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# taz.de -- Tierzählung in Deutschland: Ohne Mäuse keine Wildkatzen
> Die Europäische Wildkatze ist die Leitart für naturnahe Landschaften. Sie
> ist geschützt. In Deutschland gibt es noch etwa 5.000 bis 7.000
> Exemplare.
Bild: Wildkatze mit Nachwuchs im Nationalpark Bayerischer Wald.
BERLIN taz | Auch eine Wildkatze heißt Margarete, wenn sie für die
Wissenschaft im Wald unterwegs ist. Oder Victoria und Gloria, wie Mathias
Herrmann die von ihm besenderten Wildkatzen für seine Untersuchung auf den
Hügeln am Moselsporn in Rheinland-Pfalz genannt hat. Zwischen Februar 2012
und Februar 2013 haben die Sender am Hals der drei Wildkatzen gefunkt und
Biologe Herrmann Daten über ihr Leben geliefert.
Zwischen Mitte und Ende März haben die drei Wildkatzen Junge geworfen.
Gloria tauchte nach drei Wochen wieder allein auf, hat also ihre Jungen
schon früh verloren. Junge Wildkätzchen sind ein gefundenes Fressen für
Fuchs und Wildschwein, denn sie liegen oft unter den Wurzeltellern
gefallener Bäume.
Margarete und Victoria bekommen ihre Jungen über die ersten Wochen und
ziehen mit ihnen bis Ende des Sommers mehrfach um. Margarete schleppt die
fünf aus einem Stapel alter Weinbergspfähle an einen von Herrmann
unentdeckten Ort im Wald, von dort in die Höhle eines aufgelassenen
Steinbruchs und dann wieder in den Wald. Victoria findet nach dem Hin und
Her für ihre drei Jungen schließlich einen baufälligen Hochsitz, auf dem
sie bleibt.
Hoch oben ziehen Wildkatzen gern die Jungen groß, denn dort sind sie sicher
vor den Raubtieren des Bodens. Doch Baumhöhlen für eine ganze
Wildkatzenfamilie sind rar und Felsvorsprünge an Steilwänden auch nicht
überall zu finden. Hochsitze und Holzstapel sind deswegen bei den
Wildkatzen beliebt, wenngleich die aufgeschichteten Baumstämme im Wald eine
tödliche Falle sein können. Wenn sie abtransportiert werden, werden die
Jungtiere zerquetscht.
Wo die jungen Wildkatzen am Ende des Sommers bleiben, weiß Herrmann auch
nach der monatelangen Beobachtung von Margarete und Victoria nicht.
Vielleicht leben sie in den Revieren ihrer Mütter, die sich ihren
Tagesruheplatz teilen und deren Reviere sich auch mit Glorias Revier
überlappen.
Einige Nachkommen wandern vermutlich weg und besiedeln ein neues Gebiet,
wenn sie heil über Schienen und Straßen kommen. Sollten die Wildkatzen
jedoch lockere Verbindungen zu ihren Verwandten in derselben Region halten,
dann wäre die hartnäckige Meinung widerlegt, dass Wildkatzen strenge
Einzelgänger sind.
## Große Wissenslücken
„Wir haben große Wissenslücken darüber, wie die Wildkatzen leben“, sagt
Mathias Herrmann, der in den vergangenen 15 Jahren 65 Wildkatzen einen
Sender umgehängt hat. Er weiß, was er und die Wissenschaft über Wildkatzen
alles nicht wissen. Herrmann betreibt das [1][Freilandforschungsinstitut
Oeko-Log] und untersucht zum Beispiel für Behörden und Unternehmen, ob
geschützte Wildtiere von Bauvorhaben gestört werden. Die Wildbiologen
wussten bis vor Kurzem nicht einmal, wo überall Wildkatzen leben, und so
kann auch niemand sagen, von wo die streng geschützten Tiere schon
vertrieben worden sind.
Harz und Thüringer Wald in Mitteldeutschland, Eifel, Taunus und Hunsrück im
Westen gelten als die klassischen Lebensräume der Wildkatzen. Also die
Mittelgebirge mit Mischwäldern aus Buchen, Eichen, Tannen und Kiefern, in
denen auch mal ein gestürzter Baum liegen bleibt und so das
abwechslungsreiche Habitat schafft, in dem die Gelbhalsmaus der Wildkatze
Gute Nacht sagt.
Sie braucht dichte Wälder für den Rückzug, benötigt aber auch lichte
Streuobstwiesen, feuchte Senken und Felder, in denen Schermäuse, Feldmäuse
und all die anderen Mäusearten leben, von denen sich die Wildkatze ernährt.
Sie ist Wühlmausspezialistin und verputzt 15 bis 20 Nager am Tag. Ohne
Mäuse gibt es keine Wildkatze, ohne Vielfalt in Wald und Wiese gibt es
keine Mäuse.
## Korridore für Wildkatzen
„Die Wildkatze ist die Leitart für kaum zerschnittene, naturnahe und
waldreiche Landschaften“, sagt Thomas Mölich, der das BUND-Wildkatzenbüro
am Rande des Nationalpark Hainich in Thüringen leitet. Er baut das
Rettungsnetz Wildkatze auf, das als [2][„Projekt Wildkatzensprung“] seit
2011 auch vom [3][Bundesamt für Naturschutz (BfN)] mit 3,8 Millionen Euro
unterstützt wird.
Mölich und seine KollegInnen in den zehn Bundesländern mit Wildkatzen
überzeugen Landwirte mal hier und mal dort ein Stückchen Acker zu
verkaufen. Sie bezirzen Gemeinden, dem Rettungsnetz Flurstücke zu
überlassen und bekommen auch mal Ausgleichflächen aus Bauprojekten wie zum
Beispiel von der Verlegung der A4. Aus vielen Flecken Erde setzen sie einen
Korridor zusammen, der die Lebensräume von Wildkatzen miteinander
verbindet. Durch die dann verbundenen Wälder können sich die Wildkatzen
ausbreiten.
## Im Schutz der Korridore
Zwischen dem Hainich über die Höselberge bis in den Thüringer Wald läuft
einer der Korridore, den Thomas Mölich mit Hunderten ehrenamtlichen Helfern
angepflanzt hat. Über die Flure aus Weißdorn, Hartriegel und Hainbuche
gelangen nicht nur Wildkatzen unbehelligt durch die Agrarindustriegebiete.
Auch Braunkehlchen, Neuntöter, Grasmücken und andere Singvögel nutzen den
Schutz der Korridore, denn sie fliegen nicht über Kilometer lange offene
Äcker, die sonst die Landschaft bilden.
Laubfrösche und Gelbbauchunken hüpfen in dem Wildkatzenkorridor von Pfütze
zu Pfütze, Schachbrettfalter fliegen von Blüte zu Blüte und gelangen zu
neuen Magerrasen. Der Verbund der Lebensräume hilft unterschiedlichen Arten
vom Insekt bis zum Säugetier und stärkt die biologische Vielfalt insgesamt.
Die Wildkatze dient den Naturschützern als Türöffner zum verbindenden
Korridor, der für Frosch, Falter und Vogel nicht angelegt werden würde.
Doch ohne Verbindungen zwischen den Lebensräumen und den genetischen Pools
der Tierarten hat ein Großteil der Arten keine Chance in der zerstückelten
Landschaft und der weitgehend industriell genutzten Natur. Die Wildkatze
eignet sich gut als Repräsentantin der Natur. Sie ist ein sympathisches
Raubtier, das Gäste in die Nationalparks lockt und die Natur ein bisschen
wilder und aufregender erscheinen lässt.
## Ganzjährig geschützt
Selbst die Jäger beginnen umzudenken. Viele schießen in den
Wildkatzenregionen keine Hauskatzen mehr, denn die Verwechslungsgefahr
zwischen den beiden Arten ist groß. Wildkatzen sind ganzjährig geschützt,
dürfen also sowieso nicht geschossen werden, was dennoch vorkommt.
Um jedoch jede Verwechslung mit einer wildernden Hauskatze in
braunoliv-schwarz gestreiftem Fell auszuschließen, zielen aufgeklärte
JägerInnen in den Gebieten mit Wildkatzen überhaupt nicht auf Katzen.
Und es gibt mehr Regionen mit Wildkatzen, als bislang vermutet, hat die
Inventur in den Mittelgebirgen ergeben. Dafür haben Mölich und die
ehrenamtlichen Wildkatzenfreunde vom BUND hunderte Holzlatten mit Baldrian
präpariert und in den Wäldern aufgestellt. Wildkatzen finden Baldrian
unwiderstehlich, ebenso wie die Hauskatzen, weshalb sie zu den Lockstöcken
ziehen, sich daran reiben und ein paar Haare verlieren.
## Haarproben für die Gendatenbank
3.000 Haarproben haben die Leute vom BUND eingesammelt und von den Experten
der Senckenberg Gesellschaft analysieren lassen. Sie konnten 519 Wildkatzen
an den Haaren identifizieren und die Hauskatzenhaare mithilfe von
genetischen Markern aussortieren. In den vergangenen vier Jahren haben sie
so eine Gendatenbank aufgebaut, die „einmalig ist“, wie Carsten Nowak,
Biologe der [4][Senckenberg Gesellschaft], sagt. Von keinem anderen
Wildtier existieren so viele genetische Proben und Analysen wie von der
Wildkatze.
Klar ist daher, dass sich Wildkatzen an den Rändern der Mittelgebirge
ausbreiten. Ihre Haare tauchten plötzlich dort auf, wo niemand von
Wildkatzen im Wald wusste. Im Norden Bayerns zum Beispiel sowie südlich von
Augsburg oder auf der Schwäbischen Alb in Baden-Württemberg. Zwei
Teilpopulationen haben die Wissenschaftler erkannt, eben eine im Südwesten
von Eifel, Hunsrück, Taunus und die mitteldeutsche in Harz, Thüringer Wald
und den angrenzenden Mittelgebirgszügen.
## Nur geringe Hybridisierung
„Die Teilpopulationen unterscheiden sich genetisch“, sagt Thomas Mölich. Es
gibt also keinen Austausch zwischen den beiden Wildkatzengruppen. Die
Genanalysen haben außerdem ergeben, dass „die Hybridisierung erstaunlich
gering ist“, sagt Carsten Nowak. Es laufen also nur wenige Wildkatzen mit
Hauskatzenblut herum. Beide Katzenarten können sich paaren, was auch
vorkommt und merkwürdigerweise in Schottland dazu geführt hat, dass es nur
noch hybride Wildkatzen gibt.
In Deutschland haben die Wildkatzen und Kuder, wie die wilden Kater heißen,
jedoch ausreichend Auswahl im Wald und müssen nicht auf Hauskatzen und
-kater ausweichen. 5.000 bis 7.000 Wildkatzen schleichen durch die Wälder
der Mittelgebirge, schätzen Mölich und seine KollegInnen. Die
mitteldeutsche Wildkatzenpopulation hat die Grenze von Thüringen und
Sachsen noch nicht überschritten. Spannend wird, wie weit sich die
Wildkatzen nach Norden und Osten verbreiten.
Carsten Nowak hat auch keine Erklärung dafür, warum Wildkatzen zwar die
kalten schneereichen Karpaten besiedeln, aber weder Polen noch Brandenburg
oder die norddeutsche Tiefebene. „Am Schnee und an der Temperatur kann es
nicht liegen“, sagt Nowak. Schließlich sind auch Thüringer Wald und Harz
kalt und verschneit. Aber auch Nowak ist ein erfahrener Wissenschaftler und
Naturkenner und sagt: „Warum die Natur so ist, wie sie ist, weiß man
nicht.“
20 Mar 2015
## LINKS
[1] http://www.oeko-log.com/
[2] http://www.bund.net/wildkatzensprung
[3] http://www.bfn.de/
[4] http://www.senckenberg.de/root/index.php?page_id=5229
## AUTOREN
Ulrike Fokken
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