen des Maidan und halten Plakate vor ihren Körper. Sie alle haben | |
Ehemänner, die an der Front kämpfen. Und sie alle wollen nur eins: dass | |
ihre Männer endlich nach Hause kommen. „Wir wollen, dass Soldaten an der | |
Front eine klar zeitlich befristete Dienstzeit haben. Seit März 2022, ist | |
mein Mann an der Front und ich weiß nicht, wann er nach Hause kommen wird“, | |
sagt die Sprecherin der Gruppe, Halyna Ostrovska. | |
Auch an 14 weiteren Orten der Ukraine wird an diesem Tag mit [2][Mahnwachen | |
für eine Befristung von Fronteinsätzen] demonstriert. Nur wenige Schritte | |
von den Frauen entfernt protestiert eine einzelne Aktivistin gegen | |
Korruption – und wirft dabei ausgerechnet Präsident Wolodymyr Selenskyj | |
Korrumpierbarkeit vor. | |
## Russland greift weiter an | |
Während es am Unabhängigkeitstag in Kyjiw ruhig bleibt – nur einmal wird | |
für mehrere Minuten Luftalarm ausgerufen – schlägt die russische Armee im | |
Osten des Landes wieder einmal brutal zu. 306 Angriffe von Panzern, | |
Artillerie, Drohnen und Raketen hat das ukrainische Innenministerium in den | |
vergangenen Tagen in neun Ortschaften der Bezirke Pologow und Wassiljewski | |
im Osten des Landes gezählt. | |
Gut besucht ist am Nachmittag das Gelände des Expozentrums VDNG am | |
Stadtrand. Auf dem 287 Hektar großen Areal befinden sich zahlreiche | |
Ausstellungs- und Veranstaltungsstätten im Stil des sowjetischen Neobarock. | |
Es wurde in den 1950-Jahren errichtet, um die Errungenschaften des | |
sozialistischen Wiederaufbaus zu zeigen. Heute ist es eine Mischung aus | |
Ausstellungsgelände, Park und Rummel. Ein Klettergerüst und eine Eisdiele | |
ziehen besonders Familien an. Der Eintritt ist frei. | |
Auf dem Platz vor dem zentralen Ausstellungspavillon bleiben viele Besucher | |
erst einmal stehen. Aktivisten sind gerade dabei, auf dem Asphalt 325 | |
Abzüge von Fotos geflüchteter Kinder auszulegen. Jeweils 135 mal 90 | |
Zentimeter groß schauen einen die Kinderporträts der ukrainischen | |
Fotografen Marina Karpiy and Sasha Mazur in Schwarzweiß an. | |
Der Klebstoff will auf dem sonnenheißen Asphalt nicht richtig halten und | |
der Wind pustet die Abzüge immer wieder durcheinander. Mitorganisator Amiko | |
Paraskevashvili hat buchstäblich alle Hände voll zu tun, damit die Bilder | |
dort bleiben, wo sie sein sollen. | |
## Jeder kennt jemanden, der verletzt oder getötet wurde | |
[3][„Children of War“ heißt das Fotoprojekt], das aus Anlass des | |
Unabhängigkeitstags in Kyjiw gezeigt wird, erzählt Paraskevashvili. Es soll | |
auch bald in Warschau, Wien und Berlin zu sehen sein. „Wir haben die Kinder | |
in Georgien und Kyjiw fotografiert. Sie kommen aus Gebieten, die von | |
Russland besetzt sind. Sie alle haben ihre Heimat verloren und viele von | |
ihnen haben Schlimmes erlebt.“ Russlands Krieg und seine Opfer sollen nicht | |
vergessen werden. Das sei das Ziel des Projekts. | |
Auch Lesya bleibt auf dem Rückweg vom Spielplatz kurz stehen und wirft | |
einen Blick auf die Fotos. An der Hand hält sie ihren fünfjährigen Sohn. | |
Sie sei sehr froh, dass sie mit ihm nicht habe fliehen müssen, daran denke | |
sie heute. „Aber das hat seinen Preis“, sagt die 35-Jährige. Ihr Mann sei | |
in der Armee. „Jeder hier kennt jemanden, der verletzt oder getötet wurde.“ | |
Taxifahrer Igor schmunzelt, als er nach dem Feiertag gefragt wird. „Ich | |
muss trotzdem arbeiten.“ Wichtiger als den Unabhängigkeitstag zu feiern sei | |
ihm, die Unabhängigkeit zu behalten. Natürlich verfolge er die Nachrichten | |
über die Offensive der ukrainischen Armee in der russischen Region Kursk. | |
„Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.“ Russland habe Kyjiw in drei | |
Tagen einnehmen wollen, nun sei die ukrainische Armee schon drei Wochen in | |
Kursk und die Russen finden kein Mittel dagegen. „Das ist gut“, findet | |
Igor. „Aber im Donbas verlieren wir Dorf um Dorf.“ | |
Russland Offensive im Donbas läuft schon ein Dreivierteljahr auf breiter | |
Front. In den vergangenen Wochen hat sich das Tempo im Abschnitt des | |
strategisch wichtigen Verkehrsknotens Pokrowsk erhöht, an anderen | |
Abschnitten gibt es kaum Bewegung. | |
## Die Stimmung ist ambivalent | |
Die Stimmung in Kyjiw ist entsprechend ambivalent: besser als im Frühjahr, | |
als es ständig Blackouts gab und es der Armee an Munition mangelte, aber | |
auch lange nicht so zuversichtlich wie nach der erfolgreichen Offensive bei | |
Charkiw vor zwei Jahren. Anders als im Vorjahr werden auf der Prachtstraße | |
Khreschtschatyk zu diesem Unabhängigkeitstag auch keine zerstörten | |
russischen Panzer ausgestellt. | |
Der nächste Winter macht Igor bereits Sorgen. Seine Wohnung befindet sich | |
im oberen Stockwerk eines Hochhauses, erzählt er: „Wenn es keinen Strom | |
gibt, gibt es keine Heizung und der Aufzug funktioniert nicht.“ | |
Fürs erste sieht es gut aus. Der Netzbetreiber Ukrenergo hat vor dem | |
Unabhängigkeitstag mitgeteilt, dass es in den nächsten Tagen keine | |
Stromsperren geben werde. In einem Atomkraftwerk ist die Wartung eines | |
Reaktorblocks beendet worden. Damit stehen 1000 Megawatt mehr zur | |
Verfügung. | |
25 Aug 2024 | |
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## AUTOREN | |
Bernhard Clasen | |
Marco Zschieck | |
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