# taz.de -- Stadtteile in Rom: Botox, Auto, Antifaschismus | |
> In Rom können Gespräche über Stadtviertel ziemlich aufschlussreich sein. | |
> Hinter den ruhigen Plätzen und bürgerlichen Fassaden kribbelt es | |
> politisch. | |
Bild: Man denkt an deprimierte, den Gärtner verführende Hausfrauen: Rom, Pari… | |
Gespräche über Stadtviertel sind ein bisschen wie Gespräche über das | |
Wetter. Sie können belanglos sein, reine Zeitschinderei, manchmal aber auch | |
aufschlussreich. Vor einigen Tagen unterhielt ich mich auf einem Geburtstag | |
mit einer mir unbekannten Frau über die besten „quartiere“ der Stadt. Sie | |
habe in fast allen Vierteln von Rom gelebt, sagte sie, Trastevere, Prati | |
und Co, das einzig wirklich schlimme, das scheußlichste überhaupt, sei | |
Parioli. Nie sollte ich dort leben! Als ich ihr eröffnete, dass ich genau | |
das tue, dort lebe, wurde sie ganz still. | |
Parioli, das auf dem Monte Parioli liegt, ist ein komischer Ort. Es ist | |
eine Gegend, die den meisten entweder ein „Oh, molto chic!“ oder eine | |
Grimasse entlockt. Manchmal auch beides. Einige hören direkt auf mit einem | |
zu sprechen, wenn man zugibt, dass man dort wohnt, weil man sich damit | |
offenbar als eine von denen entlarvt: als Pariolina, Pariolini. Die | |
Begriffe gibt es wirklich. Sie stehen auch außerhalb der Hauptstadt für | |
etwas. Wenn sie fallen, tauchen in den meisten Köpfen folgende Bilder auf: | |
viel Geld, [1][viel Botox], dicke Autos, kleine Hunde. | |
Man denkt an deprimierte, den Gärtner [2][verführende Hausfrauen], | |
fremdgehende und von ihrer eigenen Wichtigkeit überzeugte Ehemänner, an | |
verdorbene Sitten. Leute in Parioli, so glaubt man, sind steinreich und | |
benehmen sich in jeder Hinsicht wie Ferkel, einfach weil sie es können. | |
Vielleicht denken manche an den Skandal, auf dem die Netflix-Serie „Baby“ | |
basiert. Damals, Mitte der neunziger Jahre, flog auf, dass eine Gruppe von | |
Pariolinas sich nach der Schule prostituierte. Nicht aus Not, sondern aus | |
Langeweile. Um sich hübsche Handtaschen zu kaufen. Oder besser gesagt: mehr | |
davon. Anderen wird das „Massaker von Circeo“, jene entsetzliche | |
Begebenheit aus den siebziger Jahren, in den Sinn kommen, bei der drei | |
junge Männer, Söhne angesehener Parioli-Familien, zwei junge Mädchen | |
tagelang folterten und vergewaltigten, bis eine von ihnen an den | |
Misshandlungen starb. | |
## Rund um die Piazza Euclide | |
Vielleicht erinnert man sich aber auch an den ersten Roman von Alberto | |
Moravia, der selbst hier geboren ist: „Die Gleichgültigen“. Er spielt in | |
den Straßen rund um die Piazza Euclide und beschreibt weniger die Gewalt, | |
die hinter den polierten Fassaden lauert, als vielmehr die Leere, die dort | |
herrscht. Niemand liebt, jeder benutzt, am Ende sind alle einsam und die | |
Herzen und Körper kalt. | |
Die Assoziationen sind, um es kurz zu machen, selten positiv. Und das hat | |
einen guten und zumindest historisch legitimen Grund: Parioli war während | |
des Faschismus der bevorzugte Wohnort der hohen Tiere des Regimes. | |
Offiziere und ähnliche Pfeiler der politischen Aristokratie bevölkerten die | |
Straßen, einige ihrer Erben leben wahrscheinlich bis heute hier. | |
Sympathisch geht anders, das ist klar. Und doch hat es auch seine guten | |
Seiten. Es ist weitläufig und sehr grün, Wohnungen sind billiger als im | |
Zentrum, und es wohnen ein paar interessante Leute hier, der italienische | |
Schriftsteller Emanuele Trevi zum Beispiel. Und angeblich zieht auch Paolo | |
Sorrentino gerade vom „coolen“ Esquilino nach Parioli um. | |
## Die Fotografin Tina Madotti | |
Vielleicht mag ich es aber auch einfach nur wegen meiner Wohnung. Weil sie | |
eine andere Geschichte, die eines anderen Pariolis, erzählt. Als ich sie | |
zum ersten Mal besuchte, war das Erste, was mir ins Auge stach, ein Plakat: | |
eine Fotografie der italienischen Fotografin Tina Modotti. Man sah darauf | |
eine Frau im Profil, die stolz in die Ferne blickte, in ihrer Hand hielt | |
sie eine Flagge. Es ist ein bekanntes Motiv, ein Symbolbild [3][der | |
mexikanischen Revolution]. | |
Eine alte Dame, die das an der Wand hängen hat, kann keine Faschistin | |
gewesen sein, dachte ich und entdeckte in den Monaten danach, dass sie | |
tatsächlich Teil einer recht bekannten Familie von Antifaschisten und | |
Widerstandskämpfern gewesen war. Ihr Bruder, Luigi Pintor, war 1971 | |
Mitbegründer der linken Tageszeitung Il Manifesto, einer Art italienischer | |
taz. Man kann also in Parioli leben, sagte ich der Frau, und muss keine | |
Pariolina sein! Danach sprachen wir übers Wetter. | |
2 Nov 2023 | |
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## AUTOREN | |
Annabelle Hirsch | |
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