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# taz.de -- Sprachverbote in Russland: Worüber man nicht mehr spricht
> In Russland werden Wörter verboten und durch neue ersetzt. Literatur gilt
> als extremistisch und landet auf dem Index. Was macht das mit der
> Sprache?
Bild: Ob Blumen oder Worte: Jeder Protest kann in Russland ins Gefängnis führ…
Moskau taz | Dass man Worte oder Wortkombinationen durch andere ersetzt,
[1][kam in der russischen Sprache schon früher vor]. Sprache lebt vom Spiel
mit sich selbst und der sie umgebenden Realität, von Witz und Selbstironie.
Doch genauso oft lärmt und kocht sie vor Wut, wie alles Lebendige. Aber
egal, hier geht es um einen völlig anderen, aus dem bürokratischen
Neusprech hervorgegangen Sprachersatz, entlehnt der orwellschen
Ausdrucksweise russischer Staatsdiener*innen und der sie nachahmenden
Propagandamedien.
Wie hört sich das an: „Knall“ statt „Explosion“, „negatives Wachstum…
„wirtschaftliche Rezession“, „Auftriebsverlust“ statt „Schiffsunterga…
Klingt stellenweise richtig elegant, eben „mit Verstand gemacht“, wie es in
einem alten Werbeslogan hieß. Zu den „unschuldigen Spielereien“
bürokratischer Gesinnung kam vor nun zwei Jahren die „militärische
Spezialoperation“ hinzu. Wer den Krieg im heutigen Russland als Krieg
bezeichnet, läuft Gefahr, dafür strafrechtlich belangt zu werden. Nur für
das Wort „Mord“ gibt es bislang keinen Ersatz. Vielleicht sind deshalb
Morde kaum mehr Thema. Insbesondere, wenn es um [2][die Ermordung Alexei
Nawalnys] geht, des Oppositionspolitikers Nummer eins.
[3][Verboten sind in Russland nicht nur das Wort „Krieg“] oder
„Falschdarstellungen der Armee“ – also von den offiziellen Meldungen des
russischen Verteidigungsministeriums abweichende Informationen und
Meinungen. Verboten sind gleich ganze soziale Netzwerke, die bis 2022 als
Austauschplattformen dienten: X, ehemals Twitter, Facebook und Instagram.
Einloggen geht nur mithilfe eines VPN-Tunnels. Der ist übrigens auch zum
Lesen vieler tausend Webseiten nötig, die nicht von oben abgesegnete
Nachrichten und Meinungen publizieren.
Dafür gibt es sogar eine extra Wortschöpfung – „Verbotsgram“ statt
Instagram. Denn Instagram gehört dem Unternehmen Meta, das in Russland als
extremistisch eingestuft und verboten ist. Zweifellos kann man sagen, dass
die Sprache sich verändert. Doch damit würde noch Wesentlicheres ungesagt
bleiben. Nämlich, dass Anwendungsmöglichkeiten der Sprache stark reduziert
sind. Gemeint ist, dass über viel zu vieles auf der Straße, im Bus, bei der
Arbeit nicht mehr geredet wird. Übrigens auch nicht bei privaten Feiern,
egal ob in der Kneipe oder zu Hause. Man kennt sicher nicht alle Gäste,
manche hat man noch nie gesehen, womöglich meldet jemand der Polizei,
worüber gesprochen wurde?
## Aus Angst keine Witze mehr erzählen
Wenn man sogar in kleineren Gruppen weniger spricht, heißt das dann nicht
auch, dass bestimmte klare Formulierungen, Schlussfolgerungen oder sogar
Gedankengänge einem gar nicht mehr in den Sinn kommen? Wie läuft das
eigentlich in unfreien Gesellschaften ab? Die Älteren erzählen manchmal von
der Sowjetunion. Dabei erinnern sich nur die wenigsten gut an damals. Denn
das Leben der überwiegenden Mehrheit im Land war nicht geprägt von Geist
und Worten, sondern von Sorgen um Lebensmittel, die Familie, die Kinder.
Und es ist menschlich, in einem Land, in dem Menschen für einen Witz
eingesperrt werden, weil jemand sie denunziert hat, einfach aufzuhören mit
dem Witzeerzählen. Und Zusammenkünfte zu vermeiden, wo jemand „gefährliche…
Witze zum Besten geben könnte. Auch jetzt werden Menschen aus ganz
unterschiedlichen sozialen Schichten zu demonstrativ hohen Haftstrafen
zwischen 7 und 18, 19 Jahren verurteilt, damit nicht nur Gebildete in den
Großstädten Angst haben. Auch der einfache Arbeiter vom Dorf soll Angst
haben. Und die Putzfrau in der Kantine, wo er zu Mittag isst. Die
Krankenschwester, die ihm den Arm nach einem Arbeitsunfall verbindet.
Die Smartphone-Revolution der 2010er Jahre, eine der Voraussetzungen für
die Protestwelle von 2011/2012 gegen Manipulationen bei den Duma-Wahlen,
sorgt als Langzeitfolge für die rasche Ausbreitung von Angst und Schweigen.
Menschen der älteren Generation können sich sicher noch daran erinnern, wie
sie Rückhalt in Büchern fanden. Inzwischen werden Werke missliebiger
Autor*innen massenweise aus Bibliotheken und dem Handel entfernt. Am 20.
Februar wurde bekannt, dass ein großer Online-Händler seiner Belegschaft
eine Liste mit 252 Buchtiteln zukommen ließ, die aus dem Verkauf genommen
werden sollen. Der Grund: Teile des Inhalts ließen sich als
„LGBT-Propaganda“ auslegen.
## Im Gefängnis landet jeder letztlich allein
Wahrscheinlich war das nicht mal eine direkte staatliche Anweisung, sondern
vorauseilender Gehorsam. Ich nenne einfach mal ein paar dieser Bücher: „Das
Gastmahl“ von Platon, „Das Dekameron“ von Giovanni Boccaccio, „Die Nonn…
von Denis Diderot, „Njetotschka Neswanowa“ von Fjodor Dostojewski, „Die
Falschmünzer“ von André Gide, „Orlando“ von Virginia Woolf, „Die Gewi…
von Julio Cortázar, „Es“ und „Doctor Sleep“ von Stephen King und nicht
zuletzt „Marinas dreißigste Liebe“ von Vladimir Sorokin sowie sein neuester
Roman „Nasledie“.
Über den in der Endphase der Sowjetunion entstandenen Roman „Marinas
dreißigste Liebe“ würde ich gern ein paar Worte verlieren. Es geht darin um
eine gewöhnliche junge Frau, politisch völlig unbedarft, dafür
fleischlichen Lüsten nicht abgeneigt. Sie ist zu einem echten
Propaganda-Opfer mutiert und verliert dabei ihre Persönlichkeit. Sorokin
gelingt das Kunststück, diese Wandlung anhand von Marinas Sprache
aufzuzeigen, die zunächst ihre persönliche Färbung verliert und am Ende
jeglichen Sinn. Sie löst sich komplett auf. Das hat Symbolwert.
Kurzum, die Erfahrung sowjetischer Vorfahren hat selbst dann, wenn sie
persönlich übermittelt wird, wenig Lehrreiches zu bieten für jene, die
heutzutage vor Angst zittern. Jeder stirbt für sich allein. Auch im
Gefängnis landet jeder und jede letztendlich allein.
Apropos, wo wir gerade beim Gendern sind. Mit Feminitiven tut sich die
russische Sprache schwer. Manche gehören schon seit 100, 150 Jahren zum
allgemeinen Sprachgebrauch, über andere gab es noch unlängst Streit. Dabei
ging es auch um die rein philologische Frage, welche weibliche Endung zu
präferieren sei. Nun jedoch, wo Ende 2023 das oberste Gericht Russlands
darauf verwies, dass Feminitive ein Wesensmerkmal der als extremistisch
eingestuften und darum verbotenen „internationalen LGBT-Bewegung“ seien,
denkt man darüber nach, ob es noch angebracht ist, jahrhundertealte
weibliche Sprachformen zu nutzen, wie zum Beispiel das Wort „Freundin“.
## Sorgen um die Sprache
In den vergangenen Monaten hat [4][der russische Staatsapparat] so
lautstark seine Furcht vor dem dritten, vierten und weiß Gott welchem
weiteren Geschlecht verkündet, dass am Ende in der Alltagssprache womöglich
nur noch ein Geschlecht überlebt – das männliche.
Haben wir es also inzwischen mit einer Sprach-Mumie zu tun, von der heute
nur noch eine leere Hülle existiert? Oder ist die Sprache noch lebendig?
Bislang hält sie sich in unzensierten russischen Publikationen und in
Blogbeiträgen, die außerhalb Russlands geschrieben werden, am Leben. Und
auch im Land selbst lebt sie noch, zum Beispiel in Form von unter engsten
Freund*innen erzählten Witzen.
Trotzdem mache ich mir Sorgen um die Sprache: Zu viele Menschen achten auf
sie. Sowohl jene, die sie einfach nutzen, als auch die Silowiki, die Leute
aus dem Sicherheitsapparat, die in den vergangenen Jahren auf den Geschmack
gekommen sind, Menschen ihrer Worte wegen einzusperren. Und wo es derart
viele Aufpasser*innen gibt, behält womöglich ein altes russisches
Sprichwort recht: „Hüten sieben Frauen ein Kind, bleibt es ohne Aufsicht.“
Aus dem Russischen von Varvara Korotilova
25 Feb 2024
## LINKS
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[4] /Russischer-Dissident-Alexei-Nawalny-tot/!5992745
## AUTOREN
Iwan Perechodnij
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