# taz.de -- Schulstart in der Coronakrise: Die große Rückkehr | |
> Die Sommerferien gehen zu Ende – und der Ruf nach Digitalisierung ist so | |
> laut wie nie. Doch das Wichtigste bleiben pädagogische Kompetenzen. | |
Bild: Maske ja oder nein? An vielen Schulen ist ein Streit darüber entbrannt | |
Alles schaut mit gemischten Gefühlen auf das neue Schuljahr. Schule ist | |
selten nur eine Angelegenheit des Lehrens und Lernens, doch nun müssen | |
Schulpflicht und das Recht auf Bildung zum allgemeinen Infektionsgeschehen, | |
zu Hygieneregeln und Erkenntnissen der Virologie ins Verhältnis gesetzt | |
werden. Anders geht es nicht, aber die Situation erhöht Verunsicherung und | |
verdeutlicht, dass das Ausmaß der Abhängigkeit der Kinder, Jugendlichen und | |
ihrer Familien von einem funktionierenden Bildungssystem und engagierten | |
Pädagoginnen und Pädagogen größer geworden ist. | |
Schülerinnen und Schüler wissen noch weniger als bei einem regulären | |
Schulstart, was sie in der Schule zu erwarten haben. Die derzeit | |
diskutierte Maskenpflicht auch im Unterricht ist ein kleines Beispiel für | |
eine Vielzahl an Unklarheiten, mit denen Kinder und Jugendliche umgehen | |
müssen. Eltern fragen sich, ob geregelte Arbeitszeiten möglich sein werden, | |
und fürchten sich vor einer nächsten Phase des „Homeschooling“. Viele | |
machen sich Sorgen, ob ihre Kinder den Lernstoff aufholen und | |
erforderliches Wissen aneignen können. | |
Doch auch das Personal an Schulen ist mit zahlreichen Unklarheiten | |
konfrontiert. Schulleiterinnen und -leiter wissen nicht, wie schnell und | |
mit welchen Mitteln sie eine nächste Vorgabe der Behörden umzusetzen haben, | |
und sie können gespannt sein, wie vollständig das Kollegium am ersten | |
Schultag erscheint. | |
Schülerinnen und Schüler, Mütter und Väter, Lehrkräfte und Schulleitungen | |
teilen die Erfahrung, dass ihr Alltag derzeit vom Infektionsgeschehen und | |
von darauf bezogenen politischen Entscheidungen abhängig ist. Dies hängt | |
wiederum mit Versäumnissen der letzten Jahre zusammen, wofür der Grad der | |
Digitalisierung an Schulen und die Kompetenzen, Lehren und Lernen vor Ort | |
mit Lehren und Lernen auf Distanz zu verbinden für alle sichtbare Beispiele | |
sind. | |
## Marode Sanitäranlagen | |
Seit dem Lockdown im März und der deutschlandweiten Schulschließung sind | |
der Stand der Technik in Schulen, marode sanitäre Anlagen, digitale | |
Kompetenzen der Lehrkräfte und Möglichkeiten eines guten Fernunterrichts | |
gesellschaftlich relevante Themen. Das ist gut so, sollte aber nicht | |
darüber hinwegtäuschen, dass Schülerinnen und Schüler vor allem auf | |
pädagogische Kompetenzen ihrer Lehrkräfte angewiesen sind. | |
Sie profitieren von einer guten Organisation des Schulalltags und von einer | |
aufeinander bezogenen Verknüpfung von Unterricht vor Ort und Lernen zu | |
Hause. Insofern ist zu hoffen, dass Schulen, Schulträger und Ministerien in | |
den zurückliegenden Wochen ihre Erfahrungen kritisch ausgewertet haben und | |
bereit waren, aus Fehlern zu lernen und diese zu korrigieren. | |
Kinder und Jugendliche benötigen verlässliche Informationen darüber, wie | |
künftig die Arbeitsaufträge an die Lerngruppe übermittelt, wie Aufgaben | |
kommuniziert und Lernfortschritte kontrolliert und kommentiert werden. Was | |
seit der Pandemie besonders eklatant vor Augen geführt wird, ist die | |
Notwendigkeit einer guten Pädagogik, gelebt und umgesetzt von | |
qualifizierten Lehrkräften und weiteren Pädagoginnen und Pädagogen im | |
System Schule. | |
So deutlich wie selten zuvor hat sich gezeigt, dass Lernfortschritte, | |
Bildung und Erziehung von sozialer Interaktion abhängen. Die Pädagogik lebt | |
vom Zeigen, Erklären, vom Fragen und Üben, vom Kontakt und Gespräch und | |
insbesondere von der kritischen Rückmeldung zu Lernfortschritten. Dies auch | |
im Fernunterricht umzusetzen, ist eine der großen Herausforderungen im | |
neuen Schuljahr. | |
## Recht auf Bildung | |
Das Recht auf Bildung lässt sich folglich ohne gute soziale Kontakte kaum | |
umsetzen. In ihrer fünften Ad-hoc-Stellungnahme benennen dies auch die | |
Expertinnen und Experten, die im Auftrag der [1][Leopoldina] Bedingungen | |
für ein „krisenresistentes Bildungssystem“ erarbeitet haben. Sie stellen | |
neben der Bedeutung einer gezielten und koordinierten Digitalisierung | |
heraus, wie wichtig der persönliche Kontakt für Kinder und Jugendliche ist, | |
und fordern, dass der Besuch der Bildungs- und Betreuungseinrichtungen | |
möglichst durchgehend realisiert werden sollte. | |
Insbesondere die Beschränkung von sozialen Kontakten auf Haushalt und | |
Familie wurde im „Coronafrühjahr“ als markanter Einschnitt in vertraute | |
Gewohnheiten erlebt. In zwei Befragungen mit insgesamt mehr als 30.000 | |
Teilnehmerinnen und Teilnehmern zum Alltag von Kindern, Jugendlichen und | |
Familien seit dem Lockdown problematisierten viele den Mangel an Kontakt zu | |
den pädagogischen Einrichtungen wie Kita, Schule, Universität und zu | |
Menschen außerhalb des engsten Familienkreises. | |
Gleichwohl gab es daneben auch Stimmen, die den verordneten Rückzug in die | |
häusliche Umgebung zunächst als wohltuend, ja entlastend erlebten. | |
Selbstbestimmte Zeiteinteilung, den Tag später beginnen können und vor | |
allem die Tatsache, von bestimmten Zusammentreffen etwa in der Schulklasse | |
befreit zu sein, gehörte für manche junge Menschen zu den positiven Seiten | |
der Krise. | |
Für einige brachte der Rückzug ins Häusliche eine Auszeit von Ausgrenzung, | |
Missachtung, von täglichen Kränkungen in der Schule, von Diskriminierung | |
und dem Gefühl der Hilflosigkeit auf dem Schulweg. Das heißt, bei der | |
Rückkehr in die Schule unter Bedingungen der Pandemie sollten die von | |
Mobbing betroffenen Schülerinnen und Schüler nicht aus den Augen verloren | |
werden. | |
## Persönliche Themen | |
Am Ende des Fragebogens hatten Teilnehmerinnen und Teilnehmer der beiden | |
Befragungen die Möglichkeit, kritische Aspekte der Untersuchung, | |
persönliche Themen, die unter den Nägeln brennen, aber nach denen meist | |
nicht gefragt wird, oder politische Botschaften mitzuteilen. Die | |
Einschränkungen des sozialen Miteinanders auf Familie oder Wohngemeinschaft | |
und darauf bezogene Herausforderungen, Ärgernisse und Sorgen ebenso wie | |
Entlastungsmomente bildeten das umfangsreichste Themenfeld. | |
So nutzten viele Mütter in der Elternbefragung diese Gelegenheit | |
beispielsweise, um für das elementare Bedürfnis auch junger Kindern zu | |
sensibilisieren, mit Gleichaltrigen spielen, lachen, raufen, gemeinsam | |
lernen zu können. Sie machten damit auf ihre eigenen, quasi natürlichen | |
Grenzen, Kindern andere Kinder zu ersetzen, aufmerksam. Andere | |
artikulierten vor allem ihre Ängste vor negativen Folgen für die | |
Entwicklung sozialer Kompetenzen ihrer Kinder. | |
Sie beschrieben jugendliche Töchter und Söhne, denen das regelmäßige | |
Gespräch mit der Lehrerin fehlte, die aufgeregt auf den ersten Anruf der | |
Klassenlehrerin warteten. In diesen Alltagsbeschreibungen aus dem Familien- | |
und Erziehungserleben im Lockdown stecken zudem viele Hinweise darauf, dass | |
sich Mütter und Väter selbst alleingelassen, also ohne gute Kontakte nach | |
außen und insbesondere zur Schule ihrer Kinder, fühlten. | |
Jugendliche und junge Erwachsene beschäftigen sich im offenen Teil der | |
Erhebung ebenfalls mit den Beschränkungen persönlichen Austauschs. Fehlende | |
persönliche Kontakte jenseits der Kommunikation über soziale Medien wurden | |
für ihr Befinden im Hier und Heute relevant gemacht und der Mangel von | |
vielen beklagt. „Ich will mein altes Leben zurück“, forderte eine | |
Jugendliche in der Befragung. Sie beschrieb ihr Leben vor der Pandemie | |
insbesondere als Zeit unkomplizierter persönlicher Begegnungen. | |
Eine andere Person warb dafür, dass man als Jugendlicher einfach den | |
physischen Kontakt zu den Freunden brauche, man müsse gemeinsam „abhängen“ | |
oder etwas erleben können, um im emotionalen Gleichgewicht zu sein. Vor | |
allem die Äußerungen von Jugendlichen haben in den letzten Monaten vor | |
Augen geführt, dass das reale Treffen von Gleichaltrigen nicht durch | |
soziale Medien zu ersetzen ist. | |
## Konzepte müssen her | |
Was ist nun aus diesen Erfahrungen mit der Eingrenzung auf wenige soziale | |
Kontakte für die nächsten Monate zu schlussfolgern? Jede einzelne | |
pädagogische Einrichtung braucht ein Konzept, das verlässlich regelt, wie | |
sie künftig und insbesondere bei einem weiteren – vielleicht auch nur | |
lokalen – Herunterfahren des öffentlichen Lebens mit Kindern, Jugendlichen | |
und ihren Familien in Kontakt bleibt. | |
Dazu sind technische Voraussetzungen an Kitas, Schulen, Jugendämtern, | |
Beratungsstellen und zu Hause nötig – ohne Digitalisierung wird es nicht | |
gehen. Aber unverzichtbar sind Konzepte, wie der wochenlange Abbruch von | |
sozialen Kontakten verhindert werden kann. Kinder und Jugendliche sind | |
darauf angewiesen, dass sie jetzt, zu Beginn des neuen Schuljahres darüber | |
informiert werden, wie im Krisenfall Kontakt zu ihnen aufgenommen und | |
gehalten wird. | |
„Kein Kind zurücklassen“ bekommt in diesem Schuljahr eine erweiterte | |
Bedeutung: Das Recht auf Bildung eines jeden Kindes und Jugendlichen lässt | |
sich nur durch einen verlässlichen Kontakt zur Schule und den dort tätigen | |
Pädagoginnen und Pädagogen realisieren. | |
Kinder und Jugendliche müssen sich endlich darauf verlassen können, dass | |
sie gesehen, gehört, informiert und auch einbezogen werden. | |
11 Aug 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.leopoldina.org/leopoldina-home/ | |
## AUTOREN | |
Sabine Andresen | |
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