| # taz.de -- Staatssekretär über Ost und West: „Vieles dauert Jahre, bis es … | |
| > Vor einem Jahr wurde die Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ | |
| > der Bundesregierung gegründet. Staatssekretär Markus Kerber koordiniert | |
| > deren Arbeit. | |
| Bild: In manchen Teilen Ostdeutschlands ist die Infrastrukur noch immer schwach | |
| taz: Herr Kerber, Sie sind Bundesinnenminister Seehofers | |
| Heimat-Staatssekretär. Vor einem Jahr haben Sie [1][im taz-Interview | |
| gesagt, das Land sei „aufgewühlt“]. Es ist mittlerweile schlimmer geworden, | |
| oder? | |
| Markus Kerber: Deutschland ist seitdem nicht aufgewühlter geworden. Wir | |
| wissen inzwischen aber mehr darüber. Es wird immer offensichtlicher, dass | |
| die offene Gesellschaft des Westens in einer Phase des Umbruchs steckt. | |
| Ist denn in diesem Jahr etwas besser geworden? | |
| Ja. Noch nie zuvor haben so viele Menschen in der Bundesrepublik gelebt wie | |
| im Jahr 2018. Laut Statistischem Bundesamt sind wir erstmals 83 Millionen | |
| Menschen. Vor 10, 15 Jahren haben wir alle noch gemeint, dass die deutsche | |
| Bevölkerung schrumpft. Stattdessen werden wir durch Zuwanderung mehr, vor | |
| allem aus der EU. Das heißt natürlich auch, dass es in diesem Land in | |
| einigen Regionen enger wird – und angespannter. | |
| Vor einem Jahr wurde [2][die Kommission der Bundesregierung „Gleichwertige | |
| Lebensverhältnisse“] gegründet, Sie als Staatssekretär koordinieren deren | |
| Arbeit, am Mittwoch wird der Bericht dem Kabinett vorgelegt. Was hat die | |
| Kommission erreicht? | |
| Die Bundesregierung ist sich einig, dass wir zu einer viel stärkeren | |
| Strukturpolitik zurückkehren müssen. | |
| Was ist damit gemeint? | |
| Das Handeln des Staates in Fragen der Infrastruktur und Daseinsvorsorge | |
| muss sichtbarer werden. Die Problemlagen im Land sind ja unterschiedlich: | |
| Wohnraumverknappung in den Städten, zu wenig Infrastruktur auf dem Land. Um | |
| das zu ändern, machen wir eine andere, mindestens auf ein Jahrzehnt | |
| angelegte Ausgabenpolitik. Künftig müssen die Ressorts bei ihren Ausgaben | |
| die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse berücksichtigen. Das heißt, | |
| wenn etwa unser Ministerium Stellen aufbaut, gehen die nicht nach Hamburg, | |
| München oder Düsseldorf, sondern in strukturschwache Regionen. Nicht nur in | |
| den Osten Deutschlands, nebenbei bemerkt. | |
| Interessant. Gerade hat ihr Minister eine Absichtserklärung zur Errichtung | |
| einer Cyberagentur im Raum Halle/Leipzig in Aussicht gestellt. Hundert | |
| Arbeitsplätze könnten – Konjunktiv! – entstehen. Derweil holt die | |
| Bundesforschungsministerin von der CDU die Batteriezellforschung in ihren | |
| eigenen Landesverband. 100 Stellen für die Sachsen, 500 Millionen Euro für | |
| die Münsterländer. Wenns konkret wird, ist der Osten komischerweise leider | |
| nicht dabei. Oder? | |
| Jetzt vermengen Sie etwas. Es gibt die Ost-West-Frage und es gibt die | |
| Stadt-Land-Frage. Bei der Batteriezellforschung scheint bislang die | |
| ländliche über die städtische Region gesiegt zu haben, beim | |
| Ost-West-Paradigma der Westen mal wieder über den Osten. Im Übrigen zeigt | |
| sich ja hier gerade, dass die Nichtbeachtung strukturpolitischer Erwägungen | |
| zu politischen Diskussionen führt. Strukturpolitik ist wieder ein Wert, das | |
| ist gut. | |
| Nun ist es aber so, dass [3][in Ostdeutschland] in wenigen Wochen drei | |
| Landtage gewählt werden. Die Botschaft dorthin ist doch: Ihr kriegt | |
| vielleicht 100 Stellen, mal sehen. Und in Ibbenbüren, bei Frau Karliczek, | |
| beginnt jetzt die Zukunft. | |
| Die Stellen in Halle/Leipzig werden entstehen, da können Sie sicher sein. | |
| Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik wird einen zweiten | |
| Standort in Freital bei Dresden aufbauen. In Brandenburg an der Havel soll | |
| es eine Schule des Technischen Hilfswerks geben. Die Bundespolizei wird in | |
| Sachsen um 500 Stellen bis ins Jahr 2014 gestärkt. Das sind konkrete | |
| Maßnahmen. Wir reden hier also nicht nur von ein paar hundert Stellen, | |
| sondern von vierstelligen Zahlen: In den Kohlerevieren sollen 5.000 neue | |
| Arbeitsplätze des Bundes geschaffen werden – ein Großteil davon entfällt | |
| auf die neuen Bundesländer. Wir haben übrigens zugesagt, dass allein 1.500 | |
| Arbeitsplätze aus dem BMI-Geschäftsbereich kommen. | |
| Hand aufs Herz. Muss der Osten einfach akzeptieren, dass er dem Westen | |
| dauerhaft unterlegen bleibt, dabei aber gut aussehen darf, weil er mit | |
| Steuermilliarden durchsaniert worden ist? | |
| Wissen Sie, wir haben 54 Indikatoren für unseren Deutschlandatlas angelegt, | |
| den wir am Mittwoch veröffentlichen werden. Nach denen kann man Deutschland | |
| grob in drei Regionen unterteilen: den sehr stark prosperierenden Süden, | |
| den uneinheitlich sich darstellenden Norden der alten Bundesrepublik und | |
| die neuen Bundesländer. Dort leben zu wenige Menschen, für die es im | |
| Schnitt zu wenige öffentliche Güter gibt. | |
| Was ist damit gemeint? | |
| Ein Beispiel ist der öffentliche Nahverkehr: Wir haben in | |
| Mecklenburg-Vorpommern Berufsschüler, die über eine Stunde Fahrtweg zur | |
| Schule haben und für die nur drei Busse am Tag fahren. Wenn sich das nicht | |
| bessert, werden noch mehr Menschen von dort weggehen und die Situation wird | |
| noch angespannter. | |
| Mehr Busse, reicht das? | |
| Wir können ja nicht die Leute zwingen, dort zu bleiben. Aber um sie zum | |
| Bleiben zu bewegen, müssen wir das Angebot öffentlicher Daseinsvorsoge | |
| deutlich verbessern. Wir wollen gegensteuern, der Bundesinnenminister ist | |
| fest überzeugt von diesem Weg. Die anderen Ressorts davon zu überzeugen, | |
| war vielleicht die schwierigste Aufgabe des zurückliegenden Jahres. | |
| Was Sie beschreiben, sind mittel- und langfristige Projekte, während die | |
| Rechten den Menschen schnelle Lösungen versprechen. | |
| Sie haben recht: Vieles davon, was wir hier konzipieren, dauert Jahre, bis | |
| es greift. Andere Maßnahmen werden noch in dieser Legislaturperiode ihre | |
| Wirkung zeigen. Aber wir müssen uns dreißig Jahre nach der Einheit fragen: | |
| Was hat gewirkt und was nicht? Und dort, wo politisches Handeln nicht so | |
| gewirkt hat wie erwartet, müssen wir gegensteuern. Im ganzen Land übrigens. | |
| Wenn es bei den Landtagswahlen so kommt, wie es die Prognosen sagen, wird | |
| nach diesen Wahlen das Land noch aufgewühlter sein als jetzt. Schwere | |
| Zeiten für den Heimatstaatssekretär. Wie bereiten Sie sich darauf vor? | |
| Wahlen sind Seismografen gesellschaftlicher Gefühls- und Lebenslagen. | |
| Unzufriedenheit in der Bevölkerung wird ventiliert – und Politik und | |
| Verwaltung müssen darauf reagieren. Die Heimatpolitik der Bundesregierung | |
| ist ein Versuch, das Wahlergebnis von 2017 entsprechend zu interpretieren. | |
| Das ist Realpolitik. | |
| 9 Jul 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Staatssekretaer-ueber-deutsche-Politik/!5522334 | |
| [2] /Lebensqualitaet-in-Stadt-und-Land/!5536349 | |
| [3] /Debatte-Regionale-Identitaet/!5603387 | |
| ## AUTOREN | |
| Anja Maier | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Ostdeutschland | |
| Osten | |
| Sachsen | |
| Sachsen-Anhalt | |
| Infrastruktur | |
| Ost-West | |
| Horst Seehofer | |
| Lesestück Interview | |
| Ungleichheit | |
| Wahlen in Ostdeutschland 2024 | |
| Schwerpunkt Landtagswahlen | |
| Innenministerium | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Strukturschwäche im Westen: Nicht nur der Osten hat Probleme | |
| Eine Studie zeigt: Aufholbedarf bei Wirtschaft und Infrastruktur gibt es | |
| auch im Westen. Etwa in NRW-Regionen oder Bremerhaven. | |
| Lebensverhältnisse in Ost und West: Go West! | |
| Die ungleichen Lebensverhältnisse in Deutschland lassen sich nicht mit Geld | |
| allein beheben. SUV-Dichte hier, Verwahrlosung dort, das macht Angst. | |
| Ostkonvent der SPD in Erfurt: Moral und Milliarden für den Osten | |
| Bei ihrem Ostkonvent inszeniert sich die SPD weiter als Kümmererpartei Ost. | |
| Mit den Landtagswahlen im Herbst habe das natürlich nichts zu tun. | |
| Staatssekretär über deutsche Politik: „Das Land ist aufgewühlt“ | |
| Markus Kerber ist im Innenministerium für „Heimat“ zuständig. Er findet, | |
| dass die Politik viel mehr offen streiten sollte. |