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# taz.de -- TV-Show „Big Brother“ in Brasilien: Ein Land schaut auf sich se…
> In Deutschland ist die Sendung „Big Brother“ eine alte Kamelle, in
> Brasilien ein Massenphänomen. Die Reality-Show zeigt das Land wie durch
> ein Brennglas.
Bild: Vor die Glozue wie alle oder lieber an den Strand? Copacabana Beach in Ri…
Am Montagabend saß ich in Rio vor dem Fernseher. Zugegeben, eigentlich
hatte ich das gar nicht vor. Hochsommer, 30 Grad, warum zu Hause sitzen?
Doch dann konnte auch ich mich dem Spektakel nicht entziehen, dem viele
meiner Freund*innen seit Wochen entgegenfiebern. An diesem Abend startete
die erfolgreichste Reality-Show des Landes: Big Brother Brasil.
In Deutschland ist die Sendung ein Relikt der Nullerjahre. Nicht so in
Brasilien. Hier ist BBB, wie es im Volksmund heißt, ein Massenereignis,
hat höhere Einschaltquoten als Fußballspiele, die Nachrichten und selbst
die heißgeliebten Telenovelas. Von Kritiker*innen als Volksverdummung
und Dauerwerbesendung tituliert, ist BBB doch mehr: ein Mikrokosmos der
brasilianischen Gesellschaft, und irgendwie auch ein Thermometer für den
Zustand des Landes.
Wer das Format nicht kennt: Eine Gruppe von Teilnehmer*innen wird für
etwa drei Monate in einem Haus eingesperrt und rund um die Uhr von Kameras
überwacht. Es gibt keinen Kontakt zur Außenwelt, keinen Zugang zu sozialen
Medien. Neben ganz normalen Brasilianer*innen sind auch einige C- und
D-Promis dabei, in diesem Jahr zum Beispiel der Baile-Funk-Sänger MC Bin
Laden. Die Bewohner*innen müssen Prüfungen bestehen und den Hausalltag
meistern. Die Zuschauer*innen bestimmen, wer das Haus verlässt. Wer am
Ende übrig bleibt, gewinnt und erhält einen saftigen Geldpreis.
BBB läuft bei Globo. Jeden Abend serviert der TV-Sender des größten
südamerikanischen Medienunternehmens die besten Momente des Tages. Wenn man
draufzahlt, kann man die Bewohner*innen rund um die Uhr beobachten.
2002 lief die erste Staffel, seitdem hat die Show viele Rekorde geknackt.
Das hängt auch mit den sozialen Medien zusammen. Die haben kaum irgendwo so
hohe Nutzerzahlen wie in Brasilien. Kurze Videoschnipsel aus dem Haus
werden bei X und Instagram hochgeladen und ziehen dort heftige Debatten
nach sich. Brasilianer*innen lieben den fofoca, den Klatsch.
Es würde wahrscheinlich zu weit gehen, den Brasilianer*innen mit ihrer
BBB-Liebe einen chronischen Hang zur Realitätsflucht zu attestieren. Aber
gerade in den letzten Jahren war die Show für viele zumindest eine
kurzweilige Ablenkung von [1][Corona-Chaos] und Wirtschaftskrise.
Was die Sendung so spannend macht: Sie ist eine Mini-Version dieses
gigantischen, [2][oft widersprüchlichen Landes]. Fast jeder kann sich in
einem der Kandidat*innen wiederfinden: der Macho-Cowboy aus dem Süden,
die Favela-Bewohnerin aus Rio de Janeiro, der schwule Modedesigner aus São
Paulo. Die Produktion legt darauf Wert, Menschen unterschiedlicher
Herkunft, Alter, Berufe, Persönlichkeiten und politischer Standpunkte
einzuladen. Dass es nicht immer harmonisch zugeht, ist ein Markenkern der
Sendung. Oft knallt es bei Debatten über Politik, Religion und Sexualität.
Bei der landesweiten Popularität der Show ist nicht überraschend, dass
mehrere Kandidat*innen im Anschluss ihr Glück in der Politik
versuchten. Der bekannteste von Ihnen heißt Jean Wyllys, Gewinner der
fünften Staffel. Von 2011 bis 2019 saß er für die linke Partei PSOL im
Parlament. Mit dem offen schwulen Politiker und Aktivisten zogen
LGBTI-Themen in die brasilianischen Wohnzimmer – und erreichten viel mehr
Menschen, als es mit jeder Demonstration gelungen wäre.
Noch drei Monate läuft die Sendung. Eine kurze Pause dürfte bei vielen
Brasilianer*innen erst Mitte Februar einsetzen. Dann startet der
Karneval – und den lieben sie noch mehr als Big Brother.
14 Jan 2024
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## AUTOREN
Niklas Franzen
## TAGS
Kolumne Fernsicht
Brasilien
Reality-Show
Fernsehen
Gesellschaftliches Miteinander
Schwerpunkt Berlinale
Brasilien
Dating
Arbeiterpartei Brasilien
Schwerpunkt Rassismus
Brasilien
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