# taz.de -- Studie zu Polizeigewalt: Weshalb Fälle ungeklärt bleiben | |
> Noch immer gibt es kaum Zahlen zur Polizeigewalt. Ein Team um den | |
> Kriminologen Singelnstein forschte dazu seit 2018 und legt nun einen | |
> Bericht vor. | |
Bild: Ein Teilnehmer einer Kundgebung in Köln gegen Polizeigewalt trägt ein P… | |
BERLIN taz | Es bleibt ein Feld, das von erhitzten Debatten bestimmt wird – | |
und von wenig Empirie: Gewalt von Polizist:innen. Nun legte ein | |
unabhängiges Forscher:innenteam um den [1][Frankfurter Kriminologen | |
Tobias Singelnstein] dazu umfassende Zahlen vor: Demnach herrscht weiterhin | |
ein großes Dunkelfeld bei Polizeigewalt. Und die strafrechtlichen | |
Konsequenzen bleiben minimal. | |
Bereits seit 2018 untersucht das Team um Singelnstein in einem | |
Forschungsprojekt „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen“. | |
[2][Zweimal wurden dazu bereits Zwischenberichte] vorgelegt. Nun folgen die | |
finalen Befunde in einem 500 Seiten starken Buch: „Gewalt im Amt“. | |
Basis ist eine Onlinebefragung von mehr als 3.300 Personen, die angaben, | |
Polizeigewalt erfahren zu haben. Dazu kamen 60 qualitative Interviews mit | |
Polizist:innen, Richter:innen, Staatsanwält:innen, Rechtsanwält:innen | |
und Opferberatungsstellen. Die Studie definiert Polizeigewalt als | |
Handlungen, „die aus der Perspektive der sie bewertenden Personen die | |
Grenzen des Akzeptablen überschritten“ – was nicht zwingend rechtswidrige | |
Gewalt bedeuten muss. | |
Die meisten Betroffenen – 55 Prozent – berichteten, Polizeigewalt bei | |
Demonstrationen erlebt zu haben, ein Viertel bei Fußballspielen. Die | |
anderen Fälle fanden etwa bei Personen- oder Verkehrskontrollen statt. Am | |
häufigsten wurden nach eigener Auskunft junge Männer Opfer von | |
Polizeigewalt – im Schnitt 25,9 Jahre alt. Laut Studie unterliegen dabei | |
marginalisierte Gruppen wie „rassifizierte Personen“ oder Wohnungslose | |
einem „besonderen Diskriminierungsrisiko“. | |
## Unterschiedliche Maßstäbe für Polizeigewalt | |
19 Prozent der Betroffenen berichteten von schweren Verletzungen wie | |
Knochenbrüchen. Bei den psychischen Folgen wurden „Wut und Angst vor der | |
Polizei“ benannt oder das Meiden bestimmter Orte, nachdem es zu der | |
Polizeigewalt gekommen war. | |
Zur Ursache der Gewalt erklärte ein knappes Fünftel der Betroffenen, dass | |
das Nichtbefolgen von Anweisungen zur Eskalation geführt habe – was teils | |
auch bloß das Nachfragen nach einem Dienstausweis oder nach der | |
Rechtsgrundlage der Maßnahme bedeutet habe. Insgesamt beklagten viele | |
Betroffene, für sie seien die Polizeimaßnahmen nicht transparent und | |
nachvollziehbar gewesen, bevor es zur Gewalt kam. | |
Befragte Polizist:innen erklärten ihre Gewaltanwendung dagegen vielfach | |
damit, [3][einen Kontrollverlust vermeiden zu wollen]. Auch Zeitdruck oder | |
mangelndes Personal, woraus Überforderung folge, seien Gründe gewesen. | |
Die Studie spricht von verschiedenen normativen Maßstäben, die an | |
Polizeigewalt angelegt werden. Für die Betroffenen seien neben der | |
Rechtsmäßigkeit die Legitimität der Gewalt zentral. Nur ein Fünftel der | |
Befragten kritisierte den ursprünglichen Polizeieinsatz an sich. Für die | |
Polizei dagegen zählten bei der Gewaltanwendung, die ihnen in bestimmten | |
Situationen als „unmittelbarer Zwang“ erlaubt ist, die Effizienz ihrer | |
Maßnahmen. | |
Der Großteil der Fälle von Polizeigewalt bleibt derweil offenbar öffentlich | |
unbekannt. So gab es laut Statistischem Bundesamt 2021 insgesamt 2.790 | |
Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamte wegen rechtswidriger | |
Gewaltanwendung. Nur in 80 Fällen erfolgten dabei auch Anklagen wegen | |
Körperverletzung im Amt – in zwei Prozent der Fälle also. Zum Vergleich: | |
Durchschnittlich wird bei 22 Prozent aller Ermittlungsverfahren Anklage | |
erhoben. 27 der 80 angeklagten Körperverletzungen im Amt endeten mit | |
Verurteilungen, 25 mit Freisprüchen – beim Rest wurden die Verfahren | |
eingestellt, mit oder ohne Geldstrafe. | |
Die Studie gibt auch für die geringe strafrechtliche Aufklärung Gründe an. | |
So könnten vielfach übergriffige Polizist:innen nicht identifiziert | |
werden. Auch würden Polizist:innen sehr selten ihre Kolleg:innen | |
beschuldigen und zugleich vor Gericht als besonders glaubwürdig gelten. | |
Zudem herrsche, wegen der alltäglichen Kooperation, zwischen Justiz und | |
Polizei ein „institutionelles Näheverhältnis“, das einen unvoreingenommen… | |
Blick erschwere. | |
## Große Definitionsmacht der Polizei | |
Auch von den befragten Betroffenen in der Studie erklärten nur 14 Prozent, | |
dass in ihrem Fall ein Strafverfahren stattgefunden habe. Nur knapp jede | |
zehnte betroffene Person stellte von sich aus eine Anzeige. Die anderen | |
verwiesen auf mangelnde Erfolgsaussichten einer solchen Anzeige, fehlende | |
Beweismittel oder die Sorge vor einer Gegenanzeige. Auf Polizeiseite | |
wiederum konstatiert die Studie hohe Hürden, dass Polizeibeamte Gewalt von | |
Kolleg:innen zu einer Anzeige bringen. Die Forscher:innen gehen | |
deshalb von einem „erheblichen Dunkelfeld“ aus. | |
Die Studie zeigt, dass die Polizei nach den Gewaltvorfällen eine | |
privilegierte Definitionsmacht hat. Dadurch, dass der Polizei allgemein | |
eine hohe Glaubwürdigkeit attestiert werde, bestimme sie über | |
Pressemeldungen nach den Vorfällen über deren öffentliche Deutung. | |
Polizeigewalt werde damit, so die Studie, „strukturell einer | |
Infragestellung entzogen“ – und Betroffene der Gewalt kämen damit kaum zu | |
ihrem Recht. | |
16 May 2023 | |
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## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
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