| # taz.de -- Staatssekretär über deutsche Politik: „Das Land ist aufgewühlt… | |
| > Markus Kerber ist im Innenministerium für „Heimat“ zuständig. Er findet, | |
| > dass die Politik viel mehr offen streiten sollte. | |
| Bild: „Heimat ist überall dort, wo ich dazu gehören darf und will“, sagt … | |
| taz: Herr Kerber, Sie sind Staatssekretär im Bundesinnenministerium und | |
| hier zuständig für Heimat, also für gesellschaftlichen Zusammenhalt und | |
| gleichwertige Lebensverhältnisse. Man könnte auch sagen, Sie sind Horst | |
| Seehofers Heimat-Staatssekretär. Was ist Ihr Heimatbegriff? | |
| Markus Kerber: Heimat ist überall dort, wo ich dazu gehören darf und will. | |
| Für mich persönlich sind es fünf Orte, an denen ich dieses Gefühl hatte: | |
| Ulm, Stuttgart, Los Angeles, London und Berlin. Und das gilt auch für die | |
| aktuelle Debatte in Deutschland und generell in der globalisierten Welt: Wo | |
| wollen Menschen dazugehören – und wo dürfen sie es auch? Das sind nach | |
| meinem Dafürhalten die Leitplanken einer überfälligen | |
| Integrationsdiskussion. | |
| Können Sie sich erinnern, dass dieses Land je so gespalten war wie derzeit? | |
| Ich sage lieber: Das Land ist aufgewühlt. Ich beobachte das aber im Moment | |
| in allen westlichen Staaten. Irgendwas hat uns in den letzten zehn Jahren | |
| aus der Bahn geworfen. Und ich denke, das ist nicht die Zuwanderung, die | |
| Migration. Die war nur der Auslöser. Es gibt eine Verunsicherung, ob das, | |
| was man nach 1990 für richtungweisend gehalten hat, richtig war: Die | |
| Annahme, dass wir eine Art Endzustand der Globalisierung erreicht hätten, | |
| hat sich als fehlerhaft erwiesen. Im Moment weiß kaum jemand, wo der | |
| Kompass hinweist. | |
| Haben Sie einen Kompass? | |
| Ich bin Anhänger des Philosophen Karl Popper, von dessen Theorie der | |
| offenen Gesellschaft. Popper sagt, es gibt keinen vorbestimmten Weg, | |
| sondern wir müssen die Probleme, die sich an jedem neuen Tag im Leben | |
| stellen, neu lösen. | |
| Das ist aber anstrengend. | |
| Klar. Wir meinten ja nach 1990, in einem postideologischen Zeitalter zu | |
| leben. Aber es scheint etwas zu geben, was die Menschen brauchen, das über | |
| das Materielle hinausgeht. Früher nannte man das Ideologie. Davor | |
| vielleicht Glauben. Übergeordnet ist es die Suche nach dem Sinn. Und die | |
| westlichen Gesellschaften sind auf der Sinnsuche, aber sie haben noch keine | |
| Antwort gefunden. | |
| Auf dieser Sinnsuche wird die gesellschaftliche Tonlage schärfer, mitunter | |
| verletzend und kalt. Wie nehmen Sie hier im Innenministerium die Stimmung | |
| im Lande wahr? | |
| Ich probiere, so oft es geht, aus dem Ministerium, aus der Berliner Blase | |
| wegzukommen, indem ich Menschen mit einer ganz normalen Lebenswirklichkeit | |
| treffe. Kürzlich war ich bei einer Veranstaltung des Programms | |
| „Zusammenhalt durch Teilhabe“. Da waren 350 Ehrenamtliche aus | |
| strukturschwachen Regionen. Mit denen habe ich zu Abend gegessen. Und dort | |
| erfährt man, dass die hochtourigen Berliner Debatten auch draußen im Land | |
| geführt werden. Dass aber viel mehr an Lösungen gearbeitet wird. In | |
| Vereinen, Bürgerinitiativen, Plattformen. Daraus ziehe ich die Zuversicht, | |
| dass die Menschen die anstehenden Fragen ganz klein, Stück für Stück | |
| abarbeiten. Die machen einfach. | |
| Sie sagen: ganz klein. Ich habe das Gefühl, kleiner wird aktuell nur die | |
| Bereitschaft, etwas zu tun. | |
| Das glaube ich nicht. In der Gesellschaft, auf der normalen Ebene des | |
| Zusammenlebens, tut sich enorm viel. Der Zusammenhalt erwächst da mitunter | |
| aus der Not. | |
| Aber es wird definitiv mehr gemosert. | |
| Mag sein, die Gesellschaft ist aufgeregter. Aber sie ist auch eine, in der | |
| sich alle mitteilen. Das Dunkelfeld des Meckerns, etwa in der Kneipe, ist | |
| einfach im Hellfeld, zum Beispiel online, angelangt. Demokratietheoretisch | |
| kann man sagen, dass das eigentlich gut ist, weil die Rückkopplung zwischen | |
| Bürger und Politik unmittelbarer ist. Es lässt einen aber auch leicht | |
| übersehen, was Leute tatsächlich für die Gemeinschaft leisten. Über Erfolge | |
| reden wir alle viel zu wenig. | |
| Stimmungen sind das eine, praktische Politik das andere. Was kann Politik | |
| überhaupt tun für unzufriedene Bürger? | |
| Politik muss Probleme schonungslos annehmen und diskutieren. Das ist wie | |
| beim Arzt: Schon das Zuhören ist Teil der Heilung. Und Politik muss | |
| Lösungen anbieten und den Bürgern zur Wahl stellen. Um mal praktisch zu | |
| werden: Wir ringen im Moment um den richtigen Weg, was Zuwanderung | |
| anbelangt. Das ist ein heftig geführter Streit, aber er führt im Ergebnis | |
| zu einer anderen, wieder stärker diskursiven Politik. Offen streiten – das | |
| muss Politik viel mehr machen. Davon hatten wir in den letzten zehn, | |
| zwanzig Jahren viel zu wenig. | |
| Im Osten ist die AfD auf dem Vormarsch. In Sachsen war sie stärkste Kraft | |
| bei der Bundestagswahl. Warum entziehen gerade die Ostdeutschen den | |
| Regierungsparteien ihr Vertrauen? | |
| Ich denke, es gab nach 1990 einen viel zu schnellen Automatismus: Wir | |
| wissen, wie es geht – und so läuft’s auch bei euch. Frei nach Bert Brecht: | |
| Erst das Fressen, dann die Moral. Wir haben das Fressen geregelt und | |
| gehofft, dass dann nicht nach der Moral gefragt wird. Wir haben aber die | |
| Wertvorstellung der Menschen in den neuen Bundesländern schlicht ignoriert. | |
| Und jetzt gibt es eine politische Bewegung, die dezidiert in diese Lücke | |
| rückt und sagt: Nur wir verstehen euch. Das ist natürlich Unsinn. | |
| Es gibt die Theorie, die Ostdeutschen seien bis heute eine sehr große | |
| Minderheit, ausgestattet mit Bürgerrechten, die anderen Minderheiten | |
| verwehrt sind. Etwa das Wahlrecht. Was sagen Sie, müssen die Ostler noch | |
| integriert werden? | |
| Nein, von diesem Ansatz halte ich nichts. Viele bezeichnen ja auch die | |
| Bayern als Minderheit: aufmüpfig und mit ganz eigenen Vorstellungen | |
| ausgestattet. Tatsächlich aber geht es um regionale Identitäten. Auch die | |
| neuen Bundesländer sind doch nicht einheitlich. Sachsen zum Beispiel hat | |
| sich immer als eigenständig betrachtet, egal wer gerade regiert hat. | |
| Faktisch sind Ostdeutsche in den Eliten vor Ort unterrepräsentiert. Ob | |
| Richter, Landräte, Firmenchefs. Sollte Politik diese Entwicklung | |
| beeinflussen? | |
| So was wie Quoten würden da nicht helfen. Was hilft, ist die Betrachtung | |
| der Realität. Nach 1990 haben viele Ostdeutschland verlassen, sie sind in | |
| den Westen aber auch in die Welt gegangen. Oft ist uns gar nicht bewusst, | |
| was die für Erfolge erzielt haben. Dieser Braindrain wirkt sich bis heute | |
| nachteilig aus. Zur Fairness gehört aber auch: Gingen die jetzt alle wieder | |
| zurück, wäre die Situation der Elitenrepräsentanz dort deutlich positiver. | |
| Warum sollten sie? Das, was anzieht – gut bezahlte Jobs, gute Schulen, gute | |
| Infrastruktur, eine tolerante Bürgergesellschaft – finden sie dort nicht. | |
| Solange das so ist, bleibt der Osten, bleibt jede Region unattraktiv. | |
| Das ist ein zentraler Punkt dessen, was wir hier im Ministerium zu | |
| bewerkstelligen versuchen – allerdings nicht mit einem reinen Fokus auf die | |
| neuen Bundesländer. Die haben eher einen Laborcharakter. Wir sehen, dass es | |
| nach dreißig Jahren Zentralisierung eine Gegenbewegung gibt. Sechzig | |
| Prozent der Deutschen leben in Dörfern und Kommunen bis maximal 100.000 | |
| Einwohnern. Das sind fast zwei Drittel aller Deutschen. Wenn wir uns deren | |
| Lebenswirklichkeit anschauen, wird die nicht ausreichend beachtet. Da muss | |
| die Politik dazulernen. | |
| Ist das die Gleichwertigkeit, die in Ihrer Jobbeschreibung steht? | |
| Ja. In den neuen Bundesländern kommt hinzu: Da gibt es zwar bestens | |
| ausgebaute Straßen, aber viel weniger Menschen. Die Daseinsvorsorge selbst | |
| – also Schulen, Krankenhäuser, Polizei und so weiter – ist aber angespannt. | |
| Das hat gesellschaftliche Folgen und es ist wichtig, politisch mit | |
| Dezentralisierung gegenzusteuern. | |
| Das steht ja auch so im Koalitionsvertrag. Und, geht’ s jetzt mal los? | |
| Ich bin guter Dinge, dass wir schon in dieser Woche den Kabinettsbeschluss | |
| bekommen, um die im Koalitionsvertrag vereinbarte Kommission „Gleichwertige | |
| Lebensverhältnisse“ bilden zu können. Da sitzen dann der Bund, die Länder, | |
| Kommunen und die Spitzenverbände an einem Tisch. Das wird etwas Neues sein. | |
| Was ist die Aufgabe dieser Kommission? | |
| Es sind eigentlich vier Aufgaben: Zum einen wollen wir die Indikatoren | |
| bestimmen: Was bedeutet überhaupt Gleichwertigkeit? Wir wollen zweitens | |
| festlegen, welche Maßnahmen wir brauchen, um diese Gleichwertigkeit | |
| herzustellen. Zum Beispiel bei der medizinischen Versorgung auf dem Land. | |
| Außerdem wollen wir die Frage beantworten, wie die subjektive Zufriedenheit | |
| der Bürger ermittelt werden kann. Es reicht nicht, wenn nur populistische | |
| Parteien den Eindruck erwecken, sie würden sich kümmern; das muss | |
| Regierungshandeln sein. Und viertens wollen wir genau wissen, was die | |
| Bürgerinnen und Bürger denken, was ihre Erfahrungen sind. Um zu erfahren, | |
| wie man das Rechtsextremismusproblem in den Griff bekommt, hilft mir | |
| beispielsweise die praktische Erfahrung der Feuerwehrleute in Vorpommern | |
| oft mehr als ein Beamter hier im Ministerium. | |
| Tja, wenn die Feuerwehrleute dann nicht gerade Runen-Tattoos haben. | |
| Nicht so negativ! Es gibt doch die Gegenkräfte. Und die wissen oft viel | |
| besser Bescheid, wo was funktioniert und wo nicht. Wenn wir diese vier | |
| Elemente politisch angehen, ist schon mal der Versuch unternommen worden zu | |
| zeigen, dass wir uns um gleichwertige Verhältnisse für alle Bürgerinnen und | |
| Bürger wirklich kümmern, statt am Ende nur einen dicken Bericht in die Welt | |
| zu setzen. Sie werden sehen, das funktioniert. | |
| 17 Jul 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Anja Maier | |
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