# taz.de -- Stimmungslage in der ukrainischen Hauptstadt: „Keine Lust mehr au… | |
> Auf den Straßen von Kiew gehen die Meinungen über Russlands Absichten | |
> auseinander. Akut beunruhigt scheint niemand zu sein. | |
Bild: Von Aufregung und Angst ist im Zentrum von Kiew, am Maidan, nichts zu sp�… | |
KIEW taz | Freitag Abend ist Freitag Abend, auch in Kiew und auch, wenn | |
Putin ante Portas steht. Wer am Freitag Abend über den Maidan geht, bei | |
Temperaturen von knapp unter Null und vereinzelten Schneeflecken neben dem | |
Trottoir, dem fallen die vielen Glühweinstände und die laute Musik, die aus | |
den Bars dröhnt, auf. Frauen, selbstsicher und gestylt, gehen auf einen | |
Glühweinstand vor einer Bar zu, gefolgt von den Blicken cooler junger | |
Männer, die am Eingang des Lokals stehen und rauchen. An das Rauchverbot in | |
Kneipen hält man sich in der Ukraine. | |
Die Corona-Gebote wie Abstand und das Tragen von Masken auf dem Weg zu | |
seinem Platz im Restaurant befolgen die meisten Gäste jedoch nicht und die | |
Kellnerinnen tragen ihre Masken oft auch nur über dem Mund. In der | |
Gastronomie gilt offiziell 3G, doch kaum jemand will einen Nachweis sehen. | |
Einen Grund für diese Unbeschwertheit gibt es nicht. Die Covid-Lage in der | |
Ukraine ist nicht besser als in Deutschland. 150 Menschen sind, so das | |
Portal des ukrainischen Gesundheitsministeriums, am Donnerstag in der | |
Ukraine an Corona verstorben. | |
Von Aufregung und Angst ist hier im Zentrum von Kiew, am Maidan, nichts zu | |
spüren. Irgendwo hängen Fahnen, ist ein Zelt von protestierenden | |
Kleinunternehmern aufgebaut. Doch es ist geschlossen, auch Demonstrierende | |
müssen sich am Freitag Abend erholen. | |
Olexandr spricht Deutsch, wartet im Schewtschenko-Park im Stadtzentrum auf | |
eine Bekannte. Irgendwann kommt man auch auf die Kriegsgefahr zu sprechen. | |
Olexandr glaubt nicht, dass man vor einem großen Krieg stehe. „Jetzt haben | |
sie uns acht Jahre lang in Angst und Schrecken gehalten. Wir haben | |
gefürchtet, dass der Krieg von Donezk zu uns kommt. Ich habe keine Lust | |
mehr auf diese Angst. Es gibt ein ukrainisches Sprichwort, das besagt: | |
‚Schlimmer als das Schreckliche ist die ständige Angst vor dem | |
Schrecklichen‘“. | |
Im Café „Der Goldene Dukat“ auf der Institutska-Straße, nur 500 Meter vom | |
Parlament entfernt, ist die Stimmung am frühen Freitag Abend gedämpft. | |
Viktor (59), ein Dolmetscher, der immer wieder in Brüssel für | |
internationale Organisationen arbeitet, bestellt sich einen Tee und eine | |
Karamellcremetorte. Er berichtet von seinem privaten und beruflichen Leben, | |
seiner mittelschweren Covid-Erkrankung im vergangenen Jahr und seinen | |
Auslandsaufenthalten. Er fühlt sich in Kiew wohl; wohler als in Brüssel. | |
Dort gäbe es ja nur ein Thema: die Pandemie. | |
## „Andere Probleme als Covid“ | |
Das könne er schon nicht mehr hören, obwohl er sich noch gut an sein hohes | |
Fieber und seine Zeit in einer ungemütlichen Quarantäne-Wohnung in | |
Frankfurt erinnern kann. „Es gibt doch auch noch andere Probleme als | |
Covid“, meint er. Und dann kommt er am Ende des Gesprächs auf die Politik. | |
Auch er glaubt nicht an eine große Intervention Russlands. „Kein einziger | |
russischer Soldat wird die Grenze überqueren“ ist er sich sicher. Russland | |
werde vielmehr mit Luftangriffen gezielt die ukrainische Infrastruktur | |
zerstören. „So wie die Amerikaner damals im Irak“. | |
Und dann werden auf einmal russlandfreundliche ukrainische Politiker eine | |
„Regierung der nationalen Einheit und Versöhnung“ ausrufen und mit Russland | |
Frieden schließen – zu russischen Bedingungen. Dass er sich in der Nähe des | |
ukrainischen Parlamentes selbst gerade an einem neuralgischen Punkt | |
befindet, auf den seiner Meinung nach russische Raketen zielen, scheint ihn | |
während des Gesprächs nicht zu beunruhigen. | |
Ganz anders sieht das Nadja, eine 73-jährige Rentnerin. Sie ist aus dem | |
Gebiet Donezk kurz nach Kriegsausbruch nach Kiew geflohen, telefoniert | |
mehrmals in der Woche mit ihren Verwandten, die dort auf der anderen Seite | |
der Front geblieben sind. Jeden Tag beschieße die ukrainische Armee | |
Gorlowka, beschieße die „Volksrepublik“ die ukrainische Armee. Mal fange | |
die eine Seite an, mal die andere. Sie hält ein Szenario für möglich, wie | |
man es in Georgien 2008 erlebt hatte, als der damalige Präsident | |
Saakaschwili die Hauptstadt der südossetischen Separatisten, Zchinwali, | |
hatte beschießen lassen und anschließend russische Truppen einmarschiert | |
sind. | |
Sollte die Ukraine versuchen, Donezk, Lugansk oder die Krim mit Gewalt | |
zurückzuholen, meint sie, „haben wir [1][einen großen Krieg mit Russland]�… | |
Sie glaubt nicht, dass Russland ukrainische Städte besetzen will. Denn im | |
Gegensatz zu Donezk oder Lugansk gebe es in anderen ukrainischen Städten | |
kaum Kräfte, die offen prorussisch sind. Und Besatzer, die keine | |
Unterstützung in der Bevölkerung hätten, könnten sich nicht lange halten, | |
meint sie. | |
Doch es gibt auch furchtsame Stimmen. Eine Iryna aus Poltawa fragt sich am | |
Telefon, ob man den Sommer noch erleben kann. Und auf Facebook freut sich | |
eine Vera Sadoroschnaja aus Saporischja, dass sie nicht die einzige ist, | |
die die Kriegsgefahr erkannt hat. | |
Widersprüchlichkeiten finden sich auch unter den offiziellen Vertretern der | |
Ukraine. Nachdem Präsident Selenski noch vor wenigen Tagen in einer | |
Videoansprache an das ukrainische Volk vor Panikmache gewarnt hatte, | |
erklärte er einen Tag später in der Washington Post, dass er [2][eine | |
russische Invasion der Ukraine] für wahrscheinlich halte. | |
22 Jan 2022 | |
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## AUTOREN | |
Bernhard Clasen | |
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