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# taz.de -- Schule in Corona-Zeiten: Lernen im Wanderzirkus
> Föderalistisches Chaos, steigende Ungleichheit: Die Bildungspolitik
> versagt gerade. Es wird Zeit, ein paar gute radikale Ideen
> wiederzuentdecken.
Bild: Sich nach den Sommerferien wiedersehen. Aber mit Maske!
Nach einem halben Jahr Pandemie diagnostiziert das [1][ifo-Institut]
desaströses Staatsversagen im Bildungssystem. Nur drei Zahlen aus der
Studie: Die Bildungszeit der Schüler hat sich halbiert, die Zockzeit hat
zugenommen; mehr als die Hälfte aller Kinder hatte weniger als einmal in
der Woche Unterricht im Klassenverbund; fast ebenso viele kein einziges
Einzelgespräch mit einem Lehrer oder einer Lehrerin. Kinder sind unsere
Zukunft? Bildungsrepublik Deutschland? Vergesst es. Denn vorher sah es auch
nicht viel besser aus: Schon Ende 2019 fehlten 26.000 Grundschullehrer,
betrug die Investitionslücke bei den Schulen 44 Milliarden Euro, lagen die
deutschen Bildungsausgaben unter dem OECD-Durchschnitt.
Zum Schulbeginn [2][föderalistisches Chaos]: Hier Regelunterricht ohne
Masken in der Klasse, aber auf dem Gang; dort maskierter Präsenzunterricht
ab Mittelstufe, hier ausschließlich Fernunterricht, andernorts
Maskenpflicht im Unterricht aller Klassen. Beim Versuch, das Wirrwarr zu
ordnen, fiel mir ein Text aus alten Zeiten ein. Er heißt „Plädoyer für den
Hauslehrer. Ein bisschen Bildungspolitik“. Geschrieben hat ihn [3][Hans
Magnus Enzensberger] im Jahre 1982.
Kurze Inhaltsangabe: Nach ausführlicher Rekapitulation der
Verzweiflungsrufe und Seufzer von Lehrern, Schülern, Eltern vor der
pädagogischen Klagemauer, steht der wunderschön poetische Satz – ich kann
ihn auswendig: „Aus Gesagtem ergibt sich zwanglos die folgende
Versuchsanordnung. Gegen halb neun Uhr morgens setzt sich Fräulein Zimmerle
leise gähnend in ihren Volvo und fährt in die Siegfriedstraße. Unterwegs
holt sie noch den kleinen Falk ab.“ Vier weitere Siebenjährige haben sich
dort schon in der Wohnung von Familie Schneidewind versammelt. Fünf Schüler
und die Lehrerin frühstücken und fangen mit der Arbeit an: lesen und
schreiben können sie schon, denn „es handelt sich um Fähigkeiten, die jeder
Mensch über vier in ein paar Wochen erwerben kann, es sei denn, er ginge in
die Schule; dort dauert es, den Umständen entsprechende, mehrere Jahre.“
Auf zehn amüsanten Seiten entwickelt Enzensberger eine utopische
Alternative zur institutionalisierten Grundschule: nomadischer Unterricht,
ein „pädagogischer Wanderzirkus“ als „praktizierte Sozialkunde“ an
wechselnden Orten statt in „betonierten Technokratenträumen“; gemeinsames
Einkaufen, Kochen und Aufräumen statt Kantinenfraß. Fünfer- oder
Siebenergruppen, eine kleine Schar, die anders als die übliche
„dreißigköpfige Horde von schlechtgelaunten Trampeln“ in Rechenzentren,
Gärtnereien, Museen, Fabriken, Werkstätten willkommen wäre; keine
verstopften Autobahnen im Sommer, weil sich nur sieben Eltern und eine
Lehrerin über Termine absprechen müssen. Und so weiter, und so weiter – der
kleine Aufsatz bedenkt alle denkbaren Einwände und widerlegt sie
einfallsreich, bis hin zu einer Lernrepublik, die keine Schulgebäude mehr
brauchte – jedenfalls nicht für die ersten sechs Jahre.
Ich kann den Charme dieser verführerischen Vernunftfantasie hier nicht
annähernd wiedergeben, möchte sie aber zur Lektüre herzlich und dringend
empfehlen („Politische Brosamen“, Suhrkamp).
## Unterricht ist Beziehungssache
In „normalen“ Zeiten wirft man solche, von aufgeklärter Radikalität
getragene Überlegungen sofort in die Schublade für vernünftige Vorschläge,
die keine Chance haben. Aber: Die Krise ist eine Chance. Auch dieser Satz
wurde in den Coronamonaten immer wieder vorgebetet. In der Pandemie hätte
man die Notlage nutzen können, um das Konzept einer radikalen, dabei
infektionsdämmenden Entinstitutionalisierung des Lernens zu testen. Wie
starr und konventionell dagegen das meiste, was zur Schule in Coronazeiten
öffentlich gedacht wurde. „Unterricht ist tatsächlich in hohem Maße
Beziehungssache“ – so ein erstaunter Satz steht wie ein Fremdkörper
inmitten all der Besorgnisse über informationstechnologische Infrastruktur,
seuchensichere Toiletten, kontrollierte Sicherheitsabstände.
Anzeichen für den Beginn einer dringend notwendigen Kontroverse, ob und wie
die durch Corona beschleunigte Digitalisierung und der Fernunterricht den
Charakter von „Bildung“, gar die kognitiven Strukturen verändern, die
Ungleichheit steigern, den sozialen Ort Schule schleifen wird, sind
jedenfalls nicht in Sicht.
Der Bundespolitik ist neben dem schon beschlossenen Digitalpakt nur der
„Kinderbonus“ eingefallen. 300 Euro für jedes Kind, das summiert sich zu
4,3 Milliarden für ein kurzes konsumförderndes Strohfeuer. 4,3 Milliarden –
damit hätte man alle 240.000 Lehramtsstudenten in Deutschland 12 Monate
lang zur Entlastung in die Schulen schicken können. Mit 1.500 Euro im Monat
entlohnt, hätten sie für die Krisenzeit die Zahl der Grundschullehrer mehr
als verdoppeln, kleine Lerngruppen bilden, Hausaufgaben betreuen können –
und Zeit gewinnen lassen, um die Schulen gründlich zu modernisieren.
Einen Vorschlag in Richtung einer solchen Mobilisierung pädagogischer
Potenziale hat Annalena Baerbock schon im Februar gemacht. Im Mai gab es
mit ähnlicher Stoßrichtung eine Petition von ein paar Tausend Lehrern,
Schuldirektoren, Pädagogikprofessoren. Daraus hätte eine kleine
Bildungsrevolution werden können und ein praktisches Erfahrungsfeld für
künftige Lehrer – und auch für diejenigen, die bei einem solchen Einsatz
merken würden, dass es nicht der richtige Beruf für sie ist; auch das hätte
viel künftiges Leid vermeiden helfen. Aber aus der Vernunft wurde, wieder
einmal, keine soziale Bewegung.
Ein Traum, der an den Gegebenheiten vorbeigeht, an Organisationsproblemen,
am Föderalismus, an der Freiheit? Nur zum Vergleich: Vor 85 Jahren, im
amerikanischen New Deal, hat es genau drei Monate gedauert, um die
Beschäftigung von 250.000 jungen Menschen im ökologischen Umbau zu
organisieren.
12 Aug 2020
## LINKS
[1] https://www.ifo.de/en/publikationen/2020/article-journal/bildung-der-corona…
[2] /Schulstart-in-der-Coronakrise/!5702054&s=Bildung/
[3] /Hans-Magnus-Enzensberger-wird-90/!5639882
## AUTOREN
Mathias Greffrath
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