# taz.de -- Schul- und Lehrermangel in Syrien: Große Pläne, keine Ressourcen | |
> Im syrischen Idlib fehlt es Schülern an allem: heilen Gebäuden, | |
> Lehrkräften – für deren Bezahlung kein Geld da ist. Die Analphabetenrate | |
> steigt. | |
Bild: Die zerstörte Schule in Jisr Al Shughour, Idlib | |
IDLIB taz | Als Abdu Mandora noch zur Schule ging, hatte er einen Traum: | |
Lehrer werden. Doch der 14-jährige Junge hat schon lange an keinem | |
Unterricht mehr teilgenommen. Heute arbeitet er als Gehilfe eines | |
Automechanikers in Idlib, ölverschmiert steht er in der Werkstatt. „Ich | |
fühle mich wie der Mann der Familie. Ich habe nur einen Arm, aber ich mache | |
die Arbeit von vielen Männern“, sagt er. Bei einem Luftangriff der | |
syrischen Staatsarmee verlor er diesen. | |
So wie Abdu geht es vielen Jugendlichen in Syrien, vor allem in den | |
Gebieten in und um die Stadt Idlib, dem letzten Rebellengebiet und neuer | |
Heimat vieler Binnengeflüchteter. Es wird vor allem von der militanten | |
Islamistengruppe Hai’at Tahrir asch-Scham kontrolliert. | |
Der Krieg hat viele verarmen lassen: Kinder müssen zum Lebensunterhalt | |
beitragen. Der [1][Anstieg der Rohstoffpreise] und die schlechte | |
Wirtschaftslage verschlimmern die Situation. Viele Kinder kommen überhaupt | |
nicht mehr zur Schule. | |
„Die Analphabetenrate hat zugenommen“, sagt Mahmoud Basha, Direktor der | |
freien Bildungsdirektion von Idlib. „Wir betonen immer wieder, wie wichtig | |
Bildung ist. Wir versuchen, das Bewusstsein der Leute dafür zu schärfen, | |
aber gegen Inflation und die hohen Kosten können wir nichts tun.“ | |
## Immer wieder streiken Schulleitende und Lehrkräfte | |
Selbst wenn Kinder zur Schule gehen dürfen, bedeutet das nicht, dass sie | |
auch einen Schulplatz bekommen. Es mangelt an allem. „Wir haben große | |
Pläne, aber aufgrund unseres geringen Budgets können wir mit dem Bedarf | |
nicht Schritt halten“, so Basha. | |
Mehr als ein Drittel der Schulen, die der Bildungsdirektion unterstellt | |
sind, können den Unterricht für das gesamte Schuljahr nur durch | |
ehrenamtliches Engagement abdecken. Die Gehälter der Lehrenden sind im | |
Vergleich zu den Lebenshaltungskosten extrem niedrig. | |
Immer wieder streiken Schulleitende und Lehrkräfte: Ohne Gehalt keine | |
Arbeit. Manche unterrichten bereits seit 2018 vor allem ehrenamtlich. | |
So wie Ibrahim Hallak. Bis 2014 war er nach seinem Studium an der | |
Universität von Aleppo als Mathematiklehrer tätig. Die Situation sei | |
„erbärmlich“, sagt er. „Alle Lehrer, mich eingeschlossen, beschweren sich | |
über die Situation. Wir unterrichten alle umsonst und wissen nicht, wie wir | |
so unseren Lebensunterhalt verdienen sollen. Wenn wir Glück haben, bekommen | |
wir Spenden.“ Er erhalte so monatlich etwa 200 bis 300 [2][türkische Lira] | |
– in Idlib seit 2020 die genutzte Währung. Manchmal bekommt er Zuschüsse | |
von der Bildungsdirektion. | |
## Für viele Familien steht das Überleben im Vordergrund | |
„Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem wir das Unterrichten hassen. Wir | |
üben diesen Beruf weiter aus, weil es niemanden gibt, der uns ersetzen | |
könnte. Wenn wir aufhören würden, entstünde ein Vakuum, das sich auf die | |
Schüler auswirken würde. Wir wollen sie nicht ohne Bildung zurücklassen, | |
aber wir könnten bald an einen Punkt kommen, an dem wir unser Brot durch | |
Betteln verdienen“. | |
Auch er beobachtet, dass für viele Familien das Überleben im Vordergrund | |
steht: „Die Kinder widmen ihrer Bildung wenig oder gar keine | |
Aufmerksamkeit, und ihre Eltern ermutigen sie nicht.“ | |
Schulen, die nahe der Frontlinie liegen, haben oft gar keine finanziellen | |
Mittel. Immer wieder werden sie bombardiert: Am [3][4. April starben vier | |
Kinder auf dem Schulweg] bei einem Angriff des syrischen Regimes im Dorf | |
Ma’arat al-Na’asan nahe der Front. Die Angriffe versetzen die Eltern in | |
Panik, sie haben Angst um ihre Kinder. Die Konsequenz: Sie dürfen nicht | |
mehr zur Schule gehen. Auch für viele Kinder ist die Schule mit dem Krieg | |
verbunden: Sie erinnern sich an stundenlanges Ausharren, daran, wie sie in | |
Deckung gehen, sich vor den Kämpfen verstecken. Viele zerstörte Schulen | |
können außerdem aus Geldmangel nicht repariert werden. Einige werden | |
mittlerweile von Geflüchteten bewohnt. | |
Derzeit gibt es keinen Unterricht – in Syrien sind Sommerferien. Hoffnung, | |
dass sich die Situation danach verbessert, haben die meisten aber nicht. | |
20 Jul 2022 | |
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[2] https://www.dw.com/de/idlib-furcht-vor-dem-verfall-der-t%C3%BCrkischen-lira… | |
[3] /Tod-auf-dem-Weg-zur-Schule-in-Syrien/!5844856 | |
## AUTOREN | |
Muhammad Al-Hosse | |
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