# taz.de -- Die steile These: Corona zeigt, wozu Schule da ist | |
> Die Schulschließungen verdeutlichen, dass digitaler Unterricht nur | |
> begrenzt funktioniert. Denn Schule ist vor allem aus sozialen Gründen | |
> wichtig. | |
Bild: „Guten Morgen Frau Lehrerin!“ Auf Dauer wohl besser als im Videochat | |
Im Bildungsbetrieb gibt es sie auf jeden Fall: die „Ewigmorgigen“. So nennt | |
der Schweizer Pädagoge Carl Bossard in Anlehnung an Erich Kästner die, die | |
das Neue unkritisch begrüßen: Morgen wird alles besser! Wir brauchen nur | |
mehr Innovation, mehr Digitalisierung, mehr Individualisierung, mehr | |
Differenzierung, mehr selbstorganisiertes Lernen – und alles in immer | |
schnellerem Tempo. | |
Die Gegenwart ist für Modernisierungseuphoriker ein bloßes „Noch-Nicht“. | |
Funktioniert eine neue Unterrichtsform, Methode oder Software nicht, dann | |
deswegen, weil sie „noch nicht“ richtig „umgesetzt“ oder „implementie… | |
ist. Die technizistische Wortwahl verrät, dass es mehr um | |
Sozialtechnokratie als um Bildung geht. Und so wird seit dem „Pisa-Schock“ | |
eifrig reformiert und enthusiastisch digitalisiert. Viele Lehrer:innen und | |
Schüler:innen fühlen sich seit Jahren „im Hamsterrad“ der Reformen. | |
Und dann kam die Coronakrise. Und die Schulschließungen. Diese und die | |
sukzessive Wiedereröffnung legten offen, dass viele der neuen Lernformen | |
nicht funktionierten. Sie hielten nicht, was die Modernisierer versprachen. | |
Nicht wenige Schüler:innen waren mit der Selbstständigkeit des | |
„Zu-Hause-Lernens“ überfordert. | |
Die „ewig Morgigen“ sagen, die Lehrer:innen hätten die spezifischen | |
Kompetenzen nicht richtig trainiert. Hier gebe es Nachholbedarf. Zudem sei | |
es eine unerwartete Situation gewesen. Und überhaupt: Die digitale | |
Infrastruktur sei nicht ausreichend. Was in diesem Fall auch stimmt. Es | |
fragt sich nur: Wofür nicht ausreichend? | |
Statt weiter auf die „ewig Morgigen“ zu hören, kann man aus den | |
ernüchternden Erfahrungen mit der Schulschließung auch den Change-Prozess | |
im Bildungssystem in Frage stellen. Denn mindestens vier Aspekte, die | |
dagegen sprechen, konnte man in dieser Phase wie durch ein Brennglas | |
wahrnehmen. Nämlich: | |
Dass Schule als außerfamiliärer Aufenthaltsort für junge Menschen benötigt | |
wird. | |
Dass Schüler:innen zum Lernen stabile Strukturen und institutionelle | |
Außenhalte brauchen. | |
Dass Bildung nur in einem leiblichen Beziehungssystem funktioniert. | |
Und dass kleinere Klassen lern- und diskussionsförderlich sind. | |
Als wahre Aufgabe der Schule nannte der Schriftsteller Georg Klein einmal | |
ihre Aufbewahrungsfunktion. Die blanke Not der Alltagsorganisation zwinge | |
die Eltern, die „Energiebündel“ in die Schule zu schicken. „Wir“, so K… | |
müssten den Nachwuchs „sechs oder mehr Stunden los sein, um unseren eigenen | |
Kram mit der Welt geregelt zu bekommen.“ Auch für den Nachwuchs ist es gut, | |
mal weg von den Eltern zu sein. | |
Die Coronakrise macht die Aufbewahrungsfunktion der Schule überdeutlich. | |
## Strukturen sind notwendig | |
Dass zudem stabile Strukturen fürs Lernen notwendig sind, konnten | |
Lehrkräfte daran ersehen, dass manche Mittelstufen-Schüler:innen während | |
der Schulschließung die digital gestellten Aufgaben nicht sorgfältig oder | |
gar nicht machten, auch wenn die digitale Ausstattung privat vorhanden war. | |
Sicher haben zu viele Aufgaben für Frustration gesorgt; aber vor allem | |
scheinen Selbstverantwortung und Zeiteinteilung viele Schüler:innen | |
überfordert zu haben. Der Grenzen setzende Rahmen fehlte. | |
Ein Vater berichtete kürzlich in der Deutschlandfunk-Sendung | |
[1][„Schulbeginn in Zeiten von Corona“], dass sein 16-jähriger Sohn die | |
Aufgaben ständig aufschob, weil er sich selbst keine Tagesstruktur geben | |
konnte. In Berlin kam hinzu, dass die Schüler:innen sicher sein konnten, | |
sich bei den Zeugnisnoten nicht zu verschlechtern, da das Zu-Hause-Lernen | |
wegen der unterschiedlichen häuslichen Voraussetzungen allenfalls positiv | |
bewertet werden sollte. | |
Damit fielen auch Noten als institutioneller Orientierungsrahmen zumindest | |
für jene weg, die ihre Versetzung sicher in der Tasche hatten. Offenbar | |
sind traditionelle Rahmenbedingungen, sowohl zeitliche wie räumliche, und | |
eben auch Noten als Lerngrund nötig, und zwar mehr, als es die neue | |
Lernkultur wahrhaben will. | |
Vor allem aber erkennt man, dass die „aufnahmebegierigen Energiebündel“, | |
wie sie Georg Klein nennt, ebenfalls sehr widerständig sind, vielleicht | |
sogar erwartbar widerständig, und zwar gegenüber den neuen pädagogischen | |
Subjektivierungsformen. Diese werden durch Etikettierungen wie „offen“, | |
„individuell“, „selbstorganisiert“ und „selbstkompetent“ verbrämt … | |
solche von den Schüler:innen durchschaut. Am Ende steht eben doch die | |
Note. | |
Da es sich nicht lohnt, in einer Leistungsgesellschaft über die Abschaffung | |
von Noten zu debattieren, weiter zum nächsten Punkt: dem | |
Digitalisierungshype, mit dem menschlicher Kontakt ersetzt werden soll. | |
Dass die digitale Kommunikation nicht immer funktionierte, weil Systeme | |
zusammenbrachen, Datenschutzregeln die Nutzung bestimmter Tools | |
verhinderten und einige Schüler:innen und auch Lehrer:innen nicht über | |
die digitale Infrastruktur verfügten oder sie nicht beherrschten, ist | |
richtig. Das ist jedoch kein Argument für „noch mehr“ Digitalisierung im | |
Bildungssystem, sondern allenfalls für stabile und datenschutzsichere | |
Systeme, die man im Notfall eines Lockdowns benutzen kann. | |
## Zum Lernen reicht Bildschirmkontakt nicht | |
Vielmehr wurde im Lockdown eine Sache deutlich, auf die die | |
Medienwissenschaftler [2][Ralf Lankau] und [3][Paula Bleckmann] seit Langem | |
hinweisen: nämlich dass ein Sich-Bilden in leiblichen Beziehungen | |
geschieht. Dauerhafte Bildschirmarbeit dagegen führt nicht nur zur Selbst- | |
und Weltentfremdung, sondern richtet auch die Körper zu – und zwar im | |
orthopädischen Wortsinn. | |
Zudem erfuhren die Schüler:innen, dass beim „Zu-Hause-Lernen“ | |
Computerspiele und Social-Messenger-Dienste nur einen Mausklick von | |
digitalen Lernprogrammen und Aufgaben-Portalen entfernt sind und dass | |
gerade diese Nähe ein Konzentrationshindernis ist. | |
Wie sehr begrüßte man schließlich die sukzessive Schulöffnung und – um zum | |
letzten Punkt zu kommen – die reduzierten Klassengrößen, die einen | |
lebendigen Austausch im Klassenraum zuließen, ohne dass irgendwo digitale | |
Daten produziert, gespeichert und schlimmstenfalls kapitalistisch verwertet | |
wurden. | |
Der Bildungsforscher John Hattie wies darauf hin, dass bestimmte | |
Lehrmethoden und Formen der Interaktion und des Feedbackverhaltens wohl | |
besser in kleineren Lerngruppen möglich seien und deswegen das Thema | |
„Klassengröße“ weiter untersucht werden müsse. Man fragt sich nur, warum… | |
dafür empirische Belege braucht. | |
Das vergangene Schuljahr gab also Antworten auf die Frage: Wozu ist die | |
Schule da? Schule ist bedeutsam als Treffpunkt für Kinder und Jugendliche. | |
Sie ermöglicht im besten Fall gelungene Begegnungen zwischen jungen und | |
älteren Menschen, bietet als traditioneller Lernraum einen festen Rahmen, | |
der stabiler funktioniert als die Formate der neuen Lernkultur, entlastet | |
Eltern und bereitet auf spätere Studiengänge und Berufe vor. Das ist viel | |
und dafür kann man die Schule schätzen. | |
## Mehr Mensch weniger Technik | |
Es überfordert Schüler:innen, ständig gute Leistungen erbringen zu müssen, | |
nebenbei „Selbstkompetenz“ und „Resilienz“ auszubilden und sich im | |
neoliberalen Sinn zu optimieren. Was von ihnen verlangt wird, vor allem an | |
Aufgaben- und Stofffülle, haben in der Zeit des „Zu-Hause-Lernens“ vor | |
allem Eltern von Gymnasialschüler:innen erfahren. Denn die | |
kompetenzorientierten und inhaltsleeren Lehrpläne führten nicht dazu, dass | |
Lernstoff reduziert wurde. Er wurde in manchen Fächern nur beliebiger. | |
Wenn jetzt weiter an der Reformschraube gedreht und auf rastlose | |
Digitalisierung gesetzt wird, dann heißt das: Schulische Pädagogik wird | |
endgültig den Change-Managern und der boomenden EdTech-Industrie, den | |
Anbietern von Bildungstechnologie also, überlassen. | |
16 Aug 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.deutschlandfunkkultur.de/schulbeginn-in-zeiten-von-corona-zwisc… | |
[2] http://www.aufwach-s-en.de/2020/07/aufruf-zur-besinnung-humane-bildung-stat… | |
[3] https://vdw-ev.de/prof-dr-paula-bleckmann-macht-digitalisierung-krank/ | |
## AUTOREN | |
Nils B. Schulz | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schule und Corona | |
Unterricht | |
Bildungssystem | |
Schule und Corona | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Sandra Scheeres | |
Schlagloch | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Klimarevolution beginnt in der Schule: We don't need THIS education | |
Schule prägt wie keine andere Institution die Identität einer ganzen | |
Generation. Doch Politiker:innen überbieten sich in konservativer | |
Ideenlosigkeit. | |
Schulstart trotz Corona in Irland: Jede Schule macht ihr Ding | |
Die meisten irischen Schulen sind privatisiert und entscheiden vieles | |
autonom. Mit der Pandemie wird auf der Insel sehr unterschiedlich | |
umgegangen. | |
Ausstattung in deutschen Schulen: 500 Millionen für Laptops und PCs | |
Union und SPD wollen viel Geld für die Anschaffung von Hardware für | |
Lehrer:innen investieren. Das ist für den Unterricht in Coronazeiten bitter | |
nötig. | |
Schulalltag in Berlin zu Coronazeiten: Einen Tag zu, dann wieder auf | |
Nach der ersten Woche Schule und mehreren Corona-Fällen stellt sich die | |
Frage: Wann werden Schulen geschlossen? Und wie lange? | |
Schule in Corona-Zeiten: Lernen im Wanderzirkus | |
Föderalistisches Chaos, steigende Ungleichheit: Die Bildungspolitik versagt | |
gerade. Es wird Zeit, ein paar gute radikale Ideen wiederzuentdecken. | |
Schulstart in der Coronakrise: Die große Rückkehr | |
Die Sommerferien gehen zu Ende – und der Ruf nach Digitalisierung ist so | |
laut wie nie. Doch das Wichtigste bleiben pädagogische Kompetenzen. | |
Digitale Schule während Corona: Digital bleibt mangelhaft | |
Hat die Corona-Pandemie der dringend notwendigen Digitalisierung des | |
Schulalltags Vorschub geleistet? Eine Bilanz zum Ende des Schuljahres. |