# taz.de -- Studien zu Kinderverschickungen: Schikanen und Misshandlungen | |
> Mittlerweile gibt es erste Studien zu Kinderverschickungen nach 1945. Sie | |
> offenbaren, wie groß der Forschungs- und Handlungsbedarf ist. | |
Bild: Kurheim in Bonn-Oberkassel: In den 1970ern wurden Kindern hier Psychophar… | |
Vorsichtig geschätzt sind zwischen sechs und acht Millionen Kinder in der | |
alten Bundesrepublik zur Kur geschickt worden, zum Gesundwerden oder zur | |
Vorbeugung. Auch in der DDR gab es Kinderkuren. Viele Kinder – nicht alle – | |
haben in den Kurheimen Lieblosigkeit, Schikanen, Misshandlungen oder sogar | |
sexualisierte Gewalt erlebt. Erst seit [1][einigen Jahren organisieren sich | |
Betroffene], wird die Dimension des Verschickungswesens deutlich. Allein in | |
Nordrhein-Westfalen könnten zwischen zehn und zwanzig Prozent der Jahrgänge | |
1945 bis 1990 betroffen gewesen sein. Zu diesem Schluss kommt eine im | |
Januar erschienene Studie, die das Düsseldorfer Ministerium für Arbeit, | |
Gesundheit und Soziales nach einer Anhörung im Landtag in Auftrag gegeben | |
hatte. | |
Ausgeführt von der Dokumentations- und Forschungsstelle der | |
Sozialversicherungsträger in Bochum, sv:dok, ist es [2][die erste Studie], | |
die auf ein großes Bundesland schaut und dabei historisch ausholt. Im | |
November 2021 war bereits eine [3][Studie der Diakonie Niedersachsen] | |
erschienen, die sechs ihrer Heime beispielhaft untersucht. Die | |
Rudolf-Ballin-Stiftung in Hamburg hat eine auf zweieinhalb Jahre angelegte | |
Untersuchung zur behördlichen Verschickungspraxis der Hansestadt | |
angeschoben, [4][deren erster Zwischenbericht] vorliegt. Das Deutsche Rote | |
Kreuz will sich ebenfalls der Geschichte der eigenen Kinderkurheime | |
stellen. Dies alles sind erste Ansätze, die zeigen, wie umfangreich das | |
politisch und wissenschaftlich bislang ignorierte Thema ist. | |
Die Schwierigkeiten fangen mit der Aktenlage an. Viele Akten wurden | |
entsorgt oder verlagert – unklar wohin. Gesicherte Fallzahlen für | |
Nordrhein-Westfalen gebe es nicht, heißt es in der sv:dok-Studie. Als | |
Grundlage dienten die Zahlen der Kinderfahrtmeldestellen, die für die Bahn | |
die Transporte der Kurkinder abstimmten, sowie der sogenannten | |
Ausgleichsstellen, die dem Landesjugendamt untergeordnet waren und später | |
in den Landschaftsverbänden Rheinland und Westfalen aufgingen. Sie | |
koordinierten die Heil- und Erholungskuren zwischen den Kurheimen und den | |
amtlichen Entsendestellen, leisteten auch finanzielle Beihilfen. | |
Anträge für Erholungskuren konnten sowohl niedergelassene wie Amts- und | |
Schulärzte stellen. „Es ist davon auszugehen, dass die Gesundheitsämter [�… | |
die zentralen Steuerungsaufgaben übernahmen“, heißt es in der Studie. Im | |
Rheinland seien die Kuren zu 42 Prozent von kommunalen Trägern und zu 43 | |
Prozent von solchen der freien Wohlfahrtspflege verantwortet worden. 15 | |
Prozent der Maßnahmen entfielen auf Krankenkassen oder die Werksfürsorge. | |
## Die Aktenlage ist schwierig | |
Insgesamt bleibt das Zusammenspiel der verschiedenen Versicherungsträger, | |
Wohlfahrtsverbände und kommunalen Ämter ein buntes und mitunter dissonantes | |
Konzert. Oder ein kunstvolles organisatorisches Arrangement, das sich | |
irgendwann verselbständigte? Selbst nach dieser gut aufbereiteten Studie | |
ist man nur ansatzweise schlauer. Es kommt hinzu, dass die meisten Kuren | |
nicht in NRW selbst, sondern an Ost- und Nordsee oder in den Bergen | |
stattfanden. Auch wer die Rechtsaufsicht hatte, blieb oft unklar. | |
Die Idee von Kinderkuren geht bis ins 18. Jahrhundert zurück, sie entstand | |
dort, wo sie besonders nötig waren, in den Städten des britischen | |
Manchesterkapitalismus. In Westdeutschland knüpfte man nach 1945 an die | |
Erholungsfürsorge der Weimarer Republik an, die sie als freiwillige | |
Leistung der Krankenkassen eingeführt hatte. Eine soziale Errungenschaft, | |
die sich die Nationalsozialisten zu eigen machten und zur | |
„Kinderlandverschickung“ deklarierten. Die bereits vorhandenen Strukturen | |
wussten sie ideologisch wie praktisch zu nutzen, bis der Krieg sie oftmals | |
zwang, sofern nicht zerstört, die Kurheime zu Lazaretten umzufunktionieren. | |
Gibt es auffällige Kontinuitäten bei [5][den Kinderkuren der Nachkriegszeit | |
zum Nationalsozialismus]? Die sv:dok-Studie legt das nicht nahe und | |
schließt sie nicht aus. Misshandlungen und pädagogisches Fehlverhalten in | |
den Heimen zu untersuchen, sei nicht Aufgabe der Studie gewesen, stellt der | |
Verfasser Marc von Miquel fest, und aufgrund der Aktenlage nur schwer zu | |
rekonstruieren. Einzelfallstudien könnten ergiebiger sein, die Studie | |
benennt Fragestellungen und Forschungsansätze zum Kontext von Gewalt und | |
Kinderverschickung. | |
Dass es in manchen Heimen über NRW hinaus eine personelle Kontinuität zur | |
NS-Zeit gegeben hat, hält die Studie ausdrücklich fest. Es gelte daher, | |
„die biografische Sozialisation des Heimpersonals und der Ärzteschaft | |
genauer zu beleuchten“, schreibt von Miquel. Was der Historiker damit | |
meint, erklärt er der taz am Telefon: „Die sekundäre Sozialisation dieser | |
Generation durch Gewalterfahrung in der Wehrmacht oder | |
NS-Parteiorganisationen.“ Daraus ließen sich spezifische Gewalttraditionen | |
und -milieus ableiten, von Miquel schlägt den Bogen zu den Heimskandalen in | |
der Behindertenhilfe, die darauf hinwiesen, „dass Gewaltakte gegen Kinder | |
weitaus häufiger und in weitaus mehr sozialen Lagen stattfanden“, als | |
gemeinhin angenommen. | |
## Den Opfern eine Stimme geben | |
Er vermutet einen „repressiven Grundzug der wohlfahrtsstaatlichen | |
Intervention“, die historisch vor die NS-Zeit zurückgeht. Der Fall des | |
Kinderarztes Dr. Müller, der in Bonn-Oberkassel das Haus Bernward leitete | |
und in den 1970er Jahren seine Mitarbeiter:innen anwies, den Kindern | |
Psychopharmaka und Schmerzmittel zu verabreichen, zeige, wie groß der | |
Forschungsbedarf auch zur „ärztlichen Gewaltpraxis“ sei. Das Heim wurde | |
1976 geschlossen. Weil es privat betrieben wurde, hat sich bis heute | |
niemand gefunden, eine Einzelfallstudie zu finanzieren, bedauert von | |
Miquel. | |
Der Historiker spricht von einem „Puzzlefeld“ für die wissenschaftliche | |
Forschung, in dem erst wenige Teile zusammenpassten. Für ihn steht der | |
dürftigen Aktenlage die große Zahl und hohe Glaubwürdigkeit der Zeugnisse | |
ehemaliger Verschickungskinder gegenüber. Man dürfe an den | |
Selbsthilfestrukturen der Betroffenen „nicht vorbeigehen und diese nicht | |
vereinnahmen“, betont er. Dass die Aktenlage „nicht zufriedenstellend“ is… | |
bestätigt Christine Möller von der Diözesanbibliothek des Bistums | |
Osnabrück. Die Kulturwissenschaftlerin hat im Auftrag der Kongregation der | |
Franziskanerinnen vom Hl. Georg zu Thuine über drei Kinderkurheime des | |
Ordens recherchiert. | |
Anders als die Bochumer Studie hat ihre Untersuchung einen kleinen Fokus | |
und individuellen Ansatz. Neben der obligatorischen Archivrecherche – 103 | |
Krankenkassen hat Möller unter anderem angeschrieben, nur 47 hätten | |
überhaupt geantwortet und die alle negativ – stand für die | |
Kulturwissenschaftlerin im Vordergrund, den Betroffenen selbst „eine Stimme | |
zu geben und nichts zu bewerten“, sagt sie am Telefon. „Manche möchten nur | |
reden über das, was sie erlebt haben“, sagt Möller. | |
## Es braucht unabhängige Stellen | |
Seit [6][Anfang des Jahres ihr Zwischenbericht] erschienen ist, hätte es | |
viele neue Rückmeldungen von Betroffenen gegeben. Wird da die | |
Wissenschaftlerin zur Therapeutin? „Nein“, wehrt sie ab. Dies könne nur ein | |
Anfang sein, eine Bestandsaufnahme, der Orden als Anlaufstelle. „Es geht | |
darum, den Betroffenen Gehör und – vor allem – Glauben zu schenken.“ Mö… | |
hat auch mit Angehörigen sowie ehemaligen Ordensschwestern gesprochen, | |
sofern noch am Leben. Letztere können sich – ob aus Gründen des Alters oder | |
des Selbstschutzes sei dahingestellt – an wenig erinnern. | |
Ein [7][intern vergebener Auftrag] zur Aufarbeitung von Beschwerden ist vor | |
Jahren gescheitert, diesmal war man schlauer und wandte sich an eine | |
unabhängige Stelle. Der Orden betreibt die Kurheime heute als | |
Mutter-Kind-Kliniken und wünscht sich sicher ein sauberes Image. Doch | |
anders als in der Katholischen Kirche sonst ist man in diesem Fall darum | |
bemüht. | |
Wie konnte es dazu kommen, dass ausgerechnet die Schwächsten der | |
Gesellschaft, nämlich Kinder, bis Anfang der 1990er Jahre in so großer Zahl | |
und Häufigkeit Schikanen und Misshandlungen ausgesetzt waren? „Und wir | |
sprechen bei der Kinderverschickung von einem ganzen Industriezweig“, sagt | |
Möller mit Nachdruck. Eine verrohte Nachkriegsgesellschaft hätte bei vielen | |
Erwachsenen – ob Eltern, Ärzt:innen oder Betreuer:innen – dazu | |
geführt, dass sie oftmals „das Leid der Kinder nicht anerkennen konnten“. | |
Wie ihr Kollege Marc von Miquel sieht sie eine transgenerationelle | |
Weitergabe von psychologischen Mustern wirksam, die sich im System der | |
Kinderkurheime strukturell, individuell, institutionell Bahn gebrochen | |
hätten. | |
Wenn das keine Forschungsaufgabe ist. Dafür braucht es Geld und politischen | |
Willen. | |
16 Mar 2022 | |
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[1] https://verschickungsheime.de | |
[2] https://verschickungsheime.de/wp-content/uploads/2022/01/Studie-Verschickun… | |
[3] https://verschickungsheime.de/neue-studie-der-diakonie-niedersachsen/ | |
[4] https://www.rudolf-ballin-stiftung.de/files/pdf/zwischenbericht-15122021-fi… | |
[5] https://verschickungsheime.de/ns-zusammenhaenge/ | |
[6] http://ww.franziskanerinnen-thuine.de/html/zwischenbericht-kinderkurheime.h… | |
[7] https://www.deutschlandfunk.de/trauma-kinderverschickung-die-suche-der-opfe… | |
## AUTOREN | |
Sabine Seifert | |
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