| # taz.de -- Social-Media-Profile als Nachlass: Über den Tod hinaus | |
| > Peter Engemaier hat zwei seiner Kinder verloren. Doch im Internet leben | |
| > sie weiter. Er kann dagegen nichts unternehmen. | |
| Bild: Zwei seiner Kinder sind verstorben. Den digitalen Nachlass kann Peter Eng… | |
| Wolfsburg/Berlin taz | In seine Heimat Zittau fährt er nur noch, wenn ein | |
| neues Grab dazukommt, sagt Peter Engemaier. Sein Sohn André starb vor | |
| achtzehn Jahren, seine Tochter Eva vor fünf. Die Zeit heilt keine Wunden. | |
| „Man kann Menschen nicht einfach wie Dinge aus dem Dachboden in den | |
| Sperrmüll tun. Die bleiben präsent, solange noch Blut durch die Adern | |
| fließt.“ | |
| Engemaier, 68, wohnt in Niedersachsen, eine halbe Autostunde von Wolfsburg | |
| entfernt. Der Rentner versucht, Ordnung auf dem Tisch herzustellen: die | |
| Tasse Cappuccino, das Smartphone, die zwei Hörgeräte. Er befestigt eines | |
| hinter dem linken Ohr, das andere hinter dem rechten und taucht auf in die | |
| Geräuschkulisse. Vögel zwitschern. In der Ferne fährt ein Traktor über den | |
| Feldweg. „Ich muss gar nicht so weit wegfahren, um mich zu entspannen“, | |
| sagt er. Doch Ruhe findet er keine. | |
| Wenn er seine eigene Tochter googelt, findet er Fotos und ein deaktiviertes | |
| Profil auf der Webseite StayFriends. Fünf Jahre nach ihrem Tod lassen sich | |
| diese Daten noch immer abrufen. | |
| „Wenn jemand stirbt, dann sollen die Daten gelöscht werden“, sagt er. | |
| Seiner Tochter im Netz zu begegnen schmerzt. „Was mit dem menschlichen | |
| Körper nach dem Tod passiert, weiß ich. Aber was mit den Daten passiert, | |
| weiß ich nicht.“ | |
| Viele Hinterbliebene stehen vor ähnlichen Fragen: Was tun mit all den | |
| Webseiten, E-Mail-Accounts, Online-Banking, Amazon, eBay, Zalando, Spotify, | |
| Netflix und Profilen in sozialen Medien? Bestehen lassen, löschen, ab- oder | |
| ummelden? Und wie genau macht man das eigentlich? | |
| ## Die Firma für den digitalen Nachlass | |
| Berlin-Kreuzberg, Ritterstraße 3. Hinter einem schattigen Eingang breitet | |
| sich ein Innenhof aus. Er dient zum Parken, aber vor allem zum Rauchen. | |
| Zwei Bürogebäude mit waldgrüner Fassade, Sitz der Firma Columba. „Wir sind | |
| ein Dienstleister für Bestattungsunternehmen“, sagt Mitbegründer | |
| Christopher Eiler, 44. Columba ermittelt Nutzerkonten von verstorbenen | |
| Personen, veranlasst die Deaktivierung von Social- Media-Accounts und | |
| überträgt bestehende Abonnements auf Angehörige. | |
| Die Leute, sagt Eiler, stellen sich die Arbeit bei Columba oft so vor: | |
| Sherlock Holmes sitzt mit einer Lupe vor dem Computer und sucht nach Daten. | |
| „Aber ich muss Sie enttäuschen: Bei uns sucht niemand persönlich nach | |
| Daten. Das macht unsere Software.“ Columba heißt auf Latein Taube. „Wir | |
| sind wie eine digitale Brieftaube und bringen die Sterbefallinformation im | |
| Auftrag der Hinterbliebenen zu den Vertragspartnern der verstorbenen | |
| Person.“ | |
| Obwohl sich die Columba-Mitarbeiter jeden Tag mit dem Tod befassen, gehen | |
| sie damit locker um. Ein junger Mann öffnet die Tür, geht vorbei an einem | |
| Kicker-Tisch und Clubmate-Kisten in den Arbeitsraum der | |
| Software-Entwickler. Tastaturen klackern. Sechs Männer, sie tragen Käppis, | |
| sitzen hinter Computern und sagen, sie machen „irgendwas mit Computern“. | |
| Lachen. | |
| ## Tod an der Landstraße | |
| Rentner Peter Engemaier hat Computer und Technik stets mit Fortschritt | |
| gleichgesetzt. In den 1990ern hat er zwei Internetcafés eröffnet, seinen | |
| Sohn von LAN-Partys abgeholt, und als er nach der Scheidung für einen neuen | |
| Job nach Niedersachsen zog, ließ sich die räumliche Distanz zu den Kindern | |
| über E-Mails aushalten. Bis zum 17. August 2000, einem Donnerstag mitten in | |
| den Ferien. | |
| Sein Sohn André verabschiedet sich vom Rest der Film-AG und nimmt den Bus | |
| nach Hause. Am frühen Nachmittag steigt er an der Bundesstraße 99 zwischen | |
| Zittau und Görlitz aus. Keine Bus-Bucht, nur eine Bushaltestelle. Um 14.20 | |
| wird André von einem Auto überfahren. Er wurde dreizehn Jahre alt. | |
| „Wenn man ein Kind verliert, dann kann man das nicht in Worte fassen. Was | |
| soll ich denen sagen, die das nicht erlebt haben? Vielleicht: Ich hoffe, | |
| dass euch das nicht passiert“, wird Engemaier Jahre später sagen. Es heißt, | |
| wenn jemand stirbt, hält die Familie fester zusammen. Bei Engemaier war das | |
| nicht so. Er versucht, Andrés Tod „aus dem Kopf herauszuarbeiten“. | |
| Überstunden, Urlaubsverzicht, Rotwein. | |
| Als seine Tochter Eva im Juli 2013 auf dem Krankenhausbett liegt, die Haare | |
| ganz kurz, hat sie längst eine neue Blutgruppe: A, die vom | |
| Stammzellenspender, nicht B, ihre eigene. Am Tag, an dem Engemaier seine | |
| Tochter das letzte Mal sieht, ist sie blass, fast schon grau. Sie bekommt | |
| kaum mehr Luft. Der Vater umarmt sie. Sie winkt ihm zum Abschied, so viel | |
| Kraft hat sie gerade noch. Am nächsten Morgen ist Eva eingeschlafen. Sie | |
| war 37 Jahre alt, Ehefrau und dreifache Mutter. | |
| ## Die Trauer und das Netz | |
| Engemaier tobt, schreit, weint. Es fühlt sich an wie ein Fehler, als er zum | |
| zweiten Mal am Grab eines seiner Kinder steht. Die Trauer schreibt er sich | |
| auf Facebook von der Seele: | |
| 26. Juli 2013, 19:11. „… es sind nur Tage vergangen … doch wie viele Tage | |
| müssen noch vergehen, damit der Schmerz vergeht?“ | |
| Er trinkt. Nicht so viel, dass er die Kontrolle verliert. Aber so, dass der | |
| Alkohol manchmal Überhand nimmt. Er macht eine Therapie. | |
| 25. März 2014, 18:12. „… nun wird es bald ein Jahr sein, dass ich jeden | |
| Abend drei Kerzen anzünde, und mich frage – wie ich dies alles durchstehen | |
| kann?“ | |
| Hin und wieder sucht er nach seiner verstorbenen Tochter, und Bing und | |
| Google spucken aus, was über sie im Netz vorhanden ist. Er findet ein | |
| Social-Media-Profil seiner Tochter, das Konto wurde eingefroren, bleibt | |
| aber abrufbar. Ein verschwommenes Foto, 56 Kontakte, die besuchten Schulen, | |
| daneben ein Kreuzzeichen. Darunter werden Besucher der Seite aufgefordert: | |
| „Sagen Sie Ihren Freunden und Bekannten, wie Sie sich an sie erinnern.“ Zur | |
| Auswahl stehen: humorvoll, clever, gutaussehend, Sahneschnitte, cool, | |
| Kumpel, mein Schwarm. Die Bewertungen sind nicht öffentlich. | |
| ## Die Berliner Firma will Distanz wahren | |
| Von diesen persönlichen Schicksalen bekommt ein Programmierer bei der Firma | |
| Columba in Berlin nicht viel mit. „Wir unterhalten uns hier nicht über den | |
| Tod. Nee, im Ernst jetzt. Wir arbeiten einfach mit Datensätzen.“ Nur | |
| manchmal ruft ein Angehöriger direkt bei Columba an, ist wütend oder weint. | |
| „Das fühlt sich komisch an. Aber wir müssen hier einfach Distanz wahren“, | |
| sagt ein Mitarbeiter Anfang 30. Am Ende des Telefongesprächs habe er dem | |
| Anrufer einen schönen Tag gewünscht. | |
| Die eigentlichen Auftraggeber von Columba sind Bestattungsunternehmen, | |
| insgesamt 1.500 aus Deutschland, Österreich und den Niederlanden. | |
| Traditionell kümmert sich der Bestatter um die Formalitäten nach dem | |
| Todesfall, verständigt die Friedhofsverwaltung, die religiöse Gemeinde und | |
| das Standesamt, regelt die Versicherungen, gibt der Krankenkasse Bescheid | |
| und kündigt Zeitungsabonnements. Doch immer häufiger wird auch der digitale | |
| Nachlass verwaltet. 90 Prozent der deutschen Bevölkerung sind mittlerweile | |
| online. 66,5 Millionen Menschen. | |
| Dass die meisten Angehörigen gar nicht wissen, wo der Tote überall | |
| angemeldet war, ist in vielerlei Hinsicht problematisch. Plötzliche | |
| E-Mails, die an den Geburtstag des Toten erinnern, sind zwar schmerzhaft. | |
| „Aber wenn es sich um kostenpflichtige Accounts handelt, dann wird es auch | |
| noch teuer“, sagt Firmensprecher Christopher Eiler. Wenn niemand über den | |
| Todesfall informiert, werden auch die Rechnungen vererbt. | |
| Für die Internet-Suche benötigt Columba nur die Sterbedaten und -urkunde, | |
| keine Passwörter, die werden ohnehin in den seltensten Fällen dokumentiert | |
| und vermacht. In der Regel sind es pro Sterbefall zwölf Ab- oder | |
| Ummeldungen. „Aber heute hatten wir einen Fall, da waren es sogar | |
| dreiundsechzig.“ Etwa 100.000 Aufträge erhält Columba jährlich, Tendenz | |
| steigend. | |
| Columba fragt in der Regel bei 250 Internetunternehmen ab, ob der | |
| Verstorbene ein Kunde war. Wenn das der Fall ist, greift die | |
| Nachlassverfügung. Und der Erbe entscheidet, ob das Konto fortgesetzt, | |
| übertragen oder gelöscht wird. „Wobei gelöscht noch lange nicht gelöscht | |
| heißt. Die Konten werden deaktiviert“, sagt Eiler. | |
| ## Der Tod und die Allgemeinen Geschäftsbedingungen | |
| Was mit einem Profil passiert, nachdem es in den Gedenkzustand versetzt | |
| wurde, regeln die Allgemeinen Geschäftsbedingungen des jeweiligen | |
| Anbieters, sagt Anne-Christine Herr, Sprecherin der Rechtskanzlei „Wilde | |
| Beuger Solmecke“. Theoretisch bleiben diese Daten auf unbestimmte Zeit | |
| online, wenn die Erben die Löschung nicht beantragen. | |
| Auf ein Konto im Gedenkzustand zuzugreifen, war für die Erben bis vor | |
| Kurzem nicht möglich. Das änderte sich mit einem Urteil, das der | |
| Bundesgerichtshof im letzten Sommer fällte. Die Richter entschieden im | |
| Sinne der Eltern der verstorbenen 15-Jährigen. Sie erhielten den Zugriff | |
| auf das eingefrorene Konto. „Jetzt muss Facebook den Erben den Zugang | |
| gewähren, wenn sie dies wünschen“, erklärt Herr. | |
| [1][Der Bundesgerichtshof sagt damit, dass Erben im Onlinebereich genauso | |
| zu behandeln sind] wie im Offline-Leben und dass für Nachrichten und Daten | |
| auf Facebook dasselbe gilt,wie für Tagebücher und Briefe. Das Urteil gilt | |
| als richtungsweisend. „Es ist nicht mehr denkbar, dass den Erben der Zugang | |
| auf solche Konten in Zukunft verwehrt wird“, sagt Anne-Christine Herr. | |
| Außer, wenn der Erblasser zu Lebzeiten bestimmt, dass sie nicht vererbt, | |
| sondern gelöscht werden sollen. Per Testament zum Beispiel. | |
| Engemaier wünscht sich, dass seine Tochter im Internet zur Ruhe kommt. | |
| Vergeblich. Denn der Erbe des digitalen Nachlasses ist nicht er, sondern | |
| der Witwer. „Wahrscheinlich war der Ehemann ihr näher als ich, hat sie | |
| besser gekannt und weiß schon, was das Richtige ist.“ | |
| Er latscht in Trekkingsandalen durch sein Wohnzimmer, eine Staffelei mit | |
| Leinwand steht vor Topfpflanzen, Herzen aus Glas und Schmetterlinge aus | |
| Plastik baumeln von der Decke, steigt eine hölzerne Wendeltreppe empor und | |
| öffnet die Tür zu seinem Arbeitszimmer. Aus einem Regal lächeln Engemaiers | |
| Kinder, vier sind es insgesamt. Oben die Fotos der Lebenden, unten die der | |
| Toten. | |
| Sachte und bestimmt, immer darauf bedacht, nicht zu lange auf einer Seite | |
| zu verharren, blättert er durch ein schweres Fotoalbum. Das Pergaminpapier | |
| raschelt. Fotos aus den 70ern, 80ern, aufgenommen mit einer Werra-3-Kamera, | |
| Carl Zeiss Jena. Die Familie an der Ostsee, Evas erster Schultag. Er seufzt | |
| angesichts dieser Reise durch die Zeit. „Wenn man damals gewusst hätte, wie | |
| sich das alles entwickelt. Aber zum Glück hat man es nicht gewusst.“ | |
| Er klappt das Buch zu. „Wissen Sie“, sagt er, „der Mensch schafft es zu | |
| vergessen. Im Gegensatz zum Internet.“ | |
| 17 Mar 2019 | |
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| [1] /BGH-Urteil-zum-digitalen-Erbe/!5517440 | |
| ## AUTOREN | |
| Daniela Prugger | |
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