| # taz.de -- Tagung über kollektive Gewalterfahrungen: Die leidende Welt als St… | |
| > Um kollektive Gewalterfahrungen ging es bei einer Tagung in Berlin. | |
| > Diskutiert wurde, ob der Traumabegriff den Blick auf die Politik | |
| > verstellt. | |
| Bild: Nach einem Brandanschlag auf eine Unterkunft für Geflüchtete aus der Uk… | |
| Wenigstens einmal musste dieses deutsche Zauberwort für diesen Diskurs | |
| geäußert werden: „Verantwortung“, also für die Geschichte Deutschlands, … | |
| allem, hierauf ist die Vokabel meist gemünzt, für die Shoah, den | |
| organisierten, aus keiner Kriegssituation heraus geborenen Massenmord an | |
| Juden in Deutschland und sonstwo in Europa. Verantwortung – die hätten wir | |
| zu tragen, sagte Oliver Lindner, Staatsminister im Auswärtigen Amt. Auch | |
| wenn die überlebenden Opfer des Holocaust, Zeitzeug*innen, fast allesamt | |
| nicht mehr leben, wie Lukas Welz sagte, Vorstandsvorsitzender von Amcha, | |
| einer der wichtigsten internationalen Organisationen zur Aufklärung über | |
| die Leiden der Überlebenden des deutschen Verbrechens. | |
| So weit, so richtig: „Transgenerationale. Prägungen und Erinnerungen nach | |
| kollektiven Gewalterfahrungen über Generationen hinweg“ lautete der Titel | |
| des Tages im Akademiebau des Jüdischen Museums in Berlins. Es galt, so | |
| etwas wie eine Brücke zu bauen ins zeitgenössische Leiden in aller Welt, im | |
| Gefolge der postjugoslawischen Kriege etwa in Bosnien und Herzegowina, in | |
| der Ukraine, in Ruanda oder auch bei Flüchtlingen, die sich auch in | |
| Deutschland ihrer Leben nicht mehr sicher sein können. | |
| Dass für die Beschreibung dieser Leiden (gerade der Schwächsten, Kinder, | |
| Frauen, Alte) vor allem ein Wort gängig werden konnte, nämlich „Trauma“, | |
| wurde im ersten Panel debattiert. Taugt „Trauma“ (und dazu gehörig: | |
| „Resilienz“, Widerstandsfähigkeit) als Chiffre zur Beschreibung | |
| unterschiedlichsten Leidens, auch als überlebende Person, überhaupt noch? | |
| [1][Natan Sznaider], in Israel lebender Soziologe und selbst Angehöriger | |
| der sogenannten „zweiten Generation“, also Kind von Holocaustentronnenen, | |
| kritisierte die Beliebigkeit im (aktivistischen) Alltagsgebrauch des Wortes | |
| freundlich, doch in der Sache scharf: Es werde nicht unterschieden zwischen | |
| einem persönlichen Schmerz, einem möglicherweise verkapselten Leiden, einer | |
| Unsagbarkeit dessen, was das eigene Leben beschwert, und einer politischen | |
| Dimension: Die gibt der Begriff selbst nicht unbedingt her, aber so wird er | |
| für politische Zwecke fast missbraucht. | |
| Die leidende Welt werde da als Stuhlkreis betrachtet, in der über Traumata, | |
| einst nichts als ein für den psychoanalytischen Prozess nützlicher Begriff, | |
| geredet werde – und über Resilienzen! –, als sei ein Verständnis von | |
| gemeinsamem Leid schon alliierend und politisch wirksam. | |
| ## Smalltalk-Wort für missliche Befindlichkeiten | |
| Seine Kritik galt besonders Martin Auerbach, Leiter von Amcha in Israel, | |
| der diese Unterscheidung zwischen Persönlichem und Politischem nicht | |
| treffe. [2][Marina Chernivsky] sekundierte, nicht alle Leiden führten bei | |
| den Kindern und Enkeln zu Beschädigungen, es gäbe sehr wohl ein Leben mit | |
| „normalem“ seelischem Erbschaftsgepäck. | |
| Tatsächlich ist das Wort „Trauma“, so äußerte am Ende der Veranstaltung | |
| Kristin Platt (Uni Bochum), zu einer Art Smalltalk-Wort für alle misslichen | |
| Befindlichkeiten bis zum echten Heavy Historical Stuff geworden. Worauf es | |
| aber ankäme, so Esther Mujawayo, aufgewachsen in Ruanda, jetzt in | |
| Deutschland lebend, sei, dass die Gewalterfahrungen, gerade von Frauen, | |
| Opfer sexualisierter Gewalt, sagbar werden im Sinne: „Ich werde überhaupt | |
| gehört“, denn dieses Leid – eben nicht allein das soldatische Leid – mü… | |
| nicht tabuisiert sein. | |
| Am Ende redete sich Tahera Armeer von der Amadeu-Antonio-Stiftung fast in | |
| Rage. Überall zu den gedenkpolitischen Feiertagen, auch demnächst zum 9. | |
| November, mutmaßlich auch zum Holocaustgedenktag am 27. Januar, sei vom | |
| „Nie wieder!“ die Rede, jeder und jede brächte diese Formel über die | |
| Lippen, aber dieses „Nie wieder!“ werde Tag für Tag dementiert, gerade | |
| jetzt wieder, da [3][wieder Unterkünfte von Flüchtlingen in Brand] gesteckt | |
| würden. | |
| Was zu denken gab, war schließlich der Hinweis, dass bei Kriegen, wie | |
| aktuell der Russlands gegen die Ukraine, aber nicht nur dort, | |
| internationale Hilfsorganisationen nach „Trauma“-Hilfe und | |
| Resilienzworkshops riefen: Und nichts sei unpassender als eben solche | |
| psychologischen Dienste, wo es doch vor allem politische Fragen seien, die | |
| über Krieg und Frieden entschieden. | |
| 5 Nov 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jan Feddersen | |
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