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# taz.de -- Terror in Iran: Ende der politischen Naivität
> Es gibt Solidarität mit den Protestierenden in Iran und den Willen, die
> Verbrechen des Mullah-Regimes zu untersuchen. Aber das reicht nicht.
Bild: Ein Zeichen setzten: Protest beim WM-Spiel Iran-Wales in Katar am 25. Nov…
Die letzten Tage muss ich immer wieder an die Zeilen eines Gedichts der in
Odessa geborenen Dichterin Anna Achmatowa aus ihrem „Requiem“ denken. Über
drei Jahrzehnte schrieb Achmatowa an diesem Gedichtzyklus, in dem sie die
Opfer des stalinistischen Terrors beklagt. Der Band durfte erst nach zwei
Jahrzehnten 1987 in der Sowjetunion erscheinen.
In der Zeit des Stalin-Terrors wurde Achmatowas erster Mann als
„Konterrevolutionär“ diffamiert und erschossen, ihr enger Freund, der
Dichter Ossip Mandelstam, in ein Lager deportiert, in dem er später
verstarb, und ihr Sohn verhaftet und ebenfalls ins Gulag geschickt.
Jahrelang stand Achmatowa in der Schlange neben anderen Frauen und Müttern
vor den Leningrader Gefängnistoren. Sie alle hofften, etwas über den
Verbleib ihrer Liebsten zu erfahren:
„Ich kannte viele früh gewelkte Frauen
Von Schrecken, Furcht, Entsetzen ausgeglüht.
Des Leidens Keilschrift sah ich eingehauen
Auf Stirn und Wangen, die noch kaum geblüht.“
Heute, Jahrzehnte später, sehe ich auf Twitter Videos von Müttern, die im
Iran vor den Toren der Gefängnisse stehen, in denen ihre Kinder gefangen
gehalten und gefoltert werden. Etwas in diesen Videos hat mich an die
Beschreibung des Terrors, der Hilflosigkeit in Achmatowas Zeilen erinnert.
## Saktionen reichen nicht
Seit einer Woche kommen hier in Deutschland Nachrichten von brutalen
Angriffen in der kurdischen Stadt Mahabad im Nordwesten Irans an. Polizei-
und Sicherheitskräfte sollen mit Panzern einmarschiert sein und wahllos auf
friedliche Demonstrierende geschossen haben. Videos von Augenzeugen, die
sich in den Sozialen Medien verbreiten, lassen Schreckliches erahnen. Die
Nachrichten, die Aktivist:innen aus der Region bekommen und mit uns
teilen, werden von Tag zu Tag verstörender.
Das Regime eskaliert die Lage – ganz bewusst [1][in den kurdischen Gebieten
des Landes] – nur um sie als Spalter darzustellen und den gesamten Protest
damit zu delegitimieren. Die Protestierenden aber lassen sich davon nicht
einschüchtern. Mich berührt es, mit welcher Stärke und Ausdauer die
Menschen trotz allen Leids, trotz der Toten und der Gewalt der vergangenen
zwei Monate und der Unterdrückung und Gewalt all der vorangegangen Jahre
weiter für das freie Leben auf die Straße gehen. Kommt das hier bei den
meisten Menschen, bei unseren Politiker:innen überhaupt an?
Klar, kann man jetzt sagen, es gibt ja Solidarität: Tausende Menschen haben
auf den Straßen in Deutschland bereits gezeigt, dass sie an der Seite der
Protestierenden im Iran stehen. Auch politisch ist das Thema auf der
Agenda. Kanzler Olaf Scholz und Außenministerin Annalena Baerbock haben die
Menschenrechtsverletzungen im Iran kritisiert. Im UN-Menschenrechtsrat hat
Baerbock am Donnerstag dafür geworben, die Verbrechen zu untersuchen und
aufzuarbeiten. Auch im Bundestag waren die Proteste Thema (auch wenn das
Regime dort als „konservativ und autoritär“ verharmlost wurde). Und ja,
Deutschland und die EU haben Sanktionen auf den Weg gebracht. Angesichts
des Ausmaßes der Gewalt des Mullah-Regimes reicht das aber nicht. Wann zum
Beispiel werden die Revolutionsgarden auf die EU-Terrorliste gesetzt?
Gerade erst traf sich der Kanzler mit Aktivistinnen und Journalistinnen, um
über den Iran zu sprechen. Scholz habe zugehört, erklärte die Kollegin
Gilda Sahebi, die dabei war. Zuhören kann er also, unser Kanzler. Jetzt
muss er beweisen, dass er auch handeln kann.
Deutschland und die EU haben sich jahrelang naiv gegenüber dem iranischen
Regime verhalten. Sie haben ein menschenverachtendes System toleriert.
Jedes Menschenleben, das gerade durch das iranische Regime beendet wird,
ist eines zu viel.
26 Nov 2022
## LINKS
[1] /Aufstand-im-Iran/!5893538
## AUTOREN
Erica Zingher
## TAGS
Schwerpunkt Iran
Proteste in Iran
Frauenrolle
Demonstration
Europäische Union
Kolumne Grauzone
GNS
Repression
Proteste in Iran
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Proteste in Iran
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