# taz.de -- Raubtiere in Deutschland: Das Märchen vom bösen Wolf | |
> In Niedersachsen behauptet ein Jäger, er sei von einem Wolf angegriffen | |
> worden. Stimmt das, wäre er der erste erwachsene Mann seit Jahrhunderten. | |
Bild: Bei Gartow, Niedersachsen: Junge Wölfe spielen mit einem älteren | |
Über Wölfe redet er nicht mehr, sagt Gerd Metzner* und stoppt den roten | |
Rasenmäher, der mit einem letzten Knall verpuffender Energie ausgeht. „Das | |
ist zu gefährlich“, sagt er, grinst über sein volles Gesicht, steigt vom | |
Mäher und lehnt sich in die Ecke von Maschendrahtzaun und Garage, die den | |
gepflasterten Hof vom getrimmten Garten trennen. | |
Sein Nachbar Rolf K., da quer über den Rasen hinter der Kurve am Dorfrand | |
von Boitze, hat der Polizei in Lüneburg, dem Umweltministerium in Hannover | |
und den Jägern im Land erzählt, ein Wolf habe ihn in der Osternacht am Fuße | |
seines Hochsitzes zwischen Wald und Acker angegriffen. | |
„Da haben ihn welche angerufen“, sagt Metzner, streckt seinen Bauch in dem | |
ausgeleierten Jagdpullover in die Sonne und lümmelt rücklings im Zaun. | |
„Naturschützer“, ergänzt er. Die beschimpfen Jäger schon mal als | |
Wolfsmörder, das erwähnt er aber nicht. | |
Eine Glaubensfrage ätzt die Gespräche von vielen Naturfreunden und sehr | |
vielen Jägern, ob der Wolf nach Deutschland gehört oder nicht. Dabei ist er | |
längst angekommen. „In gestrecktem Galopp, das Maul leicht geöffnet“, sei | |
der Wolf auf ihn zugerast, hat Jäger K. zu Protokoll gegeben. Mit der | |
Pistole habe er auf den Boden vor seinen Füßen geschossen, das Tier sei | |
dann 2,20 Meter vor ihm abgedreht und ohne zu stoppen in den Wald hinter | |
ihm gerannt. | |
## Menschenjagen ist ineffizient | |
Das Niedersächsische Umweltministerium schickte einen Tag nach Ostern einen | |
Fährtenleser auf den Acker, der die Tierspuren im Sand analysierte. Die | |
Polizei untersuchte den Schuss und suchte das Projektil. Die zuständigen | |
Bürokraten im Hause des Grünen Umweltministers Stefan Wenzel sind seitdem | |
damit beschäftigt, „die Ergebnisse zusammenzutragen und zu bewerten“, wie | |
seine Sprecherin mitteilt. | |
Rolf K. redet seit Ostern öffentlich nur noch mit der Zeitschrift Jäger | |
über seine Geschichte. Wenn sie stimmt, dann wäre Rolf K. der erste | |
erwachsene Mann seit Jahrhunderten, der in Deutschland von einem Wolf | |
angegriffen wurde. Wenn die Geschichte erfunden ist, käme sie einem Rufmord | |
am Wolf gleich. | |
Wölfe setzen ihre Energie effizient ein und jagen deswegen üblicherweise | |
keine Menschen. Sie scheinen den Wölfen zu gefährlich zu sein. Es sei denn, | |
die Wölfe haben Tollwut. Allerdings beißen tollwütige Wölfe zu, auch | |
mehrmals wie historische Aufzeichnungen berichten und lassen sich nicht von | |
einem Schuss in den Boden aus der Bahn werfen. | |
Die belegten Wolfsattacken in Europa der vergangenen Jahrhunderte erzählen | |
zudem eher die Geschichte von Rotkäppchen. 90 Prozent der Wolfsangriffe | |
galten Kindern, die anderen Opfer waren meistens Frauen. Wölfe erkennen von | |
Weitem am Geruch, ob ein Tier krank, alt oder jung ist und es sich lohnt, | |
die Gefahr der Jagd einzugehen. Im 20. Jahrhundert haben sie in Polen fünf | |
Kinder getötet, in Spanien bis 1974 vier. Damit endet das Märchen vom Wolf, | |
denn schon lange hüten Sechsjährige keine Schafe mehr. Und sie spielen auch | |
nicht allein im Wald. | |
## Nicht mal ein totes Schaf | |
„Was ist eigentlich passiert in den letzten Wochen“, fragt Kenny Kenner, | |
Wolfsberater des Landes Niedersachsen. „Gar nichts“, fügt er hinzu und | |
meint den Wolf, nicht das Ministerium. Kein aggressiver Wolf sei in der | |
Gegend aufgetaucht, nicht mal ein totes Schaf wurde gemeldet. Der Wolf von | |
Boitze war „eine Sichtung“, im Wolfsmonitoring C3a genannt, die nicht als | |
Nachweis für einen Wolf ausreicht. | |
Kenner betreibt ein Biohotel östlich der Göhrde, dem größten Mischwald | |
Norddeutschlands, an dessen Westseite Boitze liegt. Viele Familien mit | |
kleinen Kindern machen bei Kenner Urlaub, regelmäßig bietet er | |
Wolfswanderungen an. Wenn er Glück hat, findet er einen von Rehhaaren oder | |
Wildschweinborsten durchwirkten Haufen Wolfskot. Im Wolfsmonitoring ist das | |
eine C2 Spur, ein gesicherter Nachweis. Gästen mit Hunden empfiehlt Kenner, | |
sie im Wald anzuleinen. | |
Schon bevor der Wolf im Wald hinterm Hotel auftauchte, hatte Kenner sich | |
bei Wolfsforscherin Gesa Kluth in der Lausitz ausbilden lassen. Dort | |
bekamen im Jahr 2000 die ersten Wölfe auf deutschem Boden seit 1850 | |
Nachkommen. Unter den 100 niedersächsischen Wolfsberatern ist Kenner einer | |
der wenigen Nichtjäger. „Der Wolf macht was er will“, sagt er und meint das | |
beschreibend. „Er bringt was in unsere Welt, das wir nicht kennen –das | |
Unkontrollierte.“ Kenner war auf dem Acker bei Boitze und hat mit Rolf K. | |
gesprochen, als der noch ans Telefon ging. „Was er erlebt hat, hat er | |
erlebt“, sagt Kenner. „Aber wer kann schon sagen, ob die Spuren auf dem | |
Acker alle zeitgleich entstanden sind?“ | |
Gerd Metzner jagt wie Rolf K. gleich hinterm Dorf am Rande der Göhrde. | |
Einen Kilometer vom Haus stehen die Hochsitze, drei Stufen aus rauem Holz, | |
dann die Plattform, ein wenig verdeckt von einem Kiefernast. | |
## Eine ambivalente Nähe | |
Regelmäßig ziehen Rehe links von K.s Hochsitz zwischen Wald und Acker über | |
einen Wechsel, wie Jäger einen Tierpfad nennen. Ein paar Schritte hinter | |
seinem Ansitz haben Rehe Liegeplätze gescharrt, am nahen Weg läuft just ein | |
Reh entlang, äst und dreht um. Metzner hat schon Wölfe im Wald gesehen, | |
sagt er. Beim Jagen. Ständig finde er die Risse. Tote Rehe. Oder Damwild. | |
In der Göhrde lebt nachweislich ein Wolf. Im Winter hat Wolfsberater Kenner | |
in einer Fotofalle auch einen zweiten gesichtet. Die Göhrde könnte eine | |
Wolfsfamilie beherbergen, doch sie beim Jagen zu beobachten, wäre | |
wissenschaftlich gesehen eine Sensation. Obwohl jeder in der Göhrde und | |
darüber hinaus über den Wolf eine Meinung hat, reicht das Wissen meistens | |
kaum aus, um ihn von einem Hund zu unterscheiden. | |
Wissenschaftler wie der Verhaltensbiologe Kurt Kotrschal der Universität | |
Wien fangen gerade an, die Wölfe in Europa zu untersuchen und die Frage zu | |
klären, wie Wölfe leben. Klar ist, dass „Wolf und Mensch seit Urzeiten in | |
einer oft ambivalenten Nahebeziehung leben“ wie Kotrschal sagt. | |
Wobei es „die Wölfe“ nicht gibt, denn Wölfe in der Lausitz können ein ga… | |
anderes Leben führen als Wölfe in der Göhrde oder auf dem | |
Truppenübungsplatz Munster, über den täglich Panzer donnern. Die Wölfe | |
laufen hinterher. „Wir staunen immer wieder“, sagt Kenner. In der Lausitz | |
haben die Wolfsforscher gerade beobachtet, dass ein Rudel mit seinem | |
Großvaterwolf zusammenlebt. Bislang dachte man, dass die Jungen die alten | |
Wölfe vertreiben. | |
In diesem Frühjahr leben 30 Rudel in Deutschland, das sind Eltern und | |
Jungtiere der vergangenen ein oder zwei Jahre. Zu den Familien kommen rund | |
10 Paare ohne Nachwuchs, ein paar Einzelgänger und die ziehenden jungen | |
Wölfe. Sie tauchen seit Februar in Norddeutschland an Waldrändern auf und | |
erregen die Gemüter. Bei Goldenstedt in Niedersachsen wurde angeblich einer | |
gesehen, der nachts durch einen Waldkindergarten gelaufen ist. Selbst wenn | |
es ein Wolf war, bedeutet das nur, dass einer durch die Gegend gelaufen | |
ist. Verhaltensforscher Kotrschal hat bei Wölfen ein „merkwürdiges | |
Interesse an Menschen“ festgestellt. Sie gucken gern mal, was Menschen | |
machen. | |
Als Marion Schneider* den Wolf am Häuschen in ihrem Garten in Vietze stehen | |
sah, hatte sie „wirklich Schiss“. Nun nennt sie das Tier „den Hübschen�… | |
drei Wochen nachdem sie ihn durch die Terrassentür gesehen hat, | |
hellsilbergrau sei er gewesen. Und jung. „Der ist gleich abgehauen“, sagt | |
Schneider resolut. Am Abend zuvor stand noch ein Reh in ihrem Garten , aber | |
Rehe laufen ständig durch den Ort an der Elbe, Waschbären sitzen im | |
Pflaumenbaum. Bevor „der Hübsche“ in ihrem Garten aufgetaucht ist, hatte | |
sie noch nie darüber nachgedacht, dass nur ein paar Kilometer entfernt ein | |
Rudel im Gartower Wald lebt. Seit 2013 haben die Wölfe zwei Mal Welpen | |
bekommen, die nun als Halbstarke durch Norddeutschland laufen. | |
250 Leute leben in Vietze, etliche von ihnen sind 80 oder 90 Jahre alt, | |
erzählt Susanne von Imhoff, in deren Kirchenkreis nicht nur Marion | |
Schneider einen Wolf gesehen haben will. In der Fotofalle des | |
Revierförsters trug „der Wolf“ dann allerdings Halsband. „Wir wollen nic… | |
in Wolfshysterie verfallen“, sagt von Imhoff, die sich im Gemeinderat von | |
Vietze seit den Sichtungen um den Wolf kümmert und eine | |
Informationsveranstaltung im Ort organisiert. | |
## Wie ein Drive-in für Wölfe | |
„Aber es schießt doch kein Jäger Wölfe, das ist viel zu gefährlich – ist | |
die Pacht weg, Jagdschein weg, alles weg“, sagt Jäger Metzner. Wölfe sind | |
eine streng geschützte Art in Deutschland, wer sie schießt, macht sich | |
strafbar. „150 in Deutschland – das reicht doch“, redet sich Metzner ein | |
bisschen in Rage, als seine Frau kommt und den Schlüssel für das Gatter | |
holt, auf der anderen Seite des Grundstücks Richtung Acker und Wald. Da hat | |
Metzner ein paar Damhirsche. | |
„Ein Drive-in für Wölfe“ nennt Wolfsberater Peter Burkhardt aus Gartow | |
solche Wildtiergatter. Ein Wolf buddelt sich unten durch und steht dann in | |
der Beute. Burkhardt kümmert sich im Revier des Gartower Rudels um Damwild, | |
Mufflons und Wildschweine in einem Gatter der Bernstorff’schen Betriebe. | |
Jeden Morgen fürchtet Burkhardt, dass er die Tiere mit ausgeweidetem Bauch | |
findet. Ein Anschauungsgehege mit Schutzzäunen will er deswegen daraus | |
machen. „Wölfe sind stinkendfaul bei der Fresserei“, sagt Burkhardt, der | |
robust in Lederhose zum Naturkautschukstiefel auftritt. | |
Mit seiner Frau Katrin lebt er im alten Forsthaus der Wälder des Grafen von | |
Bernstorff, jagt, schreibt Bücher darüber und ist „der Blitzableiter“ für | |
den Unmut über die Wölfe. „Für die einen bin ich der Wolfsfreund, für die | |
anderen der Wolfshasser.“ Denn Burkhardt würde Wölfen auch vor den Latz | |
schießen, wenn sie sich in Wohngebieten rumdrücken oder am Gatter längs | |
streichen. „Wenn wir Ausreißer raus nehmen, schafft das Akzeptanz für die | |
anderen“, ist Burkhardt überzeugt. | |
Er wünscht sich dasselbe wie Kollege Kenner. Dass der Wolf zu einem ganz | |
normalen Tier wird. Die fast mythische Verehrung von Wölfen bei den einen | |
schadet ihnen genauso wie der Hass bei den andern. Die Verklärung vernebelt | |
den Blick, schürt Unwissen und Angst. Die Damen von Vietze haben | |
hingeguckt, wer da in ihren Gärten stöbert. Und nach einer Woche | |
Beobachtung durch die Fensterscheibe fühlen sie sich wieder sicherer. Auch | |
wenn es ein Hund war. | |
*Name geändert | |
7 May 2015 | |
## AUTOREN | |
Ulrike Fokken | |
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