# taz.de -- Tagebuch führen: Schreiben für die Gesundheit | |
> Tagebücher und andere Formen des Schreibens können das Wohlbefinden | |
> steigern, der Psyche helfen. Wissenschaftlich gesichert ist das | |
> allerdings nicht. | |
Bild: Auch das klassische Tagebuch ist Arbeit | |
Jeden Tag notiert sich Karim Schmidt mindestens drei Dinge, die er gemacht | |
oder erlebt hat. Wöchentlich wählt er davon drei bis fünf Einträge aus, die | |
er besonders relevant findet. Am Monatsende geht er diese dann noch einmal | |
durch und am Jahresende die Monatszusammenfassungen. All das seit Januar | |
2018. Ursprünglich gefiel ihm der Gedanke eines Tagebuchs, er fand aber | |
nicht die Motivation für regelmäßige, detaillierte Einträge. So kam er zu | |
den Stichpunkten. „Ich hatte das Gefühl, nicht genug zu schaffen“, erklärt | |
der 28-Jährige seine Gewohnheit. „Nun habe ich eine schöne Übersicht, wie | |
ich meine Zeit verbringe.“ | |
So oder so ähnlich machen es viele Leute: Sie dokumentieren Ereignisse, | |
Gedanken oder Gefühle. Manche möchten wie Schmidt vorwiegend Daten sammeln | |
und den Überblick behalten. Für andere ist es ein Weg, mit sich selbst oder | |
schwierigen Emotionen klarzukommen. | |
Die Psychologin Eileen Bendig erforscht unter anderem das Thema Schreiben | |
in der klinischen Psychologie und Psychotherapie an der Universität Ulm. | |
Sie sieht diese selbstständigen Schreibgewohnheiten als gesunden Ausgleich | |
im Alltag. „Manche machen Sport, andere spielen ein Instrument, wieder | |
andere schreiben – oft finden wir intuitiv heraus, was uns guttut.“ | |
Dabei haben die Menschen [1][ganz unterschiedliche Vorlieben]. Da gibt es | |
das klassische Tagebuch, aber auch beispielsweise fiktive Geschichten, die | |
an das eigene Leben geknüpft sind. Seltener drücken sich die Schreiberlinge | |
in Form von Poesie aus. Dadurch vergrößert sich der Abstand zu den | |
Emotionen. Die Themen variieren stark, von detailgenauen Beschreibungen des | |
Tages hin zu emotionalen und philosophischen Lebensfragen. Wer gerne | |
digital arbeitet, hat mittlerweile verschiedenste Möglichkeiten, sich | |
auszudrücken: etwa mit Tagebuch-Apps, als Kommunikation in den sozialen | |
Medien oder in Blogs. | |
## Distanz zu schwierigen Themen | |
Allerdings kann das Schreiben auch spezifisch mit dem Ziel eingesetzt | |
werden, psychische Symptome zu verbessern oder schwierige Erfahrungen zu | |
verarbeiten. Es wird dann als „therapeutisches Schreiben“ bezeichnet und es | |
geht wirklich nur um den Inhalt: Oft sollen die Teilnehmenden ausdrücklich | |
nicht auf Grammatik, Rechtschreibung oder Struktur achten, damit sie sich | |
ganz auf die Gedanken hinter der Schrift konzentrieren können. | |
Eine Möglichkeit ist beispielsweise, [2][traumatische Erlebnisse | |
aufzuschreiben] und sich dadurch auf einer anderen Ebene mit ihnen | |
auseinanderzusetzen. So können Betroffene möglicherweise mit etwas mehr | |
Distanz auf schwierige Themen blicken. Zudem müssen sie ihre Worte nicht | |
unbedingt jemandem zeigen, sondern können auch ganz für sich selbst | |
schreiben. Wer möchte, kann natürlich ausgewählten Menschen die Texte | |
vorlegen oder – etwa in Form von Blogs – für alle sichtbar machen. Das | |
kommt sehr auf die persönlichen Vorlieben an. | |
Vorteile könnte das Schreiben auch bei Depressionen haben, oder gar die | |
Stressreaktionen des Körpers vermindern. Selbst das Immunsystem soll davon | |
profitieren, wenn Menschen ihre traumatischen Erlebnisse zu Papier bringen. | |
[3][In einer Studie aus dem Jahr 2022] dokumentierten Forschende acht | |
Patient:innen mit einer Binge-Eating-Störung, eine Form von Essstörung. | |
Die Teilnehmenden berichteten unter anderem, dass sie durch das Schreiben | |
ihre Essgewohnheiten besser verstanden und sich selbst und den eigenen | |
Gefühlen näherkamen. [4][Auch Menschen mit chronischen Schmerzen] | |
profitierten offenbar vom Schreiben: Sie konnten ihre Erkrankungen so | |
vielschichtiger erleben und besser mit den Schmerzen umgehen. Und bei | |
[5][Patient:innen mit Krebs oder anderen schweren oder gar unheilbaren | |
Erkrankungen] kann Schreiben dabei helfen, um mit der Familie oder den | |
betreuenden Personen zu kommunizieren und mit der eigenen Situation | |
umzugehen. | |
Es muss auch nicht immer um negative Emotionen gehen: Bei manchen | |
Interventionen sollen sich die Teilnehmenden gezielt auf positive | |
Erlebnisse konzentrieren und so etwa einen Blick für das Schöne im Leben | |
wiederfinden und kraftbringende Sichtweisen identifizieren. | |
Das positive Schreiben haben Eileen Bendig und ihre Kolleg:innen auch | |
für neue, digitale Angebote als die sinnvollste Option erkannt. Sie | |
untersuchen, wie Konversationen mit einem ChatBot auf verschiedenste Weise | |
hilfreich sein können – beim [6][allgemeinen Wohlbefinden] und als | |
Intervention für [7][Menschen mit Diabetes]. [8][In einer Pilotstudie] | |
hatten sie 2021 festgestellt, dass die Technik für negative emotionale | |
Themen wohl noch nicht reif war: Einige fühlten sich mit den aufkommenden | |
Gefühlen alleingelassen und es ging ihnen dadurch sogar schlechter. „Für | |
solche Themen braucht es entweder eine reale Psychotherapie oder eine | |
Technologie, die ausgereift genug ist – das war der ChatBot damals noch | |
nicht“, erklärt Bendig. Mittlerweile sei das vermutlich kein Problem mehr, | |
in den laufenden Studien konzentrieren sie sich dennoch auf das Positive. | |
## Mangelnde Qualität der Untersuchung | |
Digitale Interventionen können Menschen erreichen, die von einer Therapie | |
profitieren könnten, die aber aus verschiedenen Gründen persönliche | |
Angebote nicht wahrnehmen möchten. Dabei kommt es auch auf die Bezeichnung | |
an, sagt Eileen Bendig: „Die Hemmschwelle ist bei einer | |
Depressions-Intervention höher als wenn beispielsweise die Worte Lifestyle‚ | |
Wohlbefinden oder Mindfulness im Vordergrund stehen.“ Bei | |
krankheitsbezogenen Angeboten hindere noch immer das Stigma um psychische | |
Erkrankungen einige Menschen an der Teilnahme, während es als sozial | |
anerkannt und wünschenswert gilt, sich um das Wohlergehen allgemein zu | |
kümmern. | |
All das klingt logisch und nachvollziehbar. Allerdings: So eindeutig ist es | |
leider nicht. Zunächst einmal ist unklar, wie genau Schreiben hilft, | |
abgesehen von der diffusen Aussage, dass die Schreibenden ihre Gefühlswelt | |
besser verstehen und Zusammenhänge in ihrem Leben eher sehen können. Dazu | |
kommt, dass selbst die beobachteten Effekte nicht wirklich gesichert sind. | |
Denn die meisten Studien untersuchen nur wenige Personen und sind häufig | |
beobachtend. Das heißt, sie erzählen von den Erlebnissen, messen aber | |
nicht, wie viele Menschen welche Art von körperlicher oder geistiger | |
Verbesserung verspürten. Und die angewandten Techniken unterscheiden sich | |
stark. Damit liefern die Untersuchungen zwar spannende Anekdoten, lassen | |
sich jedoch kaum verallgemeinern. | |
[9][Eine Analyse von Studien] zum therapeutischen Schreiben aus dem Jahr | |
2016 bemängelte außerdem die Qualität so gut wie aller vorhandenen | |
Untersuchungen. Das lässt wenig Vertrauen in die Gesamtergebnisse zu, und | |
die Autor:innen plädieren deutlich dafür, den klinischen Nutzen solcher | |
Interventionen anzuzweifeln. Auch Eileen Bendig ist von therapeutischem | |
Schreiben als alleinige Maßnahme nicht überzeugt: „Ich sehe darin vor allem | |
ein hilfreiches Werkzeug im Rahmen einer Psychotherapie.“ | |
Wer für sich schreiben möchte, findet bestenfalls selbst heraus, was | |
funktioniert. Schmidt jedenfalls stellt fest, dass ihm seine Dokumentation | |
der Ereignisse guttut: „Wenn ich es mir anschaue, habe ich das Gefühl, viel | |
erreicht zu haben, auch wenn ich Minuten vorher noch dachte, dass in der | |
letzten Zeit wenig Tolles passiert ist.“ | |
3 Jul 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://psycnet.apa.org/doiLanding?doi=10.1037%2F0033-3204.44.3.333 | |
[2] https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0165178119311989 | |
[3] https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/scs.13095 | |
[4] https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/j.1365-2702.2012.04268.x | |
[5] https://academic.oup.com/book/11858/chapter-abstract/160974536?redirectedFr… | |
[6] https://bmjopen.bmj.com/content/11/2/e041573.long | |
[7] https://bmjopen.bmj.com/content/12/9/e059336 | |
[8] https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S2214782921000178 | |
[9] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK355726/ | |
## AUTOREN | |
Stefanie Uhrig | |
## TAGS | |
Therapie | |
Schreiben | |
Psychologie | |
Gesundheit | |
Finanzen | |
Dokumentarfilm | |
Kolumne Great Depression | |
Wissenschaftsrat | |
Inklusion | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Altersforschung: So bleiben wir im Alter gesund | |
Die Altersforschung liefert verschiedene Lösungsansätze, wie wir trotz | |
fortgeschrittener Jahre fit bleiben. Medikamente allein retten uns nicht. | |
Ausbildung von Psychotherapeuten: Die finanzielle Realität | |
Psychotherapie ist in – die Ausbildung der Therapeut:innen aber immer | |
noch teuer. Die Bundesregierung muss die Finanzierung schnellstens klären. | |
Psychiatrie-Doku „Irre“: Was heißt hier irre? | |
Reinhild Dettmer-Finke widmet der demokratischen Freiburger | |
Hilfsgemeinschaft eine Doku. Besonders stark sind die DarstellerInnen. | |
Stellenwert von psychischer Gesundheit: Therapie darf kein Privileg sein | |
In Deutschland ist es schwer, an einen Platz für Psychotherapie zu kommen. | |
Darf man sich trotzdem freuen, wenn mal eine Sitzung ausfällt? | |
Medizinforschung für den Patienten: Neue Therapien schneller anwenden | |
Die Zentren für Gesundheitsforschung sollen dafür sorgen, dass neue | |
Medikamente und Behandlungsmethoden schneller zum Patienten kommen. | |
Protest gegen Schließungspläne: Psychologie-Studis mucken auf | |
Um Stellen für Inklusion zu schaffen, will die Wissenschaftsbehörde die | |
Psychologie-Ausbildung kappen. Das leuchtet allein der Senatorin ein. |